Quartalsbericht #3, 2024: Universal gegen TikTok – eine Tragödie, als Farce neu erzählt

Quartalsbericht #3, 2024: Universal gegen TikTok – eine Tragödie, als Farce neu erzählt

Features. 29. Juni 2024 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Ende Januar wurden sieben Millionen Songs von TikTok abgezogen, nachdem Lizenzverhandlungen mit der Universal Music Group (UMG) gescheitert waren. Als Hauptgrund gab der Musikkonzern an, dass Künstler:innen über die Kurzvideoschleuder nicht adäquat bezahlt würden, und forderte bessere Vergütung – vor allem für sich selbst. UMG inszenierte sich als Musikindustrie-David im Kampf gegen den Plattform-Goliath und bekam dafür Applaus. Warum eigentlich? Kristoffer Cornils analysiert den Fall in seiner Kolumne 'Quartalsbericht'. 

Ob im Kontext von Kriegen oder Wahlen, aufsehenerregenden politischen Bemühungen zum Verbot der App oder in musikindustriellen Kontexten: TikTok und das dahinterstehende Unternehmen ByteDance kommen derzeit kaum aus den Schlagzeilen heraus. Das ist angesichts der Beliebtheit der Kurzvideoschleuder auch nicht weiter verwunderlich. Laut eigenen (und daher mit Vorsicht zu genießenden) Zahlen aus dem Oktober 2023 nutzen in Deutschland 20,9 Millionen Menschen mindestens einmal pro Monat TikTok – das wäre ein Viertel der hiesigen Bevölkerung.

Wer den Informationszugang von dermaßen vielen Menschen kontrolliert, hat eine dementsprechend große Macht. An diese wollen einige andocken oder sie brechen. Ähnlich wie bereits zuvor in Indien strebt nunmehr die US-amerikanische Politik an, die Plattform aus den App-Stores und von den Endgeräten zu verbannen. Für die Musikindustrie hätte das schwerwiegende Folgen, wird doch über die App der größte Musikmarkt der Welt bespielt und kann TikTok ein effektives Marketing-Werkzeug darstellen. Oder, das ist neu, vielleicht sogar viel Kohle einbringen. Oder zumindest mehr als zuvor, zumindest für einen Player.

Was war passiert – und warum?

Im Januar zog die Universal Music Group (UMG) unter der Führung ihres CEO Lucian Grainge in einen veritablen Content-Krieg mit ByteDance. Der Musikkonzern weigerte sich, den auslaufenden Lizenzvertrag mit der App zu verlängern. Die Begründung: Es würde zu wenig Geld ausgeschüttet. Wie genau die Vereinbarungen zuvor lauteten, darüber gab es nur Gerüchte. Ausgegangen wurde von einmaligen Lizenzzahlungen pro Musikstück und nicht wie auf regulären Streaming-Plattformen per Play. Angesichts des großen Katalogs, den UMG über das hauseigene Label- und Verlagsgeschäften betreut, kamen dabei aber stolze Summen herum.

Laut Angaben von UMG machten die Einnahmen ein Prozent der Gesamteinnahmen des Branchenriesens aus – summa summarum müsste es sich also um jährlich etwa 100 Millionen Euro gehandelt haben. Klingt nun nicht nach wenig, reichte UMG allerdings offenkundig nicht. Warum, das ist durchaus verständlich. Die Musik von bei UMG unter Vertrag stehenden Künstler:innen – etwa Taylor Swift oder Billie Eilish – wird auf TikTok milliardenfach angehört. Wenn Spotify und Co. für diese Mehrfachnutzung entsprechend zahlen, warum nicht TikTok?

Die Argumentation von ByteDance hingegen war ebenso schlüssig: TikTok ist anders als Spotify und Co. keine Audio-, sondern eine Video-Plattform. Die dort eingesetzte Musik ist selten in voller Länge zu hören und sozusagen eh nur Beiwerk zu den eigentlichen Inhalten – Thirst Traps, Fit-Checks, Sludge Content und so weiter und so fort. Andererseits: Bei der ursprünglich aus einer anderen App namens Musical.ly hervorgegangenen Plattform geht es de facto nunmal seit jeher sehr viel um Musik, ohne diese wäre ihr Erfolg überhaupt nicht vorstellbar.

Goliath gegen Goliath

TikTok mag selbst angefangen mit Lil Nas X bis hin zu Ski Aggu ganze Karriere gelauncht haben und hat zweifelsfrei den Sound und die Produktionsbedingungen von Musik verändert. So gut wie jede andere Plattform, darunter Spotify, orientierte sich an Look und Funktionsweise der App. Daraus aber abzuleiten, dass es vollumfängliche Macht über die Musikindustrie hätte, käme einem Trugschluss gleich. Das zeigte sich Anfang 2023, als TikTok in Australien aus eigener Initiative die Musik der weltweit größten Musikkonzerne, den Big Three, von der Plattform wischteund die Nutzungsstatistiken prompt abfielen.

Wie TikTok global ohne die Musik nur eines dieser Unternehmen funktioniert, das zeigte sich dann auch für ein paar Wochen nach dem großen Eklat dieses Jahres. Kurz vor dem Auslaufen der Lizenzvereinbarung nahm ByteDance notgedrungen insgesamt sieben Millionen Songs von der Plattform. Darunter waren Hits der größten Stars der Welt ebenso wie die Stücke von Indie-Künstler:innen, die auf verschiedene Weisen an UMG angedockt waren. Videos mit den Songs von Taylor Swift und vielen, vielen anderen waren plötzlich stumm.

UMG gerierte sich in dieser Zeit als Verteidigerin ihrer (Verwertungs-)Rechte, was angesichts ständiger Vorwürfe und Klagen gegen das Unternehmen mindestens etwas bitter schmeckte. Mehr noch inszenierte Grainge sich nicht allein als Ritter auf dem weißen Pferd, sondern als David im Kampf gegen Goliath. Nach dem Einlenken von ByteDance erwies sich das als falsches Narrativ: Es standen sich zwei Giganten gegenüber, von denen der eine am längeren Hebel saß – UMG. Dass dieser den Konzern ByteDance in die Knie zwingen konnte und der gesamte Katalog im Mai auf TikTok zurückkehrte, demonstrierte die Macht der Musik. 

Oder besser gesagt die des Katalogs. Das war schon immer das hauptsächliche Druckmittel von UMG und Co. 

(Streaming-)Geschichte wiederholte sich …

In dem medienwirksamen Spektakel wiederholte sich eine Geschichte als Farce, die Ende der Nullerjahre als Tragödie in die Annalen einging. Der offizielle Launch von Spotify wäre nicht möglich gewesen, hätten die Majors – damals waren das vier große Konzerne, heutzutage fallen darunter UMG sowie Sony Music Entertainment (SME) und die Warner Music Group (WMG) als die sogenannten Big Three – sowie Unternehmen wie das für die Verwertung der digitalen Rechte von vielen Indie-Labels verantwortliche Merlin Network nicht entsprechende Lizenzvereinbarungen unterschrieben.

Spotify konnte diese Unternehmen an einem kritischen Punkt an den Verhandlungstisch zwingen, weil sie wirtschaftlich angeschlagen waren, nachdem sie die laufende Digitalisierung so gut wie komplett verpennt hatten (auch das Narrativ, Napster sei an allem schuld, ist nicht so ganz richtig). Im selben Zug entdeckten die Majors, dass sie einen Vorteil hatten: Spotify wollte seine Kundschaft mit unüberschaubaren Mengen von Musik anlocken, und die Labels hatten über die Nutzung eben jener Musik die größte Verfügungsgewalt. Es galt also für beide Seiten, den bestmöglichen Kompromiss zu finden.

Das markierte den Beginn eines opportun-antagonistischen Verhältnisses zwischen Plattformen und Musikindustrie – ein Spiel von Zuckerbrot und Peitsche, das quasi täglich aufs Neue gespielt wird. Gemeinsam mit Spotify (und, wohlgemerkt, anderen Plattformen, zuvor etwa YouTube) erdachten federführend die Big Three die Vergütungssysteme der Streaming-Welt und profitieren seitdem davon. Zuletzt etwa von den angeblich "artist-centric"-Modellen bei Spotify und Deezer, maßgeblich mitentwickelt von … Eben, UMG. 

Dasselbe Unternehmen also, das nun abseits aller Konkurrenz neue Modalitäten mit TikTok aushandeln konnte. 

… und zwar als Farce

Die öffentliche Diskussion um die Wertschöpfungskrise für vor allem unabhängige Künstler:innen konzentriert sich oft auf die Plattformen allein (es ist alles Spotifys Schuld!) oder gibt primär den Big Three die Schuld für die Misere (it's the labels, stupid!). Hartnäckig hält sich etwa das Gerücht, denen würde Spotify zu fast einem Fünftel gehören – was allerdings nicht stimmt (nur UMG und SME haben Spotify-Anteile, die insgesamt nicht mehr als sieben Prozent ausmachen dürften). Beides ist nicht unrichtig, die Wirklichkeit aber wie immer etwas komplexer als das überzeugende Narrativ.

Im Fall TikTok vs. UMG zeigte sich, wie stark die wechselseitige Abhängigkeit voneinander ist und wie auf dieser Basis derlei Kompromisse zustande kommen. Der neue Deal könnte anderswo die Streaming-Welt prägen. Denn Bytedance verfolgt seit geraumer Zeit Pläne, ins reguläre Streaming-Geschäft einzusteigen. Zuerst gab es dafür die App Resso, die im Herbst 2023 durch TikTok Music abgelöst wurde. Der Dienst ist aktuell noch in nur fünf verschiedenen Ländern erhältlich und in dreien davon müssen Nutzer:innen ohne die Musik von UMG auskommen.

Der Zwist zwischen TikTok und UMG muss unweigerlich vor diesen vorhergehenden Streitigkeiten betrachtet werden: Grainge konnte TikTok in die Knie zwingen und wird ByteDance vermutlich nun auch hinsichtlich TikTok Music zum Einlenken bringen. Nachdem sich UMG sehr erfreut über das Einlenken von ByteDance zeigte, herrscht zumindest erstmal wieder eitel Sonnenschein, worauf sich weiter aufbauen ließe. Die Mithilfe UMGs bei der Expansion des Geschäfts mit TikTok Music wäre für ByteDance mehr als nur Gold wert, während der Musikkonzern ebenso massiv davon profitieren könnte.

Wie sich die Konditionen zwischen TikTok und UMG konkret gestalten, ist noch nicht bekannt. Vermutlich aber werden die beiden Goliaths eine Lösung gefunden haben, mittels derer sie jeweils am meisten profitieren – weniger wohl aber die Musiker:innen und Urheber:innen, für die UMG angeblich in den heiligen Krieg zog. So wiederholt sich die tragische Geschichte, die wir bereits von Spotify und Co. kennen. Dass viele aus der (Indie-)Musikwelt UMG mit Applaus bedachten, obwohl bisher offensichtlich niemand sonst ähnliche Forderungen geltend machen konnte – darin liegt die Farce.

Superfan-Features für UMG!

Der Showdown unterstrich, welche Macht eine Firma wie UMG selbst gegenüber der größten App der Welt hat. Der Katalog, der bereits Mitte April, wenige Wochen vor der Ankündigung der gütlichen Einigung, zu Teilen in Form von Taylor Swifts Musik medienwirksam kurz vor Veröffentlichung ihres neuen Albums wieder zu TikTok zurückkehrte, bleibt ein wirksames Druckmittel. Das haben die Indie-Labels und -Artists, von denen einige UMG zujubelten, eben nicht. Und werden sich in Zukunft mit den Konditionen begnügen müssen, die die Goliaths unter vier Augen ausgehandelt haben – wenn sich denn für sie überhaupt etwas ändert.

So sehr UMG also die gesamte Zeit über die Oberhand behielt und letztlich als Gewinnerin aus dem Spektakel hervorging, so eng ist ihre Zukunft doch an TikTok geknüpft. In der "cut to grow"-Phase des Unternehmens konzentriert sich dieses noch massiver auf das Geschäft mit den sogenannten "Superfans", von denen es bei TikTok eine Menge gibt – zumindest laut Angaben von ByteDance selbst. Laut einer Studie geben in Großbritannien TikTok-Nutzer:innen angeblich 49 Prozent mehr Geld für Musik aus als durchschnittliche Musikfans. Dass TikTok und TikTok Music auf nicht-westlichen Märkten wie Indonesien große Zugkraft haben, ist umso mehr ein Bonus. 

Nicht nur das neue Album und die 'The Eras'-Tour von Taylor Swift wurden sehr effizient auf TikTok an das spendierfreudige Publikum gebracht, auch rollte die App zur Veröffentlichung von 'HIT ME HARD AND SOFT', dem neuen Album der UMG-Künstlerin Billie Eilish, ein deutlich auf Superfans abzielendes Feature aus. Dass dieses relativ kurz nach der Einigung von UMG und TikTok schon präsentabel war, lässt durchaus vermuten, dass es schon etwas länger gemeinsam geplant wurde. Manchmal gibt es Peitsche und Zuckerbrot zur selben Zeit – letzteres nur eben hinter verschlossenen Türen.

Wie es weitergehen könnte

UMG braucht den Zugang zu zahlungskräftigen Menschen in aller Welt für das Gelingen seiner eigenen Wachstumspläne und hat sich diesen mit der neuen Lizenzvereinbarung wohl gesichert. Während die Umsätze von ByteDance in die Höhe schießen, hat sich Grainge endlich einen (noch größeren) Teil vom Kuchen gesichert und der Konkurrenz damit ein weiteres Mal ein Schnippchen geschlagen. Der Katalog macht's möglich. Und ByteDance? Könnte noch wichtiger für die Musikwelt werden.

Denn obwohl ein Verbot von TikTok in den USA droht – wer weiß, vielleicht legen die UMG-Lobbyist:innen allerdings nunmehr in der Politik ein gutes Wort für die App ein –, hat der dahinterstehende Konzern offenbar große Pläne. Laut Stellenanzeigen soll über verschiedene US-Städte hinweg ein Team zum Kauf von Musikrechten zusammengestellt werden – kurz, es will sich einen eigenen Katalog zusammenkaufen. 

So könnte TikTok, zu dem bereits mit SoundOn ein Vertrieb gehört, dann doch wieder in Konkurrenz zu UMG und den anderen beiden der Big Three eintreten. Die Plattform wird das sicherlich vorsichtig machen – sie wurde erstmal in die Schranken verwiesen. Wer aber garantiert auf Dauer zunehmend untergehen und immer weniger als zuvor von alledem profitieren wird: Diejenigen, die UMG für den vermeintlichen Mut applaudiert haben.

Was sonst noch wichtig war: 

Armada baut sein EDM-Imperium weiter aus und hat nach der Übernahme des Verlags Cloud 9 Music über den hauseigenen BEAT Music Fund die Größe seines Verlagszweigs quasi verdreifacht. Der Tanz ums große Dance-Music-Geld geht munter weiter – siehe auch Believe, SME und Co.

Apple wird von allen Seiten attackiert. Nachdem das Unternehmen von der EU auf rund zwei Milliarden US-Dollar Strafe wegen Kartellrechtsverstößen verdonnert wurde, hat es an seinen wegelagerischen App-Store-Gebühren in Höhe von vorher 30 Prozent auf jeden Verkauf allerdings eigentlich herzlich wenig verändert – was dem Unternehmen einen wütenden Rage-Tweet-Storm von Spotify einbrachte. Das US-amerikanische Department of Justice zieht mittlerweile nach und grillt Apple nun auch im Heimatland. Dabei kam quasi zufällig heraus, dass Apple Music als Streaming-Plattform in den USA einen größeren Marktanteil beziehungsweise mehr Abonnent:innen hat als Spotify.

Believe wird zwar verkauft, das französische Unternehmen wird aber kein Teil von Warner Music Group: Der Musikkonzern hat sich aus dem Bieterkrieg um die börsennotierte Firma für Digitale Musik, zu der unter anderem der Vertrieb TuneCore gehört, rausgezogen. Voraussichtlich wird Believe in den Besitz eines vom Gründer Denis Ladegaillerie angeführten Konsortiums übergehen. Er wird die Firma wohl nicht nur aus nostalgischen Gründen von der Börse nehmen wollen. Zum einen hat das Unternehmen im ersten Quartal dieses Jahres 230 Millionen Euro umgesetzt, fast 16 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum, und investiert es munter weiter: Gemeinsam mit der Künstleragentur Kidding Aside hat Believe über sein hauseigenes Label das Imprint All Night Long an den Start gebracht, das unter anderem Folamour und Acid Arab vertreten wird.

Die Clubcommission hat Anfang Juni eine sogenannte Nighttime Strategy für Berlin veröffentlicht. Formuliert werden darin zehn Ziele und 30 Handlungsempfehlungen, grob formuliert geht es dabei um mehr branchenübergreifende, politisch flankierte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beteiligten all dessen, was in der Stadt zwischen 18 Uhr abends und 6 Uhr morgens so passiert – was nicht nur Clubs, sondern zum Beispiel auch die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) einschließt. Die bei der Pressekonferenz anwesende Franziska Giffey, Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe von der SPD, fand das alles ganz superklasse und versprach, die Vorschläge mit in Gespräche zu nehmen. Letztlich aber hängen dringende Themen wie die Festschreibung von Clubs als Kulturstätten in die Baunutzungsverordnung, die Änderung der TA Lärm beziehungsweise die Umdefinition von Clublärm zu sogenannten Kulturschall sowie natürlich der drohende Ausbau der A100 weiterhin beim Bund. Gerade in diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass die imposante Erhebung der Clubcommission über die Gestaltung und Bedarfe der sogenannten Nachtökonomie in anderen Bundesländern Nachahmung findet. 

CTS Eventim zeigt sich unbeeindruckt davon, dass in den USA das De-facto-Monopol Live Nations mittlerweile auf kartellrechtlicher Ebene angefochten wird (s. u.) und hat für 300 Millionen Euro die Festival- und Ticketing-Geschäfte des französischen Medienkonzerns Vivendi aufgekauft

Fortune Teller ist eine aus dem Umfeld der Berliner Agentur A-Okay gegründete und vom Musicboard geförderte Plattform, die für einen schmalen Taler Bands und Künstler:innen ebenso wie Neulingen auf der Industrieseite Beratungen anbietet. Im Fokus stehen Exportstrategien, sprich Maßnahmen zur Etablierung von regional aktiven Acts auf internationaler Ebene.

James Blake hat mit seiner zerfahrenen Bewerbung der Plattform Vault wohl nebenbei seine Solo-Karriere als frisch gebackener Indie-Artist ankurbeln wollen: Im Interview mit Kristin Robinson für Billboard bestätigte er, nach zwölf Jahren bei Polydor (UMG) raus zu sein und seine neue Single "Thrown Around" nunmehr mithilfe einer anderen Plattform veröffentlicht zu haben, dessen Prinzip ähnlich hirnverbrannt klingt wie das von Vault: Indify (lol) verkuppelt Künstler:innen mit Investor:innen, die als ROI an Streaming-Einnahmen beteiligt werden. Es ist alles sehr, sehr cringe – inklusive des Videos zum neuen Song.

Kanada verärgert Spotify und Co.: Ähnlich wie zuvor in Frankreich werden Streaming-Anbieter dort mittlerweile zur Kasse gebeten und müssen fünf Prozent ihres Umsatzes abgeben. Das Geld kommt verschiedenen Einrichtungen zur Förderung kanadischer Kultur zugute. Die Digital Media Association (DiMA), welche die Interessen von Spotify, Amazon Music und anderen vertritt, ist natürlich fuchsteufelswild und droht mit den bereits von Spotify aus Frankreich bekannten Konsequenzen: einer Anhebung der Abogebühren. Das waren dort 13 Cent pro Monat

Das Live-Geschäft gestaltet sich weiterhin schwierig, die Festivalbranche schlägt wiederholt Alarm. Oder besser gesagt: Während Firmen wie CTS Eventim schon die Baupläne für den Zweitgeldspeicher begutachten und sich der Investment-Riese KKR mit Superstruct die Firma hinter unter anderem DGTL und Parookaville unter den Nagel reißt, schlagen sich die mittelgroßen und kleinen tourenden Künstler:innen, Spielstätten beziehungsweise Clubs und Festivals mit riesigen Problemen herum; klafft die Schere zwischen oben und unten weiter auf denn je. Pamela Schobeß, ehemalige Vorstandsvorsitzende der Berliner Clubcommission und Betreiberin des Gretchen sowie Mitglied des Branchenverbands LiveKomm, rollt in einem ausführlichen Interview mit Daniel Nagel für Backstage Pro die Problemsituation ebenso eloquent wie eindringlich auf. Während hierzulande die Meldung der Einstellung des Melt viele erschreckte, zeigt ein Blick ins Ausland, wie sehr eine auf sich gelassene Festivallandschaft sukzessive verödet: Die Association of Independent Festivals (AIF) zählte 40 Festivals, die nach dem Jahr 2023 nicht mehr zurückkehrten, nach Schätzungen könnten über hundert (!) nach der diesjährigen Saison das Handtuch schmeißen. In den Niederlanden wurden heuer bereits 60 Festivals abgesagt. Und so weiter, und so fort. Dass die Initiative Musik hierzulande den Spielstätten Geld zur Modernisierung ihrer Technik bereitstellt und eine lange Reihe von Festivals über den Festivalförderfonds Finanzmittel in Höhe von bis zu 50.000 Euro erhielt, mag beruhigend klingen. Für die LiveKomm allerdings sind solcherlei politische Maßnahmen ein "Tropfen auf den heißen Stein".

Live Nation hingegen bekommt derzeit harte Klatschen von der Politik. Das De-facto-Monopol des US-amerikanischen Medienkonzerns hat das Department of Justice auf den Plan gerufen, das eine Zerschlagung des Veranstalters und des zu ihm gehörenden Ticketing-Geschäfts Ticketmaster fordert. Klingt erstmal sinnvoll, Tim Ingham kommt allerdings bei Music Business Worldwide in seiner Analyse des Falls zu dem Schluss, dass die Chancen nicht gut stehen – und es an der desolaten Lage nicht viel ändern würde. Dazu kommt übrigens noch eine Sammelklage in den USA sowie jede Menge schlechte Presse – die Daten von 560 Millionen Menschen (!) wurden in einem Hack von der Ticketmaster gemopst. Upsi.

MiDIA Research liefert konstant verlässliche Zahlen zur Musikwirtschaft und prognostizierte vor Kurzem für das Jahr 2030 Einnahmen über 100 Milliarden Dollar weltweit durch das Geschäft mit Musikaufzeichnungen. Die Datensammelagentur scheint sich sehr weit aus dem Fenster zu lehnen: Im Vorjahr wurde weniger als ein Drittel dieser Summe gemeldet. (Goldman Sachs sieht für dasselbe Jahr rund 164 Milliarden US-Dollar in der hauseigenen Glaskugel – für den gesamten Musikmarkt, wohlgemerkt.) Dem anbei stellte MiDIA die sogenannte Bifurcation Theory: Ein eher passiver und ein aktiverer Teil des Publikums würde sich Musik zunehmend in unterschiedlichen Medienumfeldern mit verschiedenen Monetarisierungsmodellen zuwenden. Das bringt jeweils distinkte Anforderungen an Künstler:innen mit sich, die sich auf der einen oder anderen (oder gar beiden) Seiten etablieren wollen. Klingt nicht unspannend oder unrichtig, allerdings sollte all das auch immer kritisch rezipiert werden: MiDIA ist im Orakel-Business. Rosige Zukunftsaussichten an die Wand zu malen und fetzige Begriffe zu prägen, ist gut fürs Geschäft.

Mirlo ist ein genossenschaftlich geleiteter digitaler Marktplatz à la Bandcamp, der in absehbarer Zeit in den kollektiven Besitz der Künstler:innen und Fans übergehen soll. Mit einer erfolgreichen Kickstarter-Aktion hat das dahinterstehende Team das Überleben der Plattform nun bis zum Ende des Jahres gesichert. Sollte Mirlo – anders als vergleichbare, mittlerweile eingestellte Plattformen wie Ampled – sich überlebensfähig zeigen, würde das ein wichtiges Zeichen setzen: Die Indie-Welt hätte den Beweis dafür, dass sie nicht der Willkür von Risikokapital und CEOs ausgeliefert ist.

musiclawyer.ai ist ein vom Low-End-Theory-Gründer Daddy Kev gegründeter Service, der rechtliche Dokumente wie beispielsweise Labelverträge nach Auffälligkeiten durchsuchen soll. Er greift dabei auf ChatGPT und Gemini zurück, was angesichts deren Verlässlichkeit … Nun ja, meine Empfehlung: Wer Anwaltskosten für die gründliche Prüfung von Verträgen nicht parat hat, sollte zumindest in Donald Passmans exzellentes Buch 'All You Need to Know about the Music Business' investieren. Kurzweilig, witzig und auch für nicht US- oder UK-Artists sicherlich sehr informativ.

Sony Music Entertainment (SME) hat mit noted ein neues Label für Clubmusik gestartet, dessen Startschuss von Anfisa Letyago in Form einer TikTok-kompatiblen Single kommt. Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Big Three langsam aber sicher tief in die Szene einsteigen – der Ausgang des Ganzen ist uns bereits bekannt. Für das erste Quartal meldete das Unternehmen übrigens einen Umsatz von 2,5 Milliarden US-Dollar aus dem Geschäft mit Musikaufzeichnungen sowie dem Verlagswesen. Ungefähr die Hälfte kostete der Aufkauf des Katalogs von Queen – ich fürchte, wir müssen in Zukunft noch mehr Freddie-Mercury-Biopics rechnen.

Spotify hätte wie immer einen eigenen Artikel verdient, halten wir es also so kurz wie möglich: Der Börsenkurs geht dermaßen steil, dass selbst die Mitbegründer ihren Stock auf den Markt hauen. Nach dem ersten Quartal konnte das Unternehmen sogar Profite vermelden. Das alles hängt auch mit zahlreichen Änderungen beziehungsweise Ankündigungen zu Reformen der Abomodelle zusammen. Das lange erwartete "Supremium"-Modell mit Hi-Fi-Sound kommt endlich, in den USA erhöhen sich die monatlichen Premium-Zahlungen, in Frankreich wurden als Reaktion auf eine zusätzliche Umsatzsteuer die Preise angehoben und Großbritannien sowie die USA erhalten derweil ein "music-only"-Modell. Die Erhöhung des Premium-Preises in den USA erlaubte Spotify übrigens dank der Beigabe von ein paar Hörbüchern pro Monat, das ganze Angebot als "Bundle" zu bezeichnen und Ausgaben an die Urheber:innen und Verlage von Musik zu verringern. Laut Informationen von Digital Music News betrifft das ganze 97 Prozent der US-amerikanischen Abos und sorgt in der Breite für noch schmalere Einnahmen. Kein Wunder, dass der US-amerikanische Verlagsverband NMPA rechtlich dagegen vorgehen möchte. Das "music-only"-Abo könnte als Besänftigungsversuch verstanden werden. Dass CEO Daniel Ek allerdings raustwitterte, die Kosten für die Produktion von "Content" beliefen sich heutzutage ja "fast auf null", war da nur bedingt hilfreich. Wer aber über 100 Millionen Euro damit verdient, ein paar seiner Unternehmensanteile zu veräußern, interessiert sich weder über sein Geschwätz von gestern noch die darauf folgenden Shitstorms. Fakt ist und bleibt: Diese Firma und ihre Plattform werden sich nie zu einer fairen Vergütung zwingen lassen, weil das schlicht nie im Geschäftsmodell vorgesehen war.

Twitch sorgte zuletzt für einige Aufregung, weil CEO Dan Clancy Ende April ankündigte, dass DJs bald für die von ihnen gespielte Musik in die Tasche greifen müssen. Die Neuerungen im Rahmen des sogenannten Twitch DJ Program werden nunmehr ab Juli greifen. Darin erhältlich sind allerdings nur die Kataloge der Big Three (Universal, Warner und Sony) sowie "hunderte" Indie-Labels. 

Die Warner Music Group (WMG) hat gemeinsam mit Ensis Records ein neues Label mit dem selbsterklärenden Namen Balkan Electro (was die bei Balkan Vinyl wohl davon denken?) aus der Taufe gehoben – das xte Beispiel dafür, wie die Majors nunmehr Geld aus dem Dancefloor pressen wollen. Mit Singles wie "Back to '95" von Prisko und TBx – Haudruff-House mit viel Piano, Pseudo-Rap und einer nervigen Hook – ein schwieriges Unterfangen. Bei einem Umsatz von 1,59 Milliarden US-Dollar im ersten Quartal 2024 kann sich der drittgrößte Musikkonzern der Welt sowas aber wohl erlauben.

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