Elektronische Musik 2024: Zwischen Marktmacht der Großen und Ohnmacht der Kleinen

Elektronische Musik 2024: Zwischen Marktmacht der Großen und Ohnmacht der Kleinen

Features. 17. Dezember 2024 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

KI-Schwemme, angebliche 'Artistic-Centric'-Ausschüttungsmodelle und die Konsolidierung des Vertriebsgeschäfts: In mehrerlei Hinsicht war 2024 ein entscheidendes Jahr für die Musikindustrie. Die großen Player werden gestärkt daraus hervorgehen, die kleinen geschwächt und noch machtloser als zuvor. Doch es gibt auch Hoffnung. Quartalsbericht-Kolumnist Kristoffer Cornils wirft einen Blick zurück auf das musikwirtschaftliche Jahr 2024.

Große Aufregung im Sommerloch 2024: Der Song "Verknallt in einen Talahon" schaffte es als "erster KI-Song in die deutschen Charts". Doch nein, das vom Produzenten Butterbro mithilfe von Udio produzierte Musik-Meme lief Shirin Davids zertifizierten Sommerhit "Bauch Beine Po" nicht den Rang ab. Das Stück stieg am 9. August auf Platz 48 ein, rutschte in der Folgewoche auf Platz 83 ab und war dann so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Auch war es kein voller "KI-Song": Das zentrale Element, die Lyrics, hatte Josua Waghubinger selbst geschrieben, bevor er Udio anpromptete, sie doch bitte als Retro-Schlager zu vertonen.

"Verknallt in einen Talahon" zeigte die Grenzen sogenannter generativer Künstlicher Intelligenz auf. Erstens braucht es weiterhin menschliche Hauptautorschaft, um einen Kuriositäten-Hit zu landen, und zweitens ist selbst ein solcher Song nicht von langer Halbwertszeit. Ob die ihm vorausgegangenen "Fake Drakes" oder ein aufpoliertes Beatles-Stück: Bisher ist es noch keinem Song, der sich wie auch immer zu großen Teilen auf sogenannte Künstliche Intelligenz stützte, gelungen, mehr als ein bisschen Rauschen im Blätterwald zu produzieren. Das heißt jedoch keinesfalls, dass die Technologie sich nicht auf die Musikwelt und vor allem die Musikwirtschaft auswirkt.

Eher als die großen Stars und Topverdiener:innen werden wohl diejenigen wegautomatisiert, die aktuell die Musik für Werbung oder Film produzieren. Bedenklich ist das vor allem deshalb, weil sehr viele Künstler:innen mit solchen Jobs ihren Lebensunterhalt sichern. Dazu kommt, dass die Dienste in der Regel aller Lippenbekenntnisse zum Trotz in der Regel an urheberrechtlich geschütztem Material trainiert werden; an Musik und Texten von allen, die irgendwann mal etwas veröffentlicht haben. Es ist also möglich, mit der Arbeit anderer zumindest ein paar Groschen umzusetzen – insbesondere, wenn zusätzlich die Plays manipuliert werden. Das ist nicht in Ordnung.

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Training, den Einsatz und die Verwertung der Erzeugnisse von KI bilden sich nur langsam. Im April verabschiedete die Europäische Union ihr "erstes KI-Gesetz", das der allgemeinen Wild-West-Stimmung bisher noch keinen Riegel vorschob. Die Musikindustrie flankiert die Gesetzgebung mit juristischen Anstrengungen, beispielsweise klagten die sogenannten Big Three – die Musikkonzerne Universal Music Group (UMG), Sony Music Entertainment (SME) und Warner Music Group (WMG) – in den USA gegen Udio und Suno. In Deutschland strebt die GEMA einen Prozess gegen OpenAI an.

Der Tonfall der Klageschriften ist scharf, gegen KI im Allgemeinen richten sich diese Unternehmen allerdings nicht. Schließlich wollen auch sie auf die eine oder andere Art davon profitieren. Die GEMA bewirbt trotz lautstarker Kritik weiterhin das KI-Mastering-Programm Masterchannel und der größte der Big Three, UMG, investierte in den Bereich und ging zuletzt eine strategische Partnerschaft mit dem "ethischen" KI-Start-up Klay ein. Die Industrie hat ihre Lehren aus dem Napster-Desaster von damals gezogen: Statt rein repressiv gegen den technologischen Wandel vorzugehen, wird diesmal nur die potenzielle Konkurrenz belangt.

Obendrein lieferte der Siegeszug von KI und die damit angeblich einhergehende Flutung der Streaming-Plattformen mit KI-Musik den Anlass für eine Restrukturierung des Streaming-Markts. Die zielt allerdings auf viel mehr ab als auf die Bekämpfung der KI-Flut und die zahlreichen Manipulationsversuche im Streaming-Game.

'Artist-Centric'-Modelle und Superfans: "Streaming 2.0" ist da

Bereits Anfang 2023 kündigte sich an, dass bald neu verteilt wird. UMG-Chef Lucian Grainge ließ verlautbaren, dass sein Unternehmen an einem neuen Modell arbeite. Im Herbst dann kündigten erst Deezer und schließlich Spotify an, Variationen des sogenannten 'artist-centric'-Modells zu adaptieren. Bei Deezer bekommen "professionelle Musiker:innen" künftig mehr Geld (und "unprofessionelle" also weniger), bei Spotify wird seit diesem April jeder Track mit weniger als 1.000 Plays innerhalb der letzten zwölf Monaten demonetarisiert (und das so eingesparte Geld – angeblich rund eine Billion US-Dollar – nach oben umverteilt).

Die Argumentation zur Einführung dieses primär 'major-label-centric' zu nennenden Systems – denn Labels wie die von UMG, SME und WMG verdienen natürlich kräftig mit – basiert vor allem darauf, dass die Streaming-Dienste und die Big Three besorgt sind über die allgemeine Flutung der Plattformen mit weißem Rauschen oder eben KI-Musik, weil diese hart arbeitenden Musiker:innen und ihren Labels illegitimer Weise etwas vom sprichwörtlichen Kuchen abzwacken. Es ist schwer von der Hand zu weisen, dass an all dem etwas dran ist. Die berechtigte Sorge ist allerdings teilweise vorgeschoben. Im Kern geht es um etwas anderes: rigide Profitmaximierung.

Die großen Plattformen und die Big Three arbeiten immer wieder auf verschiedenen Ebenen zusammen, um sich das Geschäft mit der Musik weitgehend exklusiv untereinander aufzuteilen. Zusätzlich dazu, dass Spotify das von UMG entwickelte Ausschüttungsmodell adaptierte, machten die beiden außerdem im Rahmen einer strategischen Partnerschaft gemeinsame Sache. Mittels dieser solle "die Entdeckung von Musik weiter verstärkt sowie die Fan-Erfahrung auf der Plattform für die UMG-Familie von Künstler:innen und Songwriter:innen verbessert werden", wie es wunderbar vage in der Ankündigung hieß.

Verkürzt gesagt geht es dabei um das neue Gold der Musikindustrie. Wie Lucian Grainge noch Anfang letzten Jahres den Kurs Richtung 'artist-centric'-Modell mit einer internen Memo vorgab, so definierte er auf demselben Weg die Stoßrichtung für das Jahr 2024: Es ginge darum, sogenannte Superfans in Zukunft noch mehr zu melken. Der Begriff ist schwer zu definieren, im Kern aber handelt es sich um Menschen wie Swifties oder die BTS Army – Fans also, die bereit sind, für ihre Stars sehr tief in die Tasche zu greifen. An ihnen wollen zukünftig alle mehr verdienen.

Das führt zu einer Diversifizierung des Angebots. Als Stichwortgeber der gesamten Industrie spricht Grainge mittlerweile von "Streaming 2.0": Das bloße Hören von Musik und die Wertschöpfung aus der Lizenzierung ist im Streaming-Umfeld allein nicht mehr ausreichend. Spotify beispielsweise wandelt sich mit Videoinhalten und Shop-Funktion zum bequemen zentralisierten Konsumknotenpunkt. Diesem Beispiel werden sicherlich andere folgen, noch steht Spotify aber mit diesem umfassenden Service allein auf weiter Flur. Für Konsument:innen wird der Dienst immer bequemer, was nichts Gutes für den Rest der Musikwelt bedeutet.

Denn nachdem das Unternehmen selbstpublizierenden Künstler:innen und kleinen Indies mit Einführung des 'artist-centric'-Modells endgültig zeigte, für wie entbehrlich es sie hält, wird es für sie zukünftig schwieriger, das Publikum von dieser Plattform loszueisen, die wiederum nunmehr mit vielen anderen in Konkurrenz tritt – mit YouTube ebenso wie mit Ticketing-Angeboten. Allgemein teilen sich immer weniger Firmen zunehmend die Infrastrukturen des Musikmarktes untereinander auf.

Konsolidierung allenthalben: Die Abhängigkeit der kleinen Szene vom großen Geld

Als UMG im Herbst 2022 meldete, dass es ein gutes Jahr nach dem Abschluss einer "strategischen Partnerschaft" mit der [PIAS] Group eine sogenannte Minderheitsbeteiligung an dem Unternehmen gekauft habe, wirkte das wie der reine Hohn. 49 Prozent der Anteile an einer Firma zu besitzen, mit der bereits ein wechselseitiges Geschäftsverhältnis besteht – kommt das nicht einer de-facto-Übernahme gleich? Schon, aber es geht noch besser. Im Oktober 2024 wurde der Sellout formalisiert: UMG kaufte [PIAS] offiziell auf. Damit gehören UMG neben den Labels im Portfolio des Indie-Riesen auch sein Vertrieb mit dem nunmehr ironischen Namen [Integral].

Ab sofort mischt die UMG noch mehr im Alltag vieler Indie-Labels, die die Dienste des mittlerweile in die UMG-eigene Virgin Music Group eingegliederten Vertriebs [Integral] in Anspruch nehmen, mit – darunter Ninja Tune, Mute und das Label des Londoner Clubs fabric. An ihrer Arbeit verdient UMG zukünftig mit. Der potenziell kartellrechtlich bedenkliche Aufkauf von [PIAS] durch den Marktführer UMG stellt allerdings keinen Einzelfall dar, sondern steht in einer jüngeren Tradition der Konsolidierung des Vertriebsgeschäfts. Wie Spotify sein Angebot und damit seine Einnahmequellen verbreitert, so tun es die Big Three und andere große Player auch.

Beispiele dafür finden sich nicht allein bei UMG. SME etwa kaufte im Jahr 2015 den Digitalvertrieb The Orchard und 2021 AWAL, den Label-Services-Anbieter, dessen Name einst als Akronym für "Artists Without a Label" stand. WMG hingegen sah im Sommer dieses Jahres in letzter Minute davon ab, das französische Digitalunternehmen Believe aufzukaufen, zu dem unter anderem der Digitalvertrieb TuneCore gehört. Dieses wurde stattdessen von seinem Gründer übernommen und kaufte munter eine ganze Reihe von Labels auf. Damit der Konzern nicht allzu groß wird, klagt UMG mittlerweile gegen Believe beziehungsweise TuneCore. Der Vorwurf: Urheberrechtsverstöße. Die Forderung: Eine halbe Milliarde US-Dollar. Der mutmaßlich echte Grund: die Schwächung der Konkurrenz.

Die Zeichen auf dem Vertriebsmarkt stehen in der Gesamtheit auf Konsolidierung und einen Kampf mit harten Bandagen. Das sollte selbstpublizierende Künstler:innen und kleine Labels weitaus mehr beunruhigen als neue Abomodelle bei Spotify. Für sie wird es immer unmöglicher, sich nicht in irgendeiner Form von der Willkür gigantischer Unternehmen abhängig zu machen, die vom Vertrieb angefangen bis hin zur Streaming-Plattform massiven Einfluss auf die Mechanismen der Musikverwertung haben. Die Indie-Welt begibt sich unwillentlich in immer größere Abhängigkeit von ihnen und verliert dabei das kleine Bisschen verbliebene Kontrolle über die Veröffentlichung und Verwertung ihrer Musik.

Proteste dagegen, auch das zeigt die konsequenzlose Einführung des 'artist-centric'-Modells, werden unerhört bleiben. Für die Plattformen und die Musikindustrie stellen diese Teile der Musikwelt bestenfalls lästige Kostenpunkte dar, auf ihre Bedürfnisse werden sie niemals eingehen. Doch es geht auch anders – es bilden sich immer mehr Alternativen zum Status quo.

Hoffnung ist in Sicht: neue Modelle für mehr Fairness und Kontrolle

Als James Blake im März dieses Jahres die "Lösung" aller Übel eines von ihm als künstlerfeindlich kritisierten Systems versprach, war die Aufregung groß. Es folgte erst Ernüchterung, dann hysterisches Gelächter: Vault.fm war ein schlechter Patreon-Abklatsch, der von einer Kryptofirma entwickelt wurde, die wiederum Gelder von Snoop Dogg und Andreessen Horowitz im Rücken hatte. Hätte Blake weniger versprochen, er hätte weniger Spott geerntet. Seine Kritik an einem System, das gemeinsam von den großen Musikkonzernen und den Streaming-Plattformen aufgebaut wurde, ist allerdings mehr als berechtigt.

Bisweilen scheint es vergeblich, dem auf Graswurzelebene etwas zu begegnen. Die überraschende Schließung von Aslice, das mittels einer Art Spendensystem für mehr Verteilungsgerechtigkeit zwischen DJs und Produzent:innen sorgen wollte, schlug hohe Wellen. Zurück blieb ein Gefühl der Resignation, war es doch nicht der einzige Rückschlag der vergangenen Jahre. Bandcamp, das als Online-Marktplatz lange Zeit großes Vertrauen in der Indie-Welt genoss, wechselte Ende des Vorjahres zum bereits zweiten Mal die Hände und gehört seitdem der Lizenzierungsfirma Songtradr, wobei die Hälfte der Belegschaft dran glauben musste.

Zeitgleich wurde das Geschäft mit dem in der Clubszene weiterhin beliebten Vinyl immer prekärer. Obwohl das große Lieferkettenchaos der ersten Pandemiejahre überstanden ist, steigen die Preise zunehmend ins Unermessliche. In der Breite dünnt sich damit eine weitere Einnahmequelle sukzessive aus, was bei Labels und Künstler:innen ebenso wie bei Mailordern und Plattenläden seine Spuren hinterlässt. Konventionelle Download-Stores wie Beatport profitieren indes weiterhin vom Hype um Clubmusik. Doch ist eben auch das eine Plattform, die im Notfall ihre eigenen Profitinteressen vor die ihres Publikums stellen würde.

Die eine Lösung für die sich bietende Vielzahl von Wertschöpfungsproblemen in einer zunehmend konsolidierten Musikwirtschaft ist derzeit nicht in Sicht. Dafür aber einige kleinere, die sich dem Großkapital entziehen wollen. Mit Jam und Mirlo gibt es bereits zwei Digital-Marktplätze, die weniger Gebühren als Bandcamp erheben und versprechen, eines Tages das Geschäft in Form einer Genossenschaft den Künstler:innen und sogar Fans direkt in die Hände zu geben. Die könnten dann die Weiterentwicklung der Website aktiv mitgestalten. Mit Subvert hat sich mittlerweile eine dritte Plattform diesem Ansatz verschoben.

Jam wirkt derzeit ausgestorben, Mirlo steckt noch in den Kinderschuhen, der Beta-Launch von Subvert soll erst zwischen Frühjahr und Sommer nächsten Jahres stattfinden. Sie alle stehen zudem in Konkurrenz zu Bandcamp, das ein Quasi-Monopol aufgebaut hat. Das mag zuerst nicht optimistisch stimmen. Ihr potenziell genossenschaftlicher Ansatz sollte aber unbedingt diskutiert werden. Denn diese drei Plattformen und andere Projekte wie Ampwall oder Bandwagon dienen als eigener Vertriebskanal und mögliche Einkommensquelle, deren Gestaltung und Entwicklung nicht von Investor:innen und allerhöchstens sekundär von Profitinteressen getrieben werden.

All diese neuen Projekte schaffen damit mehr Diversität im zunehmend monokulturellen Musikökosystem und repräsentieren obendrein einen neuen Geist: Was, würden wir statt von den großen Vertrieben, Plattformen und Musikkonzernen wieder mehr voneinander abhängen? Das ist die wichtige Frage nach einem Jahr, das für die Musikindustrie einen Wendepunkt und somit auch die immer stärker in Abhängigkeit zu ihr stehende Indie-Welt darstellte – zwischen der Marktmacht der einen und der Ohnmacht der anderen. Klar ist: Es muss sich dringend etwas ändern. Und zwar zum Guten.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Jahresrückblick

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