Review: Rhauder & Paul St. Hilaire - Assemblage [Ornaments]

Review: Rhauder & Paul St. Hilaire - Assemblage [Ornaments]

Features. 29. August 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Dub Techno ist ein Kuriosum: In Berlin flochten ein paar bleiche Nerds zwei Stränge schwarzer Musik zusammen, die zuvor separat voneinander existierten, und luden dazu eine Reihe von SängerInnen ein, um dem Ganzen eine Stimme und ein Gesicht zu geben. Paul St. Hilaire, vor allem unter dem Namen Tikiman für seinen Einsatz bei Rhythm & Sound bekannt, gehört wohl zu den markantesten Figuren des Genres. Zuletzt arbeitete er häufig mit Deadbeat zusammen, in den letzten zwölf Jahren hat er sich aber auch durch seine Kollaboration mit Marco Rhauderwiek alias Rhauder hervorgetan. Mit ‘Assemblage’ veröffentlichen die beiden nun eine umfassende Werkschau ihrer EP-Releases auf dem Label Ornaments.

Der Begriff der Assemblage kommt aus der Kunstwelt und beschreibt Collagen, für die auf einer Grundfläche plastische Objekte angebracht werden. Ihn auf die Musik des Duos anzuwenden, fällt dementsprechend leicht: Grundlage für die Tracks der beiden bildet Rhauders dezente Rhythmusarbeit, ein austariertes Miteinander von wattigen Kicks, minimalistischen Basslines und akzentuierten Snare- und Hi-Hat-Einsätzen. Im Zentrum steht so ein Groove, der nie enden will und das auch nicht zu tun scheint. Drüber und drunter wettern derweil satte Chords oder schweben schwerelose Synthie-Figuren dahin, welche die Collage erweitern, sie mit (scheinbar) wenigen Mitteln plastisch und mehrdimensional machen, dem rollenden Unterboden neue Facetten hinzufügen und damit endgültig die Bühne für St. Hilaire eröffnen.

Der Dominicaner ist gerade deswegen ein Ausnahme-Dub-Techno-Sänger, weil er es wie einst Mark Ernestus und Moritz von Oswald mit ihren ersten Produktionen als Basic Channel, Maurizio oder eben Rhythm & Sound versteht, das vormals Getrennte zusammenzuführen. Klassisches Toasting, wie es in der jamaikanischen Soundsystem-Kultur Dub von Anfang an begleitete, trifft in seiner Performance auf einen rhythmisierten Singsang, der mit verschliffenen Silben – oder versteht irgendwer, wovon der Mann da genau redet? – und repetitiven Motiven die vokale Entsprechung für die gen Unendlichkeit stampfenden Grooves von Dub Techno gefunden hat. St. Hilaire wirkt, als würde er ständig improvisieren und doch genau wissen, wohin die Reise geht; als würde er manchmal eine Melodie austesten und loopen als handele es sich dabei um ein Bassdrum-Sample, bevor er doch wieder in herkömmliche Pop-Muster verfällt und den Track für wenige Momente zum Song werden lässt.

Schon der Opener ‘No News’, erstmals im Jahr 2009 auf Ornaments erschienen, beweist über neun Minuten und zwanzig Sekunden, wie kurzweilig die so entstehenden dynamischen Assemblagen sein können. Rhauders Dub-Version kondensiert das Stück in eine dichte Klangwolke und der exklusiv auf der 3-fach-LP enthaltene und bisher unveröffentlichte ‘Assemble Mix’ nimmt sogar noch mehr Tempo heraus: Es ist ein meisterhaftes Dub-Ambient-Stück, dessen wohldosierte Bassfiguren in Kombination mit St. Hilaires verhallten Vocals noch genug vom Ursprung erahnen, das Original aber auf wunderbare Art zerfasern lassen. Neben solchen Abstraktionsübungen gibt sich das zwei Jahre später veröffentlichte Stück ‘Sidechain’ nicht nur wesentlich energischer, sondern ungleich poppiger und fast schon peak-time-kompatibel. Neben der etwas unentschlossenen Dub-Version versucht die ‘Pop-A-Dub-Version’ das umso mehr in den Vordergrund zu rücken – nötig wäre das aber nicht gewesen.

‘Assemble’ schließt mit den Tracks ‘Molekule’ und ‘No More’ von der im Jahr 2016 veröffentlichten EP ‘Reconnection’, denen jeweils in Dub-Tradition eine (weitgehend) Vocal-befreite Dub-Version nebendran gestellt wird. ‘Molekule’ bewegt sich deutlicher noch als die anderen Stücke am House entlang und zieht mit verwaschenen Klaviertönen ganz andere atmosphärische Register als die sonst sehr sonnenverbrannten, samtigen, ein bisschen angekifften Stücke: Dub im Dunkeln. Umso mehr in der gespenstischen Dub-Version, ein definitives Highlight im Schaffen von Rhauder und St. Hilaire. ‘No More’ bietet dagegen über siebeneinhalb Minuten Endorphine, Deepness und eine säuselnde, wortlose Hookline St. Hilaires, die in der Version zum ohrwürmelnden Leitmotiv wird, während der Beat auf Trip-Hop-ähnliche Geschwindigkeit reduziert wird. Der ideale Rauswerfer oder besser gesagt eine Rewind-Empfehlung: Das macht schlicht wieder Lust auf mehr.

‘Assemblage’ ist nicht allein als Werk- und Rückschau eines sehr außergewöhnlichen Projekts zu verstehen, sondern reiht sich auch nahtlos in eine verhältnismäßig junge Tradition ein, indem sie deren Grundlagen spielerisch aufnimmt und im Miteinander verschiedener Materialien sowie nicht zuletzt ihren beiden Machern weiterdenkt. Wo Rhauder mit seinen Dub-Versionen der Ausgangsstücke destilliert und abstrahiert, holt St. Hilaire die Musik immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Obwohl es sich mit diesen Tracks im Ohr mindestens ein paar Zentimeter darüber schweben lässt.

'Assemblage' erschien am 17.08.2020 auf Ornaments.

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