Streaming-Service Marine Snow: "Bei uns steht die Gemeinschaft im Vordergrund"
Geld vorab für Künstler:innen und eine ganz andere Nutzer:innenerfahrung verspricht der neue Streaming-Service Marine Snow. Er stellt damit einen radikalen Alternativentwurf zu den großen Plattformen dar. Wir sprachen mit Gründer Tony Lashley.
Tony Lashley hat zuerst bei SoundCloud und später bei Spotify gearbeitet und weiß dementsprechend, was er will und was nicht. Wo die eine Plattform dafür bekannt ist, regelmäßig einzelne Musiker:innen und sogar ganze Subkulturen und Genres mit der Kraft einer leidenschaftlichen Gemeinschaft groß gemacht zu haben, steht die andere für einen Prozess der Vereinzelung im Gewirr von hyperpersonalisierten Playlists voll von generischer Musik. Ihnen gemein ist, dass dort für unabhängige Künstler:innen wenig zu holen ist.
Die von Lashley und seinem Team entwickelte Plattform Marine Snow wurde damit beworben, dass Artists dort vorab bezahlt werden: das Äquivalent von 500.000 Spotify-Streams. Mehr noch soll die App auch den Nutzer:innen eine ganz andere Erfahrung bieten als die großen Services oder selbst das noch eher als soziales Netzwerk konstruierte SoundCloud. Kurzum: Auf Marine Snow soll der Wert von Musik von der Community drumherum definiert werden. Das größte Ziel aber? Klein bleiben.
DJ LAB: Marine Snow leiht sich seinen Namen von Meeresschnee, einem Phänomen, bei dem Partikel von der Wasseroberfläche auf den Meeresboden absinken und Lebewesen am Grund als Nahrung dienen. Umschreibt das eure Philosophie?
Tony Lashley: Die Metapher drückt aus, dass Marine Snow als Energiequelle für die Künstler:innen dienen soll, die das Sonnenlicht normalerweise nicht sehen. Bei der Gründung von Marine Snow haben mich zwei Motivationen angetrieben. Erstens war ich als Hörer mit der algorithmischen Kultur der heutigen Streaming-Services unzufrieden, die mir sedierende, risikofreie Musik servieren und mich null herausfordern. Ich erzähle gerne, dass sich mein Musikgeschmack während meiner Zeit bei Spotify verschlechtert hat, weil ich die ganze Zeit Musik über Spotify hören musste! Zweitens sehe ich aus der Perspektive von jemandem aus der Musikindustrie, dass diejenigen Künstler:innen, die die bahnbrechendste Musik machen und von anderen als Vorbilder genannten werden, nicht von den existierenden Systemen belohnt werden.
In der Ankündigung war davon die Rede, dass Artists vorab das Äquivalent von 500.000 Spotify-Streams ausgezahlt bekommen, umgerechnet etwas mehr als 1.500 US-Dollar. Ist das eine marketingfreundliche Art zu sagen, dass es sich um eine einmalige Lizenz handelt?
Es ist eine einmalige, befristete Lizenz für einen Zeitraum von 90 Tagen, also das Äquivalent von 500.000 Spotify-Streams in nur drei Monaten. Die Künstler:innen, mit denen wir arbeiten, bekommen das nicht einmal auf ihre Lebenszeit hochgerechnet für ein durchschnittliches Stück ausgezahlt. Nach dem vordefinierten Zeitraum können sie mit der Musik anstellen, was auch immer sie möchten – wie etwa sie auf Plattformen stellen, die ihnen Tantiemen ausschütten. Unsere Hoffnung ist, dass wir innerhalb dieser 90 Tage ein Publikum und ein gewisses Maß an kritischer Wertschätzung für ihre Arbeit aufbauen können.
Mit diesem Modell bietet ihr eine Alternative zum bestehenden System an, das auf Tantiemenzahlungen und Per-Play-Ausschüttungen basiert – und als solches für gegeben hingenommen wird. Warum wollt ihr es anders machen?
In dem Buch ‘Spotify Teardown’ hat eine Gruppe schwedischer Wissenschaftler:innen darüber geschrieben, dass das Per-Play-Modell von Spotify eingeführt wurde, weil dort anfangs die Annahme herrschte, dass Spotify rein durch Werbung finanziert würde. Im Allgemeinen würde ich aber sagen, dass Kostenmodelle den Ertragsmodellen entsprechen sollten. Derzeit zeigt sich diesbezüglich bei Spotify eine Schieflage. Bei YouTube funktioniert es, weil du direkt auf Basis der Plays bezahlt wirst. Da Spotify aber auch ein Abomodell hat, muss das Geld auf absonderliche Art und Weise verteilt werden. Wir passen das Kostenmodell dem Ertragsmodell an. Nehmen wir Video-Streaming-Plattformen als Vergleich: Netflix bezahlt ja auch nicht jedes Mal, wenn jemand einen Film startet. Und ich denke, dass von so einem Modell alle profitieren. Zum einen bringt es Künstler:innen einen garantierten Verdienst ein. Zum anderen bedeutet es, dass Marine Snow als Plattform an den Wert deiner Musik glaubt – egal, wie oft sie abgespielt wird. Es ist eine Win-win-Situation, solange die Qualität wichtiger als die Quantität bleibt. Ein festes Kostenmodell bringt erst dann Probleme mit sich, wenn du hunderttausende Songs kaufen musst.
Das heißt, dass alle Künstler:innen für ihre Musik denselben Betrag erhalten und abgesehen von diesen exklusiven Stücken keine andere Musik auf Marine Snow zu hören sein wird?
Genau, was zugleich ein Erwerbsmodell wie auch ein Kurationsprinzip ist. Marine Snow soll wie eine Freundschaft funktionieren, in der dir die andere Person einen guten Song nach dem nächsten schickt. Du hörst du dir dann ja mit Sicherheit immer den nächsten an. Deshalb wird es zuerst nur eine begrenzte Anzahl von Songs auf der Plattform geben, die wir zusammengestellt haben. Mit der Zeit wollen wir einen Teil der kuratorischen Arbeit aber in die Hände unserer Nutzer:innen abgeben.
Die Songs können nach den 90 Tagen auch als Download oder NFT verkauft werden.
Ja, eine passende Metapher wäre die von Marine Snow als eine Kunstgalerie. Stell dir vor, du bist bei einer Wolfgang-Tillmans-Ausstellung: Das ist eine Erfahrung, die du nur haben kannst, solange du selbst und die Bilder sich dort befinden. Nach dem Besuch kannst du im Museumsshop vorbeischauen, um dir ein Andenken zu kaufen – eine Postkarte, ein Buch etwa, also Reproduktionen. Oder du besuchst gleich die Auktionshalle, um die Werke als solche zu ersteigern.
Stichwort Kunst: Aktuell ist bei Marine Snow Musik von etwa Oliver Coates oder AceMo zu hören. Damit wird eine große musikalische Bandbreite abgedeckt, zugleich werden damit aber sehr spezielle Interessen bedient. Worauf legt ihr derzeit in der Kuration Wert?
Ich interessiere mich für kritische, historisch oder kulturell wichtige Künstler:innen, die Genres oder geografische und zeitliche Grenzen überschreiten. So würde ich zumindest ‘gute Musik’ definieren. Wir haben ein Team, das bestimmte Künstler:innen angesprochen und um neue Musik gebeten hat, über die wir dann gemeinsam abgestimmt haben. Ungefähr 10 Prozent von dem, was wir angefragt hatten, haben wir gekauft.
Du hattest schon Netflix erwähnt, meine erste Assoziation aber war MUBI. Ähnlich, wie es ursprünglich auf dieser Plattform war – Arthouse-Filme, nur 30 Tage erhältlich – folgt Marine Snow einer Verknappungslogik und setzt auf einen sogenannten ‘Lean-in-Ansatz’: Die Nutzer:innen müssen aktiv die Musik auswählen, anstatt sich über Playlists berieseln zu lassen. An genau dieses Prinzip ist das Publikum aber mittlerweile gewohnt. Wieso macht ihr es anders?
Gegenfrage: Warum isst du nicht jeden Tag am All-you-can-eat-Büffet?
Weil’s meistens widerlich ist! Und weil ich nicht nur einen sehr speziellen Musikgeschmack habe, sondern auch in kulinarischen Dingen sehr eigen bin.
(lacht) Siehst du, die bloße Quantität macht noch kein hochwertiges Angebot aus! Natürlich wurde das Publikum daran gewöhnt. Aber mit Marine Snow wollen wir etwas anbieten, das eine Alternative zum Bestehenden darstellt. Damit können viele etwas anfangen, denn viele Menschen benutzen zwar Spotify, sind aber keine wirklichen Fans dieser Plattform. Nur weil etwas anders ist, heißt das ja noch lange nicht, dass die Leute nicht dafür bereit wären.
Wie funktioniert euer Abomodell?
Derzeit ist Marine Snow noch kostenfrei, weil wir insbesondere in den Anfangstagen den Leuten eine Chance geben wollen, sich umzuschauen und uns Feedback zu geben. Im Laufe der Zeit werden wir aber zu einem Abomodell übergehen. Vielleicht mit einem Limit von drei oder fünf US-Dollar und der Option, freiwillig mehr zu zahlen. Das steht noch nicht fest. Die Idee ist aber: Je mehr du dich finanziell einbringst, desto mehr Mitbestimmungsrecht wirst du über alles Kommende erhalten. Musik ist eng mit Jugendkultur verknüpft und es ist mir wichtig, einen Preis zu haben, der für junge Menschen keine Hürde darstellt. Gleichzeitig möchte ich aber natürlich auch Musik nicht entwerten. Es ist mir wichtig, dass die Nutzer:innen verstehen, dass Musik einen Wert hat und sie also wert ist, dass dafür bezahlt wird.
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Die Erfahrung gestaltet sich auf Marine Snow ebenfalls anders als anderswo – sie ist eher gamifiziert und die Plattform wie ein soziales Netzwerk aufgebaut.
Bei Marine Snow steht die Gemeinschaft im Vordergrund. Ich möchte, dass die Menschen dort interessante Musik durch interessante Menschen und interessante Menschen über interessante Musik kennenlernen können. Viele der spannendsten Communitys heutzutage haben sich besonders in den jüngeren Generationen um Videospiele herum gebildet. Die Mechanismen von Videospielen könnten benutzt werden, um Gemeinschaften aufzubauen und die Mitglieder dazu zu motivieren und dafür zu belohnen, sich aktiv in diese einzubringen. In dem Fall heißt das, dass sie zu aktiven Musikliebhaber:innen werden. In Form eines Spiels wird es Spaß machen, sich anders zu verhalten als auf Spotify.
Wie muss ich mir das konkret vorstellen?
Zuerst ist jeder Song vor dir versteckt. Du wirst dann für deine Handlungen auf der Plattform mit immer mehr Musik belohnt. Dabei geht es vor allem um Tätigkeiten, die dem Aufbau der Gemeinschaft zuträglich sind, sowie das gemeinsame Teilen von Musik. Es gibt eine Art von Forum in Marine Snow. Wenn du dort postest, schaltest du mehr Musik frei. Und wenn du auf die Profile von anderen Nutzer:innen gehst, kannst du sehen und hören, was sie bereits freigeschaltet haben. Auch das ist ein subtiler Anstoß dazu, dich sozialer zu verhalten.
Derzeit lasst ihr nur peu à peu neue Mitglieder rein. Wird es einen Moment geben, ab dem an sich die Nutzer:innen direkt registrieren können?
Ich glaube an Dinge, die mindestens zehn Jahre halten. Im Großen und Ganzen macht so ein einzelner Moment da nicht viel aus. Ich glaube auch, dass vor so einem Moment funktionierende Systeme und Prozesse aufgebaut werden müssen, weil sonst jegliche Begeisterung verpuffen würde, nachdem so ein Moment gekommen ist. Es ist wichtig, dass Marine Snow nicht zu schnell zu groß wird. Das läuft der klassischen Tech-Logik entgegen, entspricht aber meinen eigenen Werten. Natürlich will ich, dass Marine Snow groß wird. Nur ist meine Definition von Größe eine andere als die von Spotify. Und die Zeitspanne, die ich mir dafür gebe, ist ein bisschen länger.
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