Quartalsbericht – Q2 2023: Wie KI eine Neustrukturierung der Musikindustrie lostritt

Quartalsbericht – Q2 2023: Wie KI eine Neustrukturierung der Musikindustrie lostritt

Allgemein. 13. Juli 2023 | 4,9 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

In seiner Kolumne 'Quartalsbericht' ordnet Kristoffer Cornils alle drei Monate die wichtigen Nachrichten aus der Musikindustrie kritisch ein: Was ist im Big Business passiert und was bedeutet das für die kleinen Player? In der zweiten Ausgabe geht es um … na, was wohl: Fake Drakes, Copyright-Probleme und das Ding mit der Wertschöpfung. Die Rede ist natürlich von sogenannter Künstlicher Intelligenz.

Der Hype um "Künstliche Intelligenz" – ein zurecht umstrittener Begriff – hat im vorangegangenen Quartal endgültig die Musikwelt erreicht. Die Sensationsmeldungen überschlugen sich, ständig war Bewegung in der Nachrichtenlage. Eins aber änderte sich nicht: Der beste Drake-Song überhaupt ist 'You & the 6'. Drizzy hat darauf vor acht Jahren die Zukunft vorausgesehen. Nutzen wir seine Lyrics deshalb, um die verworrene Gesamtsituation zu ordnen.

"It's just they cloning me, momma!"
Oder: Was passiert da gerade genau?

'Heart On My Sleeve', der unter dem Pseudonym Ghostwriter erst auf TikTok und schließlich den gängigen Streaming-Plattformen veröffentlichte Track mit den Stimmen von Drake und The Weeknd, markierte in der öffentlichen Aufmerksamkeit einen Dammbruch. Zugleich stellte er lediglich die Spitze des Eisbergs dar. Ein Ice-Spice-Cover von Drake oder gleich Dutzende weitere Fake Drakes wurden zur ungefähr selben Zeit veröffentlicht. Dazu kam ein neues "Oasis"-Album, Kollaborationen von Bad Bunny und Rihanna, ein verqueres Comeback der singapurischen Sängerin Stefanie Sun und noch viel, viel mehr.

All diese Vorkommnisse beweisen, wie weit fortgeschritten KI mittlerweile ist: Viele dieser Stücke klingen "authentisch", würden beim Nebenbeihören gar nicht weiter auffallen. Was sich also in den vergangenen Monaten zeigte, waren die Potenziale sogenannter generativer und assistiver KI, das heißt Programmen, die auf Basis eines Trainings an existenten Daten etwas Neues generieren oder aber bei der kreativen Arbeit behilflich sein können. Assistive KI findet sich etwa beim Mastering-Service LANDR schon seit langem im Einsatz, bei generativer KI handelt es sich um Programme wie ChatGPT oder Midjourney.

Die Unterscheidung ist wichtig und wird aber häufig durcheinandergewürfelt, wie sich an den Schlagzeilen zum angeblichen Verbot von "KI-Musik", wie es selbst beim SPIEGEL extrem vage hieß, bei den Grammy Awards sehen lässt. Die Angelegenheit aber ist komplizierter, das heißt vage bis völlig undurchsichtig. Weder haben die Grammy Awards spezifiziert, wo eigentlich die Grenze zwischen "KI-Musik" und komplett menschengemachten beziehungsweise von Menschen produzierten Songs verläuft, noch handelt es sich wohl bei einem Song wie 'Heart On My Sleeve' um einen rein von KI generierten Track.

Einzelne Versatzstücke von 'Heart On My Sleeve' – die Lyrics oder der Beat etwa – könnten separat generiert worden sein, aber die Zusammenführung von all dem scheint eher umständlich. Tatsächlich sogar lässt sich gar nicht ausschließen, dass vom Beat angefangen bis hin zu den Lyrics oder sogar dem Gesang alles weitgehend menschengemacht war – und letztlich nur der Klang der Stimmen an den von Drake und The Weeknd im letzten Schritt angepasst wurde. In dem Fall ließe sich vielleicht sogar eher von assistiver als generativer KI sprechen, so wie der Vocoder und Autotune keine neuen Stimmen erschaffen, sondern sie nur verändert haben.

Wir wissen all das nicht mit Sicherheit und werden es wohl nie erfahren. Das Ganze war vermutlich sowieso als Marketing-Gag für eine Firma inszeniert worden, die ein generatives Tool namens drayk.it anbot, das ansonsten sehr zweifelhafte Ergebnisse ablieferte. 'Heart On My Sleeve' ging aber genau deshalb viral, weil er sauber ausproduziert war und obendrein unzweifelhaft nach Drake und The Weeknd klang. Dazu kam natürlich die Sensation als solche, die sich aber mit dem einen Beispiel schnell abnutzte – oder hat hier sonst jemand noch viele andere solcher Fake-Drake-Songs ernsthaft gehört oder ähnlich viral gehen sehen?

Auch wenn der Skandal sich abnutzt, besteht weiterhin die Möglichkeit der nahezu perfekten Nachahmung der Stimmen von diversen Popstars und dem Sound ihrer Musik. Dem wird doch bestimmt aber Einhalt geboten werden können, weil es illegal ist, oder? Nein. Aber ja. Auch das ist kompliziert.

"​​You're your father's child, man, thank God you got some me in you"
Oder: Das Copyright-Problem

Auf die menschliche Stimme kann kein urheberrechtlicher Anspruch geltend gemacht werden, obwohl sie einzigartig wie ein Fingerabdruck ist. Als 'Heart On My Sleeve' von den Streaming-Plattformen verschwand, passierte das also nicht aufgrund einer Urheberrechtsverletzung gegenüber Drake und The Weeknd. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass der Anspruch wegen der Verwendung des Producer-Tags von Metro Boomin, also einem unlizenzierten Sample, erhoben werden konnte (oder die Plattformen einfach nur nett, aber bestimmt darum gebeten wurden und dem nachkamen).

Sonderlich viel urheberrechtliche Handhabe gegen solche Fakes haben Künstler:innen und ihre Labels nicht. Obwohl sich über andere Rechte – namentlich vor allem Persönlichkeitsrechte wie das am eigenen Bild – argumentieren lässt, findet die gesamte Diskussion um KI noch in einer Grauzone des Copyrights statt. Zwar lässt sich argumentieren, dass in einem urheberrechtlichen Sinne eine Lizenz für das Training an kopierrechtlich geschütztem Material vonnöten ist. Das würde das Training an echten Drake-Songs justiziabel machen und es ermöglichen, die Anbieter:innen von Drake-Fake-Technologie zur Rechenschaft zu ziehen.

Doch die generierten Resultate an sich stellen nicht wirklich einen Verstoß gegen das Urheberrecht dar, sofern sie den Originalen nicht allzu ähnlich klingen. Im selben Zug übrigens können KI-generierte Inhalte nicht urheberrechtlich geschützt werden, weil sie keine persönlichen geistigen Schöpfungen darstellen. In diesem Sinne wäre 'Heart On My Sleeve' als Song unter bestimmten Umständen zumindest urheberrechtlich weitgehend einwandfrei und könnte zugleich selbst abgesichert werden, sofern der eigentliche Track denn nachweislich von Menschen geschrieben und produziert wurde. Fake for real, sozusagen.

Es gibt allerdings Bestrebungen, dem Overload von vor allem generativer KI durch gesetzliche Regularien oder den Einsatz neuer Technologie etwas entgegenzusetzen. Nur gestaltet sich auch das schwierig.

"At least I been to a prison, at least I know what it's like"
Oder: Wie die Sache eingedämmt werden könnte

Seit Dienste wie ChatGPT oder Midjourney in ihrer Entwicklung Quantensprünge gemacht haben, wird die Diskussion um die Potenziale und Gefahren von Künstlicher Intelligenz mit mehr Brisanz geführt, haben sich auch zunehmend Regierungen des Themas angenommen.

In China werden entsprechende Services mittlerweile streng kontrolliert und Italien blockierte für eine Weile sogar den Zugang zu ChatGPT. Die Entscheidung wurde allerdings kurz darauf rückgängig gemacht, nachdem sich das dahinterstehende Unternehmen OpenAI bereiterklärte, den Nutzer:innen seine Datenschutzbestimmungen transparent zu machen und die Verwendung erst ab 13 Jahren zuzulassen. Das heißt … zwei Pop-ups? Okay, cool.

Es geht aber auch anders, nur eben sehr viel langsamer. Die Inhalte des sogenannten AI Act der Europäischen Union hat OpenAI-Gründer Sam Altman dermaßen wütend gemacht, dass er damit drohte, seine Produkte vom europäischen Markt abzuziehen, nachdem seine Firma mit umfassenden Lobbyanstrengungen versucht hatte, die darin vorgeschlagenen Auflagen abzumildern. Noch handelt es sich nur um einen Regulierungsvorschlag, der zuletzt sogar weiter verschärft wurde. Die Regeln würden allerdings frühestens in drei Jahren in Kraft treten. Noch muss Altman seine Koffer nicht packen.

Während sich die Legislative weitgehend unfähig und/oder unflexibel zeigt, kommt Bewegung in die Musikindustrie. Die drei Major-Labels Universal Music Group (UMG), Warner Music Group (WMG) und Sony Music befinden sich offensichtlich schon im Dialog mit den Streaming-Plattformen, um ein System zur Entfernung von Tracks aufzubauen, in denen à la 'Heart On My Sleeve' die Persönlichkeitsrechte ihrer Künstler:innen verletzt werden.

Die Streaming-Plattform Deezer behauptet, bald alle von KI generierte Musik entsprechend zu klassifizieren und in der Verteilung der Tantiemen anders zu berücksichtigen als "echte" Musik. Die Firma Believe, der der Digitalvertrieb TuneCore gehört, kündigte sogar selbstbewusst an, über Technologien zu verfügen, die mit "99,9 Prozent Genauigkeit" einen KI-generierten Track von einem menschengemachten unterscheiden können. "Wir zielen darauf ab, keine Inhalte zu vertreiben, die zu 100 Prozent von KI erschaffen wurden", hieß es dazu etwas vage in einem Statement.

In beiden Fällen stellt sich erneut die Frage, wie genau die Grenze zwischen beidem definiert werden soll. Klar, mit einem Generator wie Soundraw erstellte Stücke sind definitiv "KI-Musik" und fallen deshalb zweifelsfrei in die erste dieser beiden Kategorien. Aber was ist mit einem KI-generierten Song, dessen Lyrics ich von ChatGPT habe schreiben und dessen Melodien ich von einem anderen Programm habe komponieren lassen, bevor ich sie selbst eingesungen habe? In einem urheberrechtlichen Sinne hätte ich ihn nicht komponiert, "zu 100 Prozent von KI erschaffen" wäre jedoch zumindest die Aufnahme ebenso wenig. Und wer kann das alles überhaupt nachprüfen?

Vollmundige Ankündigungen wie die von Deezer oder Believe übergehen solche fundamentalen Fragen wohl deshalb, weil sie darauf keine Antworten haben. Womöglich aber ist ihnen die definitorische Trennschärfe im Allgemeinen egal und zählt eine andere Unterscheidung viel mehr. Denn die Musikindustrie ist nicht grundsätzlich gegen KI. Sie hat aus der Causa Napster gelernt und versperrt sich nicht gegen die technologischen Entwicklungen per se, weil sie weiß, dass sie wie vor 20 Jahren nur als Verliererin aus der Sache herausgehen könnte.

Stattdessen wenden sich die Major-Labels, die großen Vertriebe und einige Streaming-Plattformen gegen eben jene KI-Produkte, an denen sie nicht mitverdienen oder die für sie eine Konkurrenz darstellen.

"You know he dropping a single, he saying this is his window"
Oder: Warum aber eigentlich alle mitmachen (wollen)

Dass in der Musikproduktion mit KI gearbeitet wird, ist alles andere als neu. Die "generative Musik" eines Brian Eno war zwar nicht KI-gestützt, kann aber als konzeptueller Vorgänger von KI-Experimenten verstanden werden, wie sie zuletzt unter anderem Holly Herndon oder Mouse On Mars durchgeführt haben. Allgemein haben nicht wenige Produzent:innen mittlerweile vor allem assistive KI in ihren Arbeitsalltag integriert, wie zuletzt auch zwei Umfragen ("Studien" lassen sie sich nicht nennen und sind keinesfalls repräsentativ) nahelegten.

Es werden immer mehr werden, bis eines Tages KI aus der digitalen Musikproduktion ebenso wenig wegzudenken ist wie andere technologische Hilfsmittel. Selbst ein neues, finales Beatles-Album soll bald dank KI veröffentlicht werden und Timbaland produzierte einen neuen Track mit Notorious B.I.G.. Das riecht nach opportunen Cash-Grabs.

Andere gehen die Verwertung von KI-generierter oder mit assistiver KI produzierter Musik systematischer an: Grimes bietet mittlerweile ein KI-Tool an, um ihre Stimme zu emulieren – und fordert 50 Prozent der durch die Ergebnisse eingenommenen Tantiemen. Organisiert wird das übrigens über einen Digitalvertrieb namens TuneCore – exakt derselbe Service also, der sich als Bollwerk gegen eine Flut von KI-generierter Musik inszeniert. Er bildet keine Ausnahme.

Insgesamt wollen die großen Firmen natürlich am Hype mitverdienen. Der TikTok-Betreiber ByteDance, Google, Meta, Microsoft und andere haben mittlerweile KI-Services ausgerollt oder tun das demnächst. Und während ein US-amerikanischer Radiosender den ersten "KI-DJ" vorgestellt hat und in Deutschland BigFM Ähnliches angekündigt hat, lassen sich schon Menschen bei Spotify ihre Musik von dessen "AI DJ" moderieren und sich eventuell bald sogar programmatische Werbung von den KI-Versionen ihrer Lieblings-Podcast-Hosts reinspülen.

Vergleichbares lässt sich bei den großen Playern im Musikbusiness beobachten. UMG mag federführend darin sein, die Verstopfung der Streaming-Plattformen durch von KI generierter Musik zu verhindern, hat aber selbst in eine Firma investiert, die eben das ermöglicht, und zuletzt eine Partnerschaft mit der KI-Mood-Musik Endel angekündigt. Sony Music hat sogar einen Extraposten namens "Vice President of AI" geschaffen. Schätzungsweise wird der sich nicht darum kümmern, händisch die Nachahmungen der Stars aus dem eigenen Stall von Spotify, Deezer und Co. zu entfernen. Sondern darum, mit KI jede Menge Kohle zu machen.

Die Beatles, Biggie, Grimes – das alles sind Testballons, die von den Tech-Firmen und Majors zweifelsfrei mit Interesse verfolgt werden. Wichtig ist ihnen nicht die künstlerische Qualität oder das Schicksal von Musiker:innen an sich. Vielmehr geht es darum, die Weichen für die Absicherung der eigenen Einkünfte beziehungsweise der fortlaufenden Profitmaximierung zu stellen.

"We do things that people pay to document"
Oder: Der große Overload und die geplante Umverteilung

In der vorhergehenden Ausgabe dieser Kolumne ging es darum, dass UMG gemeinsam mit unter anderem Deezer und TIDAL zusammen ein "artist-centric"-Ausschüttungsmodell entwickeln möchte. Spätestens jetzt wird klar, was der Auslöser dafür ist. War noch vor wenigen Monaten die Rede davon, dass durchschnittlich 100.000 neue Songs pro Tag auf den verschiedenen Streaming-Plattformen landen, hat sich die Anzahl laut einem Bericht von Luminate auf mittlerweile 120.000 erhöht. Diese Zahlen sind zweifelsfrei mit Vorsicht zu genießen, werden doch extrem viele Stücke niemals oder nur selten gehört.

Dennoch versuchen natürlich viele Menschen, einen schnellen Taler zu machen, indem sie die Plattformen mit billig produzierter Musik fluten und deren Plays dann auch noch künstlich in die Höhe treiben. Als bekannt wurde, dass mit dem KI-Generator Boomy erstellte Musik von Spotify entfernt wurde, las sich das zuerst wie ein Durchgreifen gegen "zu 100 Prozent von KI erschaffene" Musik. Schnell stellte sich aber heraus, dass es eigentlich um Streaming-Manipulation ging. Denn darin liegt für die Musikindustrie sowie Plattformen wie Spotify das eigentliche Problem: Nicht nur viele Drakes, sondern auch viele Plays sind fake.

Schon seit geraumer Zeit wird das Thema des "Streaming-Betrugs" heiß diskutiert und es bilden sich sogar Zusammenschlüsse zu seiner Bekämpfung. Es sind vor allem die CEOs der Majors, die dabei am lautesten sind. Ihre Kritik zielt immer deutlicher auf das sogenannte Pro-Rata-Modell ab, wie es der Standard für die Ausschüttung von Tantiemen bei den meisten Streaming-Plattformen darstellt. Warum, sollte offensichtlich sein: Je mehr Musik auf den Plattformen ist und je mehr Plays insgesamt auf andere Musik als die ihrige entfällt, desto weniger Geld kommt unterm Strich bei ihnen an. Die Aktie von WMG wurde mit dieser Begründung schon abgewertet. Deshalb der von UMG-CEO Lucian Grainge geplante Vorstoß zu einem "artist-centric"-Modell, das in erster Linie ein Major-Label-centric-Modell werden dürfte.

Es ist nicht so, als kämen dabei nicht potenziell vernünftige Vorschläge herum. Der WMG-CEO Robert Kyncl etwa fordert ein gestaffeltes Ausschüttungsmodell, um von Nutzer:innen selbst initiierte Plays von algorithmischer Ausspielung verschieden zu berechnen, wie auch Deezer es wohl in Erwägung zieht. Das ist einleuchtend: Wenn ich auf Spotify eigenständig das neue Album von Laurent Garnier anschmeiße, sollte dieser Play doch eigentlich mehr zählen als ein Chillout-Ambient-Track, der mir ohne mein Zutun in die Ohren gespült wird.

Nur hätte allerdings Spotify wiederum wohl kein Interesse an einer solchen Staffelung, die organische Plays bevorzugt. So wird etwa die Musik der sogenannten Fake Artists oder "Geistermusiker", wie das kürzlich in der Doku-Serie 'Dirty Little Secrets' vom Bayerischen Rundfunk hieß, aller Wahrscheinlichkeit nach über den Algorithmus ausgespielt und dient aber mutmaßlich der Einsparung von Kosten. Wäre mehr für organische Plays von "echten" Künstler:innen auszuzahlen, würde das in dieser Hinsicht wohl einen Nachteil bedeuten.

Spotify ist allerdings auch ein schlechtes Beispiel, weil dort andere Sachzwänge herrschen als anderswo. Deshalb wohl kollaboriert UMG auch stattdessen mit der Konkurrenz für die Entwicklung und deshalb wohl hat es Gespräche mit SoundCloud aufgenommen, dessen "Fan-Powered Royalties" beziehungsweise "user-centric"-Ausschüttungsmodell am ehesten dem entspricht, was Kyncl fordert. All das bedeutet, dass sich die Musikindustrie im Gesamten keine wirklichen Sorgen um die ethischen oder rechtlichen Implikationen des vermehrten Einsatzes von KI macht und vielmehr die eigenen Kassen im Sinn hat.

Doch was ist eigentlich mit denjenigen, deren Job das Musikmachen ist?

"They will not tear nothing down, I built this home for you, momma"
Oder: Was wir eigentlich verlieren könnten

Die Diskussion über KI wird insbesondere in der Kreativ- und Kulturbranche in einem immer dystopischeren Ton geführt. Wenn die Zivilisation schon nicht endet, werden doch immerhin sehr viele Menschen ihren Job verlieren – so ungefähr lautet der ständige Refrain. Da ist wohl oder übel etwas dran, und das in mehr als nur einer Hinsicht.

KI wird die Branche für Musiktechnologie durcheinanderwürfeln. Wie viele Plugins könnten bald mit einem kurzen Text-Prompt überflüssig gemacht werden? Werden Ableton, Bitwig und Co. gar bald durch simple Interfaces ersetzt – reicht bald das bloße Summen einer Melodie oder die kurze schriftliche Beschreibung eines Rhythmus aus, um einen Track exakt den eigenen Vorstellungen entsprechend in Windeseile fertigzustellen? Das würde für viele Software- und vielleicht sogar Hardware-Firmen das Ende bedeuten und noch mehr Menschen die Arbeit rauben.

Unter den Künstler:innen selbst wird es zuerst diejenigen treffen, die ihr Geld mit Gebrauchsmusik verdienen. Sessionmusiker:innen und die Produzent:innen von Library- und Werbemusik, vielleicht sogar Komponist:innen für Film und Fernsehen müssen wahrscheinlich damit rechnen, in Zukunft weniger Aufträge zu bekommen, weil die Kundschaft denkt, die Sache ließe sich mit einem Prompt genauso gut erledigen. Andererseits: Die TR-808 hat auch nicht alle Schlagzeuger:innen dieser Welt arbeitslos gemacht.

Anders sieht es sowieso bei denjenigen aus, die ihre Arbeit direkt vor einem Publikum ausführen. Ein Fake-Drake-Song kann nur deshalb erfolgreich sein, weil er einen Menschen nachahmt, dem das eigentliche Interesse der Fans gilt. Eventuell werden sie vielleicht zu Lizenzgeber:innen ihrer Stimme oder Persönlichkeit, wie Grimes das bereits vormacht, zu Rentiers ihrer Selbsts. Ob das allerdings wirklich den Menschen als Fetischobjekt in der Breite ersetzen kann? Wohl kaum. Der Vocaloid2-Avatar Hatsune Miku hatte 16 Jahre, um die Drakes und Taylor Swifts aus den Playlists zu verdrängen, hat es aber nicht getan. Selbst virtuelle Stars haben ihre Limits.

Dazu kommt die Frage, inwiefern reine KI-Inhalte von uns tatsächlich wahrgenommen werden. Generative KI ist kaum mehr als ästhetische Wahrscheinlichkeitsrechnung, die nicht ohne Weiteres Kunst vollumfänglich ersetzen wird. Dazu gehört neben der eigentlichen Musik einfach zu viel dazu, seien es happy accidents im Studio oder eben die Menschen dahinter, die Fans als Projektionsfläche dienen. Generative KI könnte sicherlich generische Musik überflüssig machen oder zumindest die Frage aufwerfen, warum und wozu wir generische Musik überhaupt brauchen. Assistive KI indes könnte im selben Zug sogar die künstlerischen Möglichkeiten von Musiker:innen erweitern, wie es angefangen mit der Gitarrenverstärkung bis hin zu Autotune viele andere Technologien getan haben.

Ein Siegeszug von KI würde aber zu einer Restrukturierung der ökonomischen Grundbedingungen für Künstler:innen sorgen, die Grundfeste dafür werden gerade ausgehandelt. Noch gibt es nur Indizien, wie ein "user-centric"-Ausschüttungsmodell aussehen wird und noch sei ein bisschen Hoffnung darauf erlaubt, dass es tatsächlichen allen Musiker:innen zugutekommt. Aber wenn sich Majors mit Streaming-Plattformen zusammentun, um das auszuhandeln, und alle obendrein noch aus dem KI-Hype ihren Profit schlagen wollen, ist das eigentlich unwahrscheinlich.

Denn die Overlords, die das Geschäft steuern, sind keine KI-Dienste, sondern immer noch multinationale Firmen. Wenn die sich die Taschen vollstopfen und dabei die vielen Künstler:innen übervorteilen, die jetzt schon prekär agieren – dann könnten sie in Zukunft umso weniger Ressourcen haben, um tatsächlich interessante Musik zu machen, die keine KI errechnen könnte. Mehr noch als eine Diskussion über die Ersetzbarkeit von Kunst braucht es eine über Alternativen zur Musikindustrie als solche.

Was sonst noch wichtig war

Beatport geht es gut, wie sich einem Porträt der Firma im Branchenmagazin Billboard entnehmen lässt. Der Umsatz sei um mehr als ein Drittel gestiegen, vermeldet das Unternehmen. Merke: Die Leute kaufen wieder mehr digitale Musik. Gute Nachrichten von einer Firma, die ihr Streaming-Modell für DJs nun auch für den CDJ-3000 ausgerollt hat. Laut eigenen Angaben schüttet Beatport übrigens pro Stream 0,01090 US-Dollar aus, was aber nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass genauso viel bei Produzent:innen ankommt. Zusätzlich zum Angebot von Aslice bietet sich damit allerdings für DJs eine weitere Möglichkeit, sie zu unterstützen. Und reicht doch bitte obendrein eure Playlists bei der GEMA ein, ja?

CTS Eventim geht es wieder besser. Das Unternehmen bekam zuerst in der dritten Folge der Mini-Doku-Serie 'Dirty Little Secrets' vom Bayerischen Rundfunk sein Fett weg und wurde nachträglich von Jan Böhmermann abgewatscht, was die Aktie des Quasi-Monopolisten auf dem Live-Sektor in den Keller rasseln ließ. Mittlerweile aber scheint sie sich zu erholen. Das Kapital interessiert sich eben herzlich wenig für jedwede noch so berechtigte Kritik an halsabschneiderischen Gebühren und fraglichen Verwicklungen mit staatlichen Geldtöpfen. Spannend ist es vor diesem Hintergrund, in die USA zu schauen, wo das De-facto-Monopol von Live Nation beziehungsweise Ticketmaster und fragwürdige Praktiken wie versteckte Gebühren oder die sogenannte dynamische Preisfestsetzung mittlerweile vermehrt von der Gesetzgebung aufgegriffen werden. Finde ich viel besser als jede Böhmermann-Folge.

Die Festivalkrise ist im vollen Gange. Zuletzt wurden etwa die Festivals TH!NK? und Jubeljahre sowie sogar das vom Londoner Club fabric ausgerichtete Exodus abgesagt. Laut einer Umfrage der LiveKomm, dem Verband der Musikspielstätten in Deutschland, sieht sich ein Drittel der 57 befragten Open-Air-Festivals als gefährdet. Inflation plus Kostensteigerungen, Material- und Personalmangel sowie andere Probleme wie schleppender Vorverkauf machen ihnen zu schaffen. Der Markt für Mega-Festivals konsolidiert sich mittlerweile: Superstruct hat gleich drei internationale Festivalmarken, darunter das österreichische Snowbombing, aufgekauft. Bald dann also nur noch Mega-Raves für Gutbetuchte, cool.

Die Gender Pay Gap existiert auch in der ach-so-progressiven Musikindustrie, wie ein Report der MusicWeek mit Kennzahlen vom britischen Markt ergab, nachdem der Landesmusikrat NRW im März bereits ähnliche Zahlen für Deutschland vermeldet hatte. Dass insgesamt auch hinter den Kulissen weniger Frauen arbeiten, unterstrich die Studie "Fix the Mix".

Das Geschäft mit Dance Music fährt viel Geld ein, wie die neue Ausgabe des IMS Business Report ergab. Der im Rahmen der Branchenkonferenz International Music Summit (IMS) vorgestellte Bericht beziffert das Marktvolumen auf stolze 11,3 Milliarden US-Dollar. Das Geld geht aber wohl eher an Tech-Firmen und große Festival-Brands als an kleinere Akteur:innen, wie der Bericht ebenso verdeutlichte: Nur 20 Prozent der Künstler:innen können von ihrer Musik leben, hieß es darin auch. Laut einer repräsentativen Studie des Deutschen Musikinformationszentrums (miz) in Kooperation mit dem Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) ist übrigens nur ein gutes Drittel der Berufsmusiker:innen in Deutschland hauptberuflich musikalisch tätig.

Der Markt für Musiktechnologie ist nach einer starken Pandemiezeit in die Krise gerutscht. Und wo sich eine Krise findet, da ist das Risikokapital bekanntlich nicht weit. Benn Jordan nimmt in einem knapp 22-minütigen Video auseinander, in welchem Kontext unter anderem der Kauf von Moog durch inMusic sowie die letzten Nachrichten aus dem Hause Native Instruments und einige andere Bewegungen auf dem Markt zu betrachten sind.

Musikrechte bleiben ein beliebtes Spekulationsobjekt. Mittlerweile hat der Run auf Kataloge – also den vollständigen oder anteiligen Rechten an der Verwertung von Musikaufnahmen oder den zugrundeliegenden Kompositionen und anderem – auch die Welt der Dance Music erreicht: Das von Armin van Buuren mitbegründete Label Armada Music hat mit Best Ever Acquired Tracks (BEAT) eine Investmentfirma mit satten 100 Millionen US-Dollar Startkapital ins Leben gerufen. Zuerst war der gesamte Katalog des Labels King Street Sounds dran, das nun auch ins Armada-Imperium eingereiht wird. Neben zahlreichen anderen solcher Meldungen aus allen Ecken der Musikwelt wird auch darüber getuschelt, dass UMG angeblich eine volle Milliarde für den Katalog von Queen auf den Tisch legen will. Die rasende Konsolidierung dieses Marktes beziehungsweise die zunehmende Finanzialisierung von (alter) Musik insgesamt wirkt sich kulturell aus, wie Jayson Greene bei Pitchfork analysiert: Es geht nachgerade in die Nostalgiefalle.

Patreon erlaubt in Zukunft Gratis-Mitgliedschaften und den Verkauf von Einzelbeiträgen wie etwa Videoinhalten oder Podcast-Folgen. Das Prinzip dahinter ist simpel: Eine größere Gefolgschaft aufbauen und zusätzlich zu den laufenden Einnahmen aus Abos noch ein paar Euros mehr verdienen, wann immer diese Gefolgschaft sich besonders für etwas interessiert. Das erhöht natürlich den Druck, entsprechenden Content zu produzieren, was wiederum Patreon bei der Stärkung und dem Ausbau seiner Marktposition zugutekommen wird, weil damit alle Seiten umso enger an die Plattform gebunden werden. Ich nenne das den Bandcamp-Friday-Ansatz.

Snoop Dogg unterstützt den weiterhin andauernden Streik der Writers Guild of America (WGA) und fordert die Musikwelt zum Boykott von Audio-Streaming-Plattformen auf. Das hat nicht unbedingt Nachrichtenwert, ich wollte diesen Satz aber unbedingt aufgeschrieben haben.

SoundCloud hat seine Belegschaft um acht Prozent reduziert, die bereits zweite Kündigungswelle innerhalb nur eines Jahres. Immerhin konnte sich das Berliner Unternehmen mit dem Merlin Network, der Rechtevertretung vieler Independent-Labels im digitalen Umfeld und auf diesem Markt die viertgrößte Institution nach den Majors, über einen Lizenzvertrag zur Teilnahme an den sogenannten "Fan-powered royalties" einigen. Laut einer Studie von Pro Musik führt dieses auch als "user-centric" bekannte Ausschüttungsmodell auf SoundCloud übrigens zu einer deutlichen Umverteilung im Vergleich zum Pro-Rata-Modell. Wer viele verschiedene Menschen erreicht, die sonst wenig andere Artists hören und obendrein noch viel für ihr Abo zahlen, kommt am meisten herum.

Spotify hat im vergangenen Jahr gut eine Million US-Dollar für seine Lobby-Anstrengungen in Europa ausgegeben. Das hat leider nicht verhindert, dass Daniel Eks Unternehmen ausgerechnet im Heimatland Schweden mehr als fünfmal so viel Geld als Strafe für Verstöße gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zahlen musste. Und den Bayerischen Rundfunk hat es auch nicht davon abgehalten, die zweifelhaften Praktiken der Firma in zwei Folgen der Doku-Serie 'Dirty Little Secrets' zu beleuchten. Schon seit langem haben Podcasts absolute Priorität bei Spotify, doch wurden in diesem Segment erneut 200 Stellen gestrichen, die Strategie geändert und sogar … Schockschwerenot, die Zusammenarbeit mit Meghan Markle und Prince Harry eingestellt. Ziel ist es offensichtlich, Geld einzusparen und überdies noch mehr über Werbung einzunehmen, etwa durch ein neues Feature namens "Broadcast-to-Podcast". Auch anderswo werden die Sparmaßnahmen immer offensichtlicher, selbst die eigenen Büros werden untervermietet, eine vor über zehn Jahren gekaufte Digital Audio Workstation (DAW) an deren Gründungsteam zurückverkauft sowie die Features Heardle und Spotify Live eingestellt. Zudem mehren sich Gerüchte um ein zusätzliches Abomodell. "Supremium" soll für mehr Geld das bieten, was bei vielen anderen Streaming-Plattformen mittlerweile der Standard ist: Hi-Fi-Sound. Klingt alles verzweifelt, nach schlechten Nachrichten? Keine Sorge, dem Unternehmen geht es eigentlich blendend, wie die letzten Quartalszahlen, Abozugewinne und nicht zuletzt eine fröhlich nach oben bouncende Aktie bewiesen.

TikTok steht immer in der Kritik und sieht sich immer mehr Repressionen ausgesetzt. Dass die von der chinesischen Firma ByteDance betriebene App mittlerweile zugegeben hat, die Daten von sogenannten Creators im eigenen Land gespeichert zu haben, derweil sie in Großbritannien wegen des Missbrauchs der Daten von Kindern zu einer hohen Geldstrafe verdonnert wurde, könnte das nur verschärfen. Unsere sensiblen Informationen wollen wir schließlich nur Unternehmen und Regierungen aus dem Westen anvertrauen, dabei ist ja noch nie etwas schiefgegangen. Spaß (?) beiseite: Im US-Bundesstaat Montana zieht TikTok mittlerweile gegen ein Verbot der App in einen Proxy-Gerichtsstreit, derweil in Vietnam ein Verbot diskutiert und in Australien der Ton rauer wird. Musik spielt natürlich weiterhin eine zentrale Rolle in der Strategie von TikTok, wo zuletzt mit Streaming-Links zu Apple Music experimentiert wurde und die Ausweitung des #NewMusic-Hashtags auf der Plattform lanciert wurde. Die K-Pop-Superstars BTS haben der Sache ihr Gesicht geliehen und ihre letzte Single vor dem eigentlichen Release über TikTok vorveröffentlicht. Das wird die Konkurrenz – in dem Fall Spotify und Co. – nicht freuen. Insbesondere, weil mit TikTok Music nun ein eigener Streaming-Dienst ausgerollt wird. Der ist zuerst nur in Indonesien und Brasilien erhältlich, die Expansion in andere Märkte wird aber sicherlich folgen. Sie wird den internationalen Streaming-Markt auf den Kopf stellen.

Twitter wird auf eine Viertelmilliarde US-Dollar verklagt. Die Klageschrift der 17 beteiligten US-amerikanischen Musikverleger ist in einem rauen Ton verfasst und spricht von Hunderttausenden von Urheberrechtsverstößen in Bezug auf 1.700 verschiedene Kompositionen. Während Elon Musk also die Plattform als solche gerade in den Boden rammt, will die Musikwelt endlich Tantiemen von einer Firma, die schon vor seiner Zeit keine gezahlt hat. Bei DLF Kultur hatte ich die Vermutung geäußert, dass die Klage als Drohgebärde zu verstehen sei und einen für Twitter unschönen Präzedenzfall schaffen könnte. Wenn es das Unternehmen denn noch gibt, sobald die Sache erstmal gerichtsreif ist, heißt das.

Veröffentlicht in Allgemein und getaggt mit assistive KI , ByteDance , ChatGPT , Copyright , CTS Eventim , Dirty Little Secrets , Drake , drayk.it , Gender Pay Gap , generative KI , google , Heart On My Sleeve , KI , Meta , Metro Boomin , Microsoft , Midjourney , Patreon , Quartalsbericht , Sony Music , Soundcloud , spotify , streaming , The Weeknd , TikTok , TuneCore , Universal Music Group , Warner Music Group

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