Bruchstelle: Weißes Rauschen und die Streamingwirtschaft – Wenig Lärm um viel Geld

Bruchstelle: Weißes Rauschen und die Streamingwirtschaft – Wenig Lärm um viel Geld

Features. 6. November 2023 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Auditive Schlaftabletten wie weißes Rauschen, Regenplätschern und andere Nicht-Musik erfreuen sich auf den Streamingdiensten großer Beliebtheit. Das ist der Musikindustrie schon seit langem ein Dorn im Auge – und wird nun als Vorwand genutzt, um das Geschäft mit dem Streaming zu reformieren. Nach Deezer hat mit Spotify nun auch der Marktführer angekündigt, sein Ausschüttungsmodell ändern zu wollen. So künstlerfreundlich wie lautstark kolportiert sind beide aber nicht.

Wenn auf dem Dancefloor weißes Rauschen zu hören ist, setzt in der Regel anschließend die Kick wieder ein und bricht sich Euphorie ihre Bahn. Anderswo ist es hingegen zu hören, wenn sich Menschen in meditative Zustände versetzen oder gar in den Schlaf lullen wollen. Im Streaming-Umfeld ist der Begriff des weißen Rauschens über die Jahre hinweg zu einem Synonym für ein ganzes Spektrum an Nicht-Musik geworden: Regenplätschern, Urwaldgeräusche, Meeresklänge oder reines Rauschen in verschiedenen Farbschattierungen von pink bis braun. Verwendet wird dergleichen etwa von Tinnitus-Betroffenen, aber auch von einer großen Anzahl von Hörer:innen, die damit etwa das Kleinkind oder gleich sich selbst sedieren wollen. Es ist paradox: Weil die Welt zu laut scheint, drehen zunehmend mehr Menschen den Sound auf, um für Ruhe zu sorgen.

Dem Konsumterror des digitalen Zeitalters wird also mit zusätzlichem Konsum begegnet. Und das nicht zu knapp. Ein kurzer Blick auf Spotify belegt das. Dort finden sich reihenweise ‘Künstler:innen’ mit suchmaschinenoptimierten Namen wie White Noise Radiance oder Regengeräusche. Der erste dieser beiden Accounts hat über eine halbe Million monatlicher Hörer:innen, die beiden meistgehörten Stücke des zweiten kommen auf insgesamt eine knappe Viertelmilliarde Plays. Dazu gesellen sich Podcasts, zu denen keine derartigen Statistiken vorliegen, die sich aber offenkundig ebenfalls großer Beliebtheit erfreuen: Der Calming White Noise Podcast etwa bietet unter andere, ‘Cozy Cabin Thunderstorm (8 Hours) | Heavy Rain & Crackling Fire For Sleeping’ an und wurde von über 4.000 Menschen mit durchschnittlich 4,6 Sternen bewertet.

Wie White-Noise-Podcasts Spotify Geld aus der Tasche ziehen (oder besser: zogen)

Wo Konsum mit Konsum bekämpft wird, kann Geld gemacht werden. Viel Geld. Die Podcasts mit weißem Rauschen jeglicher Couleur werden laut einem intern bei Spotify zirkulierenden Dokument mittlerweile drei Millionen Stunden lang pro Tag gehört. Das wäre per se nicht weiter schlimm, wenn es die Firma von Daniel Ek nicht einiges kosten würde. Schon im Sommer letzten Jahres schätzte Ashley Carman in einem Artikel für Bloomberg, dass die Betreiber:innen von einzelnen White-Noise-Podcasts bis zu 18.000 US-Dollar im Monat generieren könnten – und dass es Spotify selbst ist, das die Zeche zahlt. Einige Hochrechnungen gingen im Gesamten von Erträgen im mittleren zweistelligen Millionenbereich aus.

Anders als für all das, was im Musiksegment von Spotify angeboten wird, schüttet das Unternehmen für Podcasts keine Tantiemen aus. Wer dort Podcasts platziert, kann aber über zwischengeschaltete Werbung Einnahmen generieren – zum Beispiel das Spotify-eigene Programm Ambassador Ads, mit dem auf das Podcasting-Angebot der Plattform verwiesen wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Spotify ausgerechnet durch ein hochgradig defizitäres Geschäft noch mehr Geld verliert, indem es dieses aggressiv bewirbt – und zwar just mittels Inhalten, die ihr Publikum buchstäblich in den Schlaf wiegen sollen. Vorsichtig formuliert: Zielführendes Marketing sieht anders aus.

Es handelt sich also, nachdem Spotify in der vergangenen Zeit verstärkt das hauseigene Podcast-Segment ausbaute und in diesem Zuge im Jahr 2019 das Podcasting-Programm Anchor kaufte, um ein buchstäblich hausgemachtes Problem. Das wurde als solches auch erkannt und angegangen: Zuerst löschte das Unternehmen Berichten zufolge einzelne solcher Podcast-Folgen oder schränkte die Reichweite bestimmter Podcasts ein, seit Anfang Oktober haben außerdem zumindest einige der White-Noise-Podcasts keinen Anspruch mehr auf die Teilnahme am Ambassador-Ads-Programm.

Damit hat das Unternehmen, das in diesem Jahr eine ganze Reihe von Kündigungen vornahm sowie in über 50 Ländern die Abo-Beiträge anhob und auch sonst alles daran setzt, wirtschaftlich möglichst effizient zu agieren – ganze 30 Mal verwendeten CEO Ek und CFO Paul Vogel das Wort ‘efficiency’ laut The-Verge-Kolumnistin Ariel Shapiro vor Kurzem während einer Konferenz – schätzungsweise immense Kosten eingespart. Der Zeitpunkt war günstig: Für das zurückliegende Quartal meldete Spotify erstmals schwarze Zahlen und die Aktionär:innen des börsennotierten Unternehmens freute es (zumindest kurzfristig), die Perspektiven wirken erfreulich.

Das ist schön für Ek und seine Firma, schöner jedoch geht es immer. Deshalb hat Spotify nunmehr zum kommenden Jahreswechsel die Einführung eines neuen Ausschüttungsmodells angekündigt, wie es schon seit geraumer Zeit diskutiert wird. Zuletzt wurde ein solches von Deezer in Zusammenarbeit mit der Universal Music Group (UMG) in Frankreich eingeführt, eventuell könnte Apple Music bald nachziehen. Die Modelle sind unterschiedlich, die Argumentation aber identisch: Durch sie soll – angeblich zumindest – das White-Noise-Problem endlich auch im Musiksegment gelöst werden.

Wie weißes Rauschen im Musiksegment das Ausschüttungsmodell von Spotify ausnutzt

Was hat die Reform der Zahlungsmodalitäten mit weißem Rauschen zu tun? Ganz einfach: Die Einführung des sogenannten ‘artist-centric’-Modell reagiert zumindest vordergründig auf die Überschwemmung der Plattformen mit dergleichen auditiven Schlaftabletten. Diese nämlich nutzen einerseits die Dynamiken der algorithmisch organisierten Dienste und andererseits das herkömmliche Ausschüttungsmodell aus.

Während das Geschäft mit dem weißen Rauschen im Podcast-Segment darauf setzt, in überlangen Podcast-Folgen möglichst viele Werbeeinblendungen zu platzieren, verfolgen die ‘Künstler:innen’ hinter den White-Noise-Accounts auf Spotify eine dem fast diametral entgegengesetzte Strategie: Die einzelnen Stücke sind selten länger als anderthalb Minuten, die veröffentlichten ‘Alben’ bestehen in der Regel aus Dutzenden von Stücken und werden von zahlreichen händisch oder automatisch generierten Playlists flankiert, die als zusätzlicher Container für schnell wegstreambare Einzelstücke dienen. Es wird also auf Masse und nicht auf Dauer gesetzt.

Diese Strategie nutzt das bisher standardmäßige Pro-Rata-Modell aus. Das ist vergleichsweise simpel: Während Spotify gut ein Drittel der aus den Aboeinnahmen generierten Erträge einstreicht, kommt das restliche Geld in einen Topf und wird – deshalb der Name – anteilig auf alle Rechteinhaber:innen an den Musikaufzeichnungen verteilt. (Gelder für die Komponist:innen der Stücke werden separat ausgeschüttet.) Gehen wir beispielhaft davon aus, dass in einem Ausschüttungszeitraum zehn Prozent des gesamten Streamingaufkommens auf das neue Album von Taylor Swift entfällt: Die Rechteinhaber:innen an den Aufnahmen, das heißt Swift und ihr Label Republic Records (gehört zu UMG), erhalten zehn Prozent der gesammelten Gelder.

So weit, so einleuchtend, so problematisch. Das Prinzip, dass pro Play ausgeschüttet wird, belohnt potenziell kurze Stücke mehr als lange. Deshalb auch ist der vormals dreieinhalbminütige Popsong im Laufe des letzten Jahrzehnts merklich zusammengeschmolzen: Je kürzer ein Stück, desto häufiger kann er innerhalb eines bestimmten Zeitraums in Schleife gehört werden und generiert damit mehr Umsatz, weil er einen höheren Anteil am Gesamtstreamingaufkommen bekommt. Und wer sich je gefragt, warum die Alben von Drake bisweilen über 20 Stücke enthalten: Auch das sorgt dafür, dass er und sein Label (neben OVO Sound ist das übrigens, genau, Republic Records von UMG) ein größeres Stück vom Kuchen abzwacken können.

Die Produzent:innen von sogenannten weißem Rauschen spielen dasselbe Spiel: Je mehr sich von diesen auditiven Schlaftablettchen auf der Plattform befinden, desto größer kann am Zahltag ihr Anteil werden. Insbesondere dann, wenn sie über Klickfarmen die Plays zusätzlich künstlich in die Höhe treiben lassen, wie es mutmaßlich systemisch geschieht – zuletzt etwa im Falle der Firma Boomy, deren Plays von Nutzer:innen per generativer KI produzierten Uploads manipuliert wurden. Laut einer in Frankreich auf Spotify, Deezer und Qobuz durchgeführten Studie beläuft sich der Anteil von Fake-Streams am Gesamtaufkommen zwischen einem und drei Prozent, die Dunkelziffer könnte höher liegen.

Wer übrigens hinter dem Geschäft mit dem weißen Rauschen und/oder den Fake-Streams steckt, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Hier und dort handelt es sich sicherlich um Einzelpersonen, die ein lukratives Geschäftsmodell für sich nutzen wollen. In der Breite ist aber von einem gewissen Organisationsgrad auszugehen. Wer indes mittels der Angabe der verantwortlichen Labels auf Spotify nachrecherchieren möchte, bewegt sich schnell im Kreis: Die Suche nach Firmen mit mal malerischen, mal sehr prosaischen Namen wie ‘Innertropische Zone’ oder ‘Baby Sleep White Noise Clinic’ führt in der Regel höchstens auf andere Streamingplattformen. Darüber hinaus ist nichts über die White-Noise-Generatoren herauszufinden.

Handelt es sich gar um einen weiteren Fall von ‘Geistermusik’, wie es in der BR-Dokuserie ‘Dirty Little Secrets’ genannt wurde? Gemeint ist damit das unter dem Namen ‘Fake Artists’ seit mehreren Jahren immer wieder diskutierte Phänomen, dass sich insbesondere auf Spotify haufenweise anonyme, Playlist-optimierte Musikstücke finden, die in der Breite Milliarden von Streams generieren. Die auf allerhand Indizien basierende Annahme: Spotify selbst gibt die Produktion dieser Musik gegen einen einmaligen Obolus in Auftrag, priorisiert die Stücke in der algorithmischen Playlist-Platzierung und spart dadurch Geld, dass dank Pro-Rata-Verteilung am Ende des Monats ein gewisser Anteil der Tantiemen nicht an externe Rechteinhaber:innen gehen muss. 

Das Unternehmen dementierte diese Vorwürfe als ‘kategorisch unwahr’ und obwohl Branchenkenner:innen es für möglich halten, dass das Unternehmen zumindest zu Teilen hinter der Überfülle an weißem Rauschen steckt: Belege gibt es dafür bisher nicht. Nunmehr setzt es sich auch dagegen ein, nachdem die Musikindustrie monatelangen extremen Druck ausgeübt hat.

Wie weißes Rauschen als Argument für eine Reform verwendet wird

Seit knapp einem Jahr wird das weiße Rauschen auf den Streamingplattformen anzitiert, wann immer eine Reform des gesamten Markts gefordert wird. Schon ab Ende 2022 wiederholten Musikindustriegrößen wie der CEO von UMG, Lucian Grainge, immer wieder dieselbe Zahl: 100.000 neue Stücke würden pro Tag auf die Streamingplattformen geladen. Die Argumentation: Bei nicht unerheblichen Anteilen davon würde es sich um weißes Rauschen handeln, dessen Plays zusätzlich durch Streamingmanipulation künstlich in die Höhe getrieben würde.

Im Januar dieses Jahres kündigte Grainge in einer internen Memo an, dass UMG an einem neuen Ausschüttungsmodell arbeite, welches das Pro-Rata-System ersetzen und damit das Problem mit dem weißen Rauschen beseitigen solle. Bald darauf wurde öffentlich, dass seine Firma zur Ausarbeitung des ‘artist-centric’ getauften Modells mit TIDAL zusammenarbeitete, etwas später wurde Deezer als weitere Partnerplattform genannt.

Letztlich machte die französische Plattform zuerst das Rennen und lancierte das neue Modell in eingeschränktem Maße Anfang Oktober auf der eigenen Plattform. Die Reaktionen darauf fielen gemischt aus: UMG, dessen Labels und Künstler:innen hier tatsächlich im Zentrum stehen, freute sich natürlich. Im Indie-Teil der Musikindustrie reichte die Meinungsbandbreite von Wohlwollen über eine allgemeine Diversifizierung des Marktes bis hin zu harscher Kritik. Das alles ist in den gleichen Maßen verständlich. Dass sich etwas tut, ist überfällig. Doch natürlich wird ein im Verbund zwischen Plattform und Musikkonzern entwickeltes Konzept in erster Linie diesen beiden Unternehmen zugutekommen und könnten andere das Nachsehen haben. 

Deezer legt nunmehr eine Klasse von ‘professionellen Künster:innen’ fest, die über eine Unterschwelle definiert werden: Mindestens 1.000 monatliche Plays von mindestens 500 verschiedenen Accounts braucht es, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Das lohnt sich doppelt und im Einzelfall sogar vierfach: Deezer bleibt grundlegend beim Pro-Rata-Modell, doch wird ein jeder Play für die Musik von ‘professionellen Künstler:innen’ doppelt gezählt, vierfach sogar, wenn die Nutzer:innen intentional mit dem Stück interagieren, das heißt etwa, es direkt anklicken.

Damit kann eine vermutlich nur sehr spitze Gruppe von Rechteinhaber:innen aus dem neuen System profitieren. Deezer ist ein sehr kleiner Streamingdienst mit weniger als 10 Millionen Abonnent:innen, Monat für Monat nur 500 von denen zu zwei oder mehr Plays zu bewegen, gestaltet sich insbesondere für unbekanntere Künstler:innen schwieriger als es das auf Spotify mit seinen rund 226 Millionen zahlenden Abonnent:innen täte. Das Resultat: Im Kern übervorteilt das System wie durch Zauberhand vor allem bereits bekannte und dauerhaft populäre Stars, wie sie bei UMG über den Labels der Firma sowie größeren Indies unter Vertrag sind – und benachteiligt damit die meisten anderen Künstler:innen inklusive derer Labels.

Nur logisch, dass das nicht allen gefällt. Immerhin aber wird weißes Rauschen von Deezer im selben Zuge völlig aus der Gleichung gestrichen und nicht mehr remuneriert: Sogenannter ‘non-artist noise’ wird von der Verteilung der Gelder in Zukunft ausgenommen.

Welche Fragen das neue System von Deezer aufwirft

Die Formulierung ‘non-artist noise’ ist bemerkenswert, weil sie gleichermaßen selbsterklärend wirkt und doch philosophisch-ästhetische Fragen aufwirft. ‘Noise’ hat im Englischen eine schöne Doppelbedeutung. Negativ gewendet ist damit Lärm gemeint, das heißt Störgeräusche – der Krach, mit dem die schiere Überfülle von weißem Rauschen die heile Welt der Streamingdienste überzieht. Neutraler gesprochen wird damit zum Ausdruck gebracht, dass es sich um Geräusche handelt, die von echter Musik irgendwie verschieden sind. Was aber unterscheidet ‘non-artist noise’ in dieser Auffassung von Musique concrète oder gar Harsh Noise Wall? Wie genau wird der Unterschied zwischen bloßem Regenplätschern und den Field Recordings einer preisgekrönten Ikone seines Metiers, Chris Watson, definiert?

Diese eigentlich brenzlige Frage – denn wer darf mit welcher Autorität nach welchen Kriterien bestimmen, was Kunst ist und was nicht? – wird nur vermeintlich elegant beantwortet: Demonetarisiert wird alles, was ‘non-artist’ ist, das heißt hinter dem kein:e Künstler:in steht. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Einschränkung mit der endgültigen Etablierung von rein mittels generativer KI erzeugter Musik zusammenfällt. Auf welcher definitorischen Grundlage aber wird bestimmt, wer als Künstler:in gilt und wer (oder was) nicht? Was etwa schützt unter Pseudonym agierende Field-Recordings-, Ambient- und Noise-Künstler:innen davor, dasselbe Schicksal zu ereilen? Mittels welcher bürokratischen oder technischen Lösungen wird es ermittelt? Das wird (noch) nirgendwo gesagt.

Die Einführung des neuen Systems verdeutlichte letztlich, dass das Problem des weißen Rauschens wohl ebenso vorgeschoben war wie die vermeintliche Sorge um die Künstler:innen. Profitieren werden aller Voraussicht nach die Majors, während die Plattformen an Ausgaben sparen könnten. Es gewinnen also mal wieder die großen Fische, die kleinen könnten den Nachteil haben: Das neue Modell erlaubt eine Umverteilung von unten nach oben. 

Und bei Spotify, das zu Beginn des kommenden Jahres ebenfalls ein neues Ausschüttungsmodell einführen wird, könnte für einige von ihnen bald gar kein Geld mehr für sie zu holen sein. Oder aber werden sie künstlich dazu angestachelt, dem Unternehmen zusätzliches Geld in den Rachen zu schmeißen.

Wie das neue Modell von Spotify selten gestreamte Musik demonetarisiert

Schon seit Jahren fordern verschiedene Akteur:innen aus der Musikbranche, dass Spotify endlich seine Zahlungsmodalitäten reformiert. Ende Oktober kam dann die Gewissheit: Spotify wird zwar wie Deezer prinzipiell am Pro-Rata-Modell festhalten, ab Anfang nächsten Jahres aber neue Unterschwellen für Plays und neue Mindestlaufzeiten für ‘noise’ einführen sowie Fälle von Streamingmanipulation härter ahnden als zuvor. Auch das zielt dem Anschein nach auf die Bekämpfung von ‘non-artist noise’ und dem dahinterstehenden Geschäft ab, könnte aber auch menschengemachte Musik entwerten. Drei Neuerungen führt Spotify im Rahmen der Änderungen ein, wobei noch nicht deutlich gesagt wurde, ob diese auf allen Märkten gleichzeitig zu greifen beginnen werden. 

Zuerst wird eine Untergrenze für den Anspruch auf Auszahlungen eingeführt. Eine genaue Zahl wurde dafür bisher nicht genannt, der Music-Business-Worldwide-Chefredakteur Tim Ingham zitiert aber anonyme Quellen, laut derer die Untergrenze bei 1.000 Plays pro Jahr, das heißt zwischen 83 und 84 Plays pro Monat liegt. Ansonsten gibt es schlicht: nichts. Weder für die Rechteinhaber:innen an der Aufnahme der Musik, noch für Eigentümer:innen der Komposition – zumindest klingt es erstmal so. Ist das überhaupt rechtens? Es könnte zumindest ein paar auf Leistungsschutz- und Urheberrecht spezialisierte Anwaltskanzleien auf den Plan rufen. Allerdings dürfte sich Spotify gegen jeglichen Einspruch gut abgesichert haben.

So oder so: Das Ganze wird kleineren Künstler:innen, egal ob sie bei Indie-Labels unter Vertrag sind oder ihre Musik selbst vertreiben, Sorgen bereiten. Zwar versichert Spotify, dass weiterhin für 99,5 Prozent aller Tracks, für die aktuell Geld ausgeschüttet wird, weiterhin Tantiemen fließen würden. Dennoch könnte in Zukunft statt minimaler Kleckerbeträge zumindest für einige ihrer Musikstücke gar nichts mehr abfallen. Wenn die Jahresuntergrenze tatsächlich bei 1.000 Plays liegt, dann handelt es sich bei mehreren Songs vielleicht doch in der Summe um ein paar Euro pro Jahr. Einen großen Unterschied machen die in der Gesamtheit vielleicht nicht – aber etwas zu bekommen ist besser als, na ja, nichts.

Auch ließe sich meinen, dass die Einführung einer Untergrenze richtig und wichtig ist, um Musik aus der Gleichung zu streichen, die aus guten Gründen unpopulär ist. Da jedoch weiterhin pro Play abgespielt wird und nicht etwa nach Laufzeit, könnten durchaus beliebte Künstler:innen mit längeren Stücken endgültig das Nachsehen haben. Nehmen wir die Band The Necks als Beispiel: Ihre Konzerte sind in der Regel ausverkauft, die Fanbase ist überdurchschnittlich treu und die Presse überschlägt sich regelmäßig mit Lobpreisungen. In über einem Vierteljahrhundert hat das australische Trio zahlreiche Alben veröffentlicht, die Plattenverkäufe laufen dem Vernehmen nach ordentlich.

Im Streaming-Umfeld haben The Necks aber das Nachsehen. Nur in seltenen Fällen sind ihre Improv-Kompositionen kürzer als eine Viertelstunde, die meisten ihrer Alben gar bestehen aus einem einzigen Stück mit bis zu einer knappen Stunde Laufzeit. Das macht es unwahrscheinlich, dass sie – und die Labels, mit denen sie zusammenarbeiten – nach dem neuen Modell am Jahresende mit allen ihrer Alben am Ende des Jahres Geld verdienen, obwohl Fans mit einzelnen von ihnen dutzende Stunden verbracht haben. Selber schuld, ließe sich meinen. Aber was ist die Alternative – Musik, die sich den geltenden wirtschaftlichen Sachzwängen anpasst? Das wäre eine Verarmung der ganz anderen Art.

Wie Spotify dem Geschäft mit dem weißen Rauschen einen Riegel vorschieben will

Spotify möchte allein durch diese Maßnahme rund 40 Millionen US-Dollar einsparen und das Geld aber nicht behalten, sondern umverteilen. Weil das Pro-Rata-Modell beibehalten wird, dürfte das Gros dieser Gelder allerdings weiterhin an die üblichen Verdächtigen gehen – die Major-Labels und die Superstars des Streaming-Zeitalters. Während die dazugewinnen, müssen andere sich eventuell auf Sanktionen einstellen: Spotify will in Fällen von Streaming-Manipulation die Tracks mit künstlich aufgeblasenen Plays nicht mehr nur aus seinem Katalog entfernen wie zuvor, sondern den zuständigen Vertrieben eine Geldstrafe aufbrummen.

Das wirkt erstmal sinnig: White Noise oder bestimmte Formen von Musik, darunter auch solche mittels generativer KI produzierte, werden mittlerweile sogar zur organisierten Geldwäsche verwendet. Insgesamt lässt sich durchaus argumentieren, dass im Rahmen des Pro-Rata-Modells jede künstliche Erhöhung von Plays einen wirtschaftlichen Schaden für alle anderen Ausschüttungsberechtigten darstellt. Das zu unterbinden, ist sicherlich richtig. Vielleicht bieten Geldstrafen dafür den richtigen Hebel. Nur stellt sich die Frage, ob sie auch immer die Richtigen treffen werden.

Die Vertriebe, die einerseits sehr gerne daran mitverdienen, dass mittlerweile pro Tag sogar über 120.000 Tracks egal welcher Qualität auf die Plattformen gepumpt werden, freut die Meldung sicherlich nicht. Auch weil sie keinen Einfluss darauf nehmen können, welche der von ihnen für Spotify angelieferten Tracks auf welche Art dort gestreamt wird. Nicht nur weißes Rauschen oder KI-generierte Lo-Fi-Beats, sondern auch die Musik von ‘echten’ übereifrigen Jungkünstler:innen könnte zum Ziel von Streaming-Manipulation werden – sogar ohne deren Wissen und Zutun. Das wirft die Frage auf, ob die Verantwortung dafür nicht eher bei der Firma liegen sollte, auf deren Plattform all das geschieht.

Zuletzt wird eine Untergrenze für die Laufzeit von ‘noise’, das heißt wohl weißes Rauschen oder Ähnliches, eingeführt. Welche Form von Lärm beziehungsweise Geräuschen das mit einschließt, das lässt Spotify noch offener als Deezer und beendet zugleich anders als der französische Dienst die Monetarisierung dieser Inhalte nicht komplett. Zuvor fand eine Ausschüttung automatisch ab einer halben Minute Spielzeit statt, egal, was in dem entsprechenden Stück nun zu hören war und wie viel Arbeit hineinging. Das ändert sich nun.

Wieder wurde keine konkrete Zahl genannt, doch liegt der Vorteil dieser Maßnahme auf der Hand: Indem White-Noise-Produzent:innen in Zukunft gezwungen werden, längere Stücke anzubieten, verringern sich perspektivisch ihre Anteile am Gesamtstreamingaufkommen und also ihre Einnahmen. So wird das Geschäft mit dem weißen Rauschen zunehmend unattraktiver. Womit wir wieder am Anfang angekommen wären: Geht es letztlich nicht darum, potenziell betrügerische Praktiken zu unterbinden?

Was das neue Modell Spotify bringen könnte

Es ist bemerkenswert, dass Spotify sich in seinem Kampf gegen das große weiße Rauschen verhaltener zeigt als der kleine Konkurrent Deezer und es nicht komplett demonetarisiert. Das könnte Wasser auf die Mühlen derjenigen gießen, die analog zum Phänomen der sogenannten Fake Artists die Plattform selbst von dem Geschäft profitieren sehen. Die Firma allerdings verspricht auch, pro Jahr eine satte Milliarde US-Dollar mehr als zuvor an ‘echte Künstler:innen’ auszuzahlen – wobei damit vor allem die sowieso schon beliebten gemeint sind, deren Labels – das heißt die Majors und letztlich also Konzerne wie UMG – an der Sache mitverdienen werden. Und letztlich macht Spotify auch keineswegs neue Gelder locker, sondern verteilt nur ein bisschen um.

Was aber ist mit den kleinen Fischen, die über Spotify weiterhin zumindest ein paar Euros pro Jahr abgreifen oder gar gleich an den angeblich neu zur Verfügung stehenden Milliarde mitverdienen wollen? Ihnen bietet das Unternehmen seit geraumer Zeit – und natürlich sehr uneigennützig – an, ihre Streamingzahlen auf völlig legale Art und Weise zu manipulieren: Mit Marquee und Discovery Mode sowie dem kürzlich neu dazu gestoßenen Feature Showcase können sie im Austausch gegen geringere Tantiemenzahlungen oder hartes Cash ihre Musik noch breiter auf der Plattform bewerben – und damit potenziell für Kosteneinsparungen oder sogar Mehreinnahmen für das Unternehmen sorgen. Was ein Zufall aber auch.

Das Geschäft mit dem weißen Rauschen und die damit immer auch einhergehende Manipulation von Streamingzahlen stellen zweifelsfrei ein nicht unerhebliches Problem dar. Bei einem genauen Blick auf die von Deezer eingeführten und von Spotify angekündigten Änderungen ihrer Ausschüttungsmodalitäten sieht es jedoch – wenig überraschend – nicht so aus, als sollten die zum Wohle aller reformiert werden. Die Nutznießenden finden sich in den Chefetagen von Firmen wie UMG und den Plattformen selbst. So künstlerzentriert wie behauptet sind die ‘artistic-centric’-Modelle keineswegs.

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