Bruchstelle: Algorithmisch gesteuertes Musik-Streaming – kritische Betrachtung

Bruchstelle: Algorithmisch gesteuertes Musik-Streaming – kritische Betrachtung

Features. 24. November 2019 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Killen Algorithmen bald die musikalische Vielfalt? Das denken nicht wenige. Das entscheidende Problem ist allerdings ein anderes. Denn die Zukunft wird nicht langweiliger, sondern nur noch dystopischer.

Algorithmen sind das große Reizthema unserer Zeit – nach wie vor. Denn das Gespenst der Automatisierung spukt durch alle Lebensbereiche, während uns die Welt zunehmend auf den Leib geschneidert wird. Das hat zweifelsohne auch seine Vorteile. Von der Google-Autovervollständigung angefangen bis hin zu den automatischen Empfehlungen von Netflix, Spotify und Amazon: Neue Kulturprodukte aufzustöbern wird immer bequemer. Doch der User-zentrierte und algorithmisch gesteuerte Ansatz von Spotify und anderen wird vor allem von Artists und DJs nicht gut aufgenommen. So etwa Sebastian Devaud alias Agoria. In einem „Real Talk“-Feature des Online-Magazins XLR8R schreibt der französische Produzent, DJ und Labelbetreiber über die „Gefahren der algorithmisch gesteuerten Musikkuration“.

Das klingt dramatisch. Doch wie sehen diese Gefahren aus? Vor allem befürchtet Devaud eine zunehmende Konformität der Musikproduktion. „Wir bekommen immer mehr von dem, was bei uns genau dieselben Knöpfchen drückt wie das, was wir uns zuvor angehört haben“, erklärt er seinen Standpunkt. „Mehr von dem, was wir mögen, oder zumindest mehr von dem, von dem der Algorithmus denkt, wir würden es mögen. Ist das wirklich eine Entdeckung?“ KünstlerInnen, deren Musik nicht in ein einfaches Schema passen, verlören darüber mehr und mehr ihr Publikum. Das Resultat wäre Devaud zufolge ein homogener Strom von immergleicher Musik ein schwammiger Albtraum. Nein, wirkliche Entdeckungen wären so definitiv nicht möglich.

Doch Devaud irrt in einem entscheidenden Punkt. Es entspricht zwar den Tatsachen, dass nicht wenige ProduzentInnen mittlerweile Tracks produzieren, die nach gewissen Standards funktionieren, welche sich auf Streaming-Plattformen bewährt haben. In immer mehr Pop- und Rap-Songs setzt der Refrain durchschnittlich früher ein, damit das Publikum auf Streaming-Plattformen nicht sofort unmotiviert weiterklickt.  Es hat sich darüber sogar ein ganzer Sound etabliert, der von der Kritik mittlerweile als „Spotify-Core“ oder „Streambait Pop“ bezeichnet wird.

Doch die Annahme, dass es in irgendeiner Weise das Ziel von Spotify und Co. sein könnte, den UserInnen lediglich „mehr vom Gleichen“ zu servieren, ist zumindest in ästhetischer Hinsicht völlig falsch. Denn wer das Immergleiche vorgesetzt bekommt, langweilt sich schnell. Und wer sich bei einem Service langweilt, wird schnell auf einen anderen ausweichen. Ökonomisch betrachtet würde es sich also nicht lohnen, wenn der Algorithmus dem Publikum immer und immer mehr Musik zupumpt, welche die gleichen Knöpfchen drückt wie die vorige.

Willkommen im Überwachungskapitalismus!

Das eigentliche Kernproblem von algorithmisch gesteuertem Streaming sieht anders und noch gravierender aus. Das Grundproblem liegt in der Logik des sogenannten Plattformkapitalismus im Allgemeinen, von Uber bis Netflix. Denn die verkaufen keine Produkte an ihr Publikum, sondern die Daten ihres Publikums an Dritte, die daraus perfekte kleine Konsumentenprofile basteln können. Spotify nämlich verfolgt ein sogenanntes „Freemium“-Modell: Etwas mehr als die Hälfte der – laut Spotifys Angaben – 250 Millionen monatlich aktiven UserInnen nutzt den Service kostenfrei unter der Bedingung, dass hin und wieder Werbung ausgespielt wird. Grundlage für das Targeting der Werbung sind eben jene Daten zum Userverhalten, das die Plattform sammelt und zwar auch von AbonnentInnen.

„Spotifys vorherrschende Klassifizierung als Tech-Unternehmen ist ein bisschen undurchsichtig, denn das Unternehmen ist – und das von Beginn an – in einem Geschäft, bei dem einem Publikum Content angeboten wird, während dieses Publikum an Werbetreibende weiterverkauft wird“, argumentiert eine Gruppe schwedischer WissenschaftlerInnen in ihrer Langzeitstudie Spotify Teardown, die sich das Geschäftsmodell und die Praktiken des Unternehmens über mehrere Jahre sehr genau angeschaut hat. Sie bezeichnen die Firma sogar als „digitalen Broker“, als Börsenmaklerin. Spotifys „Produkt“ ist dieser Argumentation zufolge nicht die Musik – ihr Produkt bist du, genauer: die Daten zu dir und deinem Verhalten.

Warum aber das alles? Warum verkauft Spotify unsere Daten? Ganz einfach: Weil die Plattform ein Problem hat. Je mehr Musik auf der Plattform gehört wird, desto mehr Geld muss es in Form von Lizenzgebühren abgeben. Je mehr Abos also abgeschlossen werden, desto mehr muss Spotify draufzahlen. Ein Teufelskreis, der die Akquise von Einnahmen aus den Werbegelder umso wichtiger werden lässt.

Es ist zugleich ein faustischer Pakt, den wir als Musikfans mit Plattformen wie Spotify eingehen: Ihr bekommt meine Datenseele versprochen, ich darf ohne Einschränkungen Mensch sein und muss all meine Vorlieben erst gar nicht artikulieren, um das passende Angebot serviert zu bekommen. Der plattformeigene Algorithmus weiß, was ich als nächstes hören oder sehen will und wenn ich nicht für den Service bezahle, dann bekomme ich eben hin und wieder einen Werbeeinspieler. Okay. Aber das ist doch ein fairer Deal! Oder? Was kann schon schiefgehen?

Einiges. In ihrem bahnbrechenden Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus geht die Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff so weit, zu behaupten, dass Unternehmen wie Facebook und Google sich schon lange nicht mehr damit begnügen, ihren UserInnen nur noch reine Daten abzuknöpfen. Stattdessen würden sie sich aktiv daran machen, deren Verhalten mittlerweile selbst zu kontrollieren. Zuboffs Behauptung mag zuerst alarmistisch klingen. Doch gibt es mannigfaltige Beispiele, mit denen sie ihre Argumentation untermauern kann. Facebook beispielsweise geriet immer wieder in die Kritik, weil es „psychologische Experimente“ auf der Plattform laufen ließ. Vom emotionalen Zustand hin bis zum Wahlverhalten: Facebook gelang es, Menschen in ihren Entscheidungen zu steuern. Warum sollte Spotify, warum sollten all die anderen Streaming-Dienste nicht dasselbe versuchen?

Gerade hinsichtlich Musik ist Konsum eine stark emotional gesteuerte Angelegenheit. Nehmen wir an, du hast gerade eine Trennung hinter dich gebracht: Dein Hörverhalten spiegelt das vermutlich wider, die Streaming-Plattform registriert das und teilt es anderen mit – schließlich hast du ihren AGBs zugestimmt, die ihr das erlaubt. Diese dritten Parteien können dann versuchen, im genau richtigen Moment an den Triggerpunkten in deinem Innersten zu rühren, damit du zum Beispiel auf deinem – mit Spotify verbundenen – Facebook-Account eine Werbung angezeigt bekommst, die dich zum Kauf animiert. Du wirst vielleicht abwinken und sagen, dass du nicht so leicht zu steuern bist. Aber dasselbe hätten vermutlich die tausenden Menschen gesagt, die im Rahmen von Facebook-Experimenten in ihrem Wahlverhalten beeinflusst wurden.

Fake Artists und echte Gefühle

Innerhalb des Geschäftsmodells von Spotify scheint es allerdings nicht allein sinnig, die Werbeeinnahmen zu optimieren. Sondern sogar, MusikerInnen aus der unrentablen Gleichung herauszustreichen. Und da sind wir beim hauptsächlichen Problem für Artists angekommen, das Devaud in seiner Kritik an algorithmischgesteuerten Streaming-Services nicht einbezieht. Die Bedrohung besteht nämlich nicht allein für KünstlerInnen, die randständige und unkonventionelle Musik machen – sondern schlicht für alle.

Spotify hat potenziell ein Interesse daran, weniger in das Lockprodukt Musik zu investieren, um mehr Gewinne aus seinem Abogeschäft und noch mehr an den Datenverkäufen an Dritte zu verdienen. Die einzige logische Konsequenz daraus wäre, das Publikum dahingehend zu manipulieren, dass es die von der Plattform selbst bereitgestellte Musik hört. Die muss dabei nicht einmal homogen und langweilig klingen das darf sie ja überhaupt gar nicht. Sie wäre höchstens etwas gesichtslos. Aber wem fällt schon beim Durchhören einer Playlist auf, dass KünstlerIn XY ein völlig unbekannter Name ist? Eben, kaum jemandem.

Als vor geraumer Zeit auf Spotify sogenannte „Fake Artists“ auftauchten, von denen nie zuvor jemand etwas gehört hatte und die dank prominenter Playlist-Positionierungen über Nacht mehrere Millionen Plays für sich verzeichnen konnten, ging ein Raunen durch die Musikwelt. Sehr echte MusikerInnen machten sich Sorgen darum, dass ihre Kunst von Fakes verdrängt wird. Spotify streitet natürlich ab, die Musik von den gesichtslosen Namen selbst über die Plattform verstreut zu haben. Aber es käme Daniel Eks Firma extrem zugute, wenn dem so wäre.

Denn sollte hypothetisch gesprochen jemand eine Komposition an Spotify verkaufen, die dann anstelle anderer Musik gestreamt würde, könnten die laufenden Gebühren an die RechteinhaberInnen zunehmend wegfallen. (Noch) Weniger Geld für ehrliche KünstlerInnen, mehr Einnahmen für die Plattform. Und weil Spotify auf einem riesigen Haufen Big Data darüber sitzt, welche Musik uns wie bewegt, ließe sich selbst die Komposition vermutlich gänzlich auf künstliche Intelligenz auslagern.

Dass diese Form von Musik aber sicherlich keine ästhetische Herausforderung darstellen würde, ist allemal richtig. Denn sie würde ja nicht mit dem Zweck produziert, künstlerische Aussagen zu tätigen. Sondern in erster Linie im richtigen Moment die richtigen Knöpfe in unserem Inneren zu drücken, durch fake artists echte Gefühle anzutriggern. Eine Zukunft, in der jeder Track sich wie der andere anhört, steht uns also nicht bevor. Doch ist es wahrscheinlich, dass das Kommende umso dystopischer klingen wird. Denn in der Dynamik des Überwachungskapitalismus werden immer mehr die KünstlerInnen aus der Gleichung gestrichen, weil sie bestenfalls eine laufende Mehrausgabe darstellen. Genau jene Menschen also, die der Musik einen Mehrwert mitgeben, der sich (aktuell noch) nicht ohne Weiteres technisch emulieren lässt.

Das Problem daran sind allerdings nicht die Algorithmen, die wie jede Technologie zuerst neutral und letztlich erst in den falschen Händen ein Problem sind, sondern überwachungskapitalistische Unternehmen, die damit herumhantieren. Mit dem alleinigen Ziel, uns Dinge zu verkaufen, die wirklich überhaupt nichts mit Kunst zu tun haben.

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