Bruchstelle: Die Disneylandisierung elektronischer Musik
© YouTube/Cercle

Bruchstelle: Die Disneylandisierung elektronischer Musik

Features. 22. Februar 2021 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Christoph Benkeser

2021 beginnt mit einem Ausflug in die Berge. Man muss sich dafür keine Bretter an die Füße schnallen, in keinen Sessellift zwängen, und nicht einmal eine Jacke anziehen, sondern einfach nur den Laptop aufklappen. Wer sich auf YouTube rumtreibt und den eigenen Algorithmus zerschossen hat, bekommt dort neben Deutschrap-Beef und alten Interviews von Thom Yorke auch mal ein DJ-Set in die Recommendations gespült. Sofern man sich für elektronische Musik interessiert, ist das nichts Ungewöhnliches in einer Zeit, in der alle aus ihren Wohnzimmern streamen. Was auffällt: Immer mehr Live-Sets finden nicht im Rahmen einer Boiler-Room-artigen Club-Umgebung statt, sondern vor gotischen Kirchen, in kroatischen Nationalparks, auf schwimmenden Inseln – oder neben irgendeinem Gipfelkreuz, 2500 Meter über dem Meeresspiegel.

Man sieht zum Beispiel, wie Nina Kraviz sich statt Kopfhörern die Pudelmütze überstreift. Hinter ihr strahlen die Schweizer Alpen. Postkartenkulisse. Traum in Weiß. Schnitt. Eine Drohne hebt ab und fliegt über eine verschneite Bergkuppe. Kraviz wird am Bildschirm zu einem kleinen Punkt, verschwindet kurz. Schnitt: Daumen und Zeigefinger drehen am Mischpult, das in einem schicken Vollholz-Pult verbaut ist. Die Drohne kreist einsam über den Bergen. Im Bild laufen Hygiene-Hinweise durch wie bei einer Dauerwerbesendung. Daneben: Musik, die man fast überhören könnte, wenn man sieht, wo die DJ zu Neujahr aufgelegt hat. Im Rahmen eines Festivals im schweizerischen Alpenort Verbier. Als Live-Session im Netz.

Natürlich sind Ort und DJ austauschbar – Acid Pauli oder Recondite haben vor wenigen Wochen Sets am Dachsteiner Gletscher in Österreich gespielt –, was gleich bleibt, ist die Ästhetik. Ein DJ-Pult an einem Flecken dieser Welt, bei dem die Instagram-Community vor Freude mit dem Popsocket klappert. Soll heißen: DJs legen nicht mehr in abgefuckten Heizungskellern, poshen Galerien oder – huch – Clubs auf. Diese Ordnung, diese Verortung in der Dunkelheit, im „Underground“, ist längst vorbei. Ein Ort, ein Bauwerk und ein „Moment“ nach dem anderen wird zum „Boiler Room“. Der Club als Rückzugsraum und Ausbruchsort verwandelt sich in eine Bühne über Wasser und Wolken. Aber welches Bild will elektronische Musik damit vermitteln?

Wir schaffen den Dancefloor ab

Der Club hat zwar nicht ausgedient, aber seine Funktionen wurden abgelöst. Ein Ort, der ein Abtauchen ermöglichte; der Möglichkeiten schuf und den Alltag zurückdrängte, implodiert, indem er sich nach außen stülpt, zum Außen wird und die inklusive Exklusion als exklusive Inklusion verkauft: Der Club landet in der Öffentlichkeit, wo Drohnenkameras mit 4k-Videos jedes Event zu einem „einzigartigen Moment“ verpacken. Ein Unternehmen, das diesen Trend zwar nicht erfunden, aber längst zum eigenen Geschäftsmodell gemacht hat, ist Cercle.

Über 1,3 Millionen Menschen folgen der Livestreaming-Plattform auf Facebook, manche Videos klicken bis zu 30 Millionen Mal. Wer sich auf die Homepage von Cercle verirrt, glaubt sich entweder in einem Reisekatalog oder dem Insta-Channel von Backpacking-Influencer*innen wiederzufinden. Für die Firma gehe es um den „perfekten Moment“, eine „unique experience“ und die Aufgabe, „kulturelle Wahrzeichen durch das Prisma elektronischer Musik“ zu präsentieren. Deshalb legt Ben Böhmer schon mal in einem Heißluftballon über Anatolien und Sébastian Léger vor den ägyptischen Pyramiden auf.

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Galt vor gar nicht langer Zeit das puritanische Gebot „no photos on the dancefloor“, dreht Cercle diese Tugend einfach um und schafft dabei auch gleich noch den Dancefloor selbst ab: Kameras müssen durchgehend aufnehmen, weil Sichtbarkeit zur einzig wahren Währung, zu einem Kriterium des richtigen Feierns, des richtigen Raves, ja, des richtigen Lebens wird. Allerdings geht es nicht wie bei Raves, wo Leute nur ihre Smartphones in die Höhe strecken, um maximale Sichtbarkeit, sondern um das sichtbare Maximale: Jedes Event ist „unique“, „gigantisch“ oder „einfach legendär“ – eine ständige Reizüberflutung an Farben, Formen und Follikeln eines Videos, das immer die eine perfekte „Geschichte zwischen der Location und dem DJ“ erzählen soll, wie Cercle-Eigentümer Derek Barbolla betont. Dass „the sky“ nur vorübergehend „the limit“ ist, weiß Barbolla selbst. Irgendwann, so sein Traum, soll ein DJ auf dem Mond auflegen. Vor einer Kamera. Ohne Ironie.

Wie Cercle den perfekten Moment inszeniert

Klickt man auf eines der Cercle-Videos, ist man automatisch und plötzlich Teil des Ganzen, man ist „drinnen“, weil es kein „außen“ mehr gibt. Man kann das als demokratiepolitische Bereicherung auslegen – oder als Kommerzialisierung einer Subkultur, die einst Grenzen aufziehen musste, um die gesellschaftliche Ausgrenzung vor sich selbst abzugrenzen. Die „harte Tür“, jene nicht ohne Grund als Zwischenraum installierte Sicherheitsmaßnahme vor Clubs, die manche passieren lässt und andere ausschließt, legitimiert sich durch die Wahrung des „Drinnenseins“. Wer drinnen ist, fühlt sich mitverantwortlich für das Gelingen einer Clubnacht.

Wer draußen bleibt, kann dieses Gelingen zwar nicht mehr mittragen, aber auch nicht zerstören. Wären alle „maximal drinnen“ und gäbe es kein „minimales Außen“ mehr, würde sich nicht nur die Gemengelage verändern, sondern auch die Stimmung – weil alles immer noch sichtbarer wird. Statt eines Events bleibt nur austauschbares Hintergrundrauschen übrig, das sich als Event inszeniert – oder als „Cercle-Moment“ dazu stilisiert.

Die Inszenierung des „perfekten Moments“, in der Wüste, am Meer oder auf dem Eiffelturm, bedarf keiner „harten Tür“. Im Gegenteil: Die Tür wird aus den Angeln gerissen, verbreitert, zu einem Durchgang umfunktioniert, vor dem man sich nicht mehr stundenlang die Beine in den Bauch stehen muss, um auf die Gnade des Bouncers zu hoffen. Eine „Tür“, die im Weg steht, um reinzukommen, wäre ein unerwünschtes Hindernis auf dem Weg zur „einzigartigen Erfahrung“.

Denn die Leute sollen zuschauen. Das vermeintliche Event definiert sich nur über die Anzahl der Menschen, die daran teilnehmen. Das mag – wie im Fall von Cercle – mit der Freude an der Musik und ein paar Leuten im Wohnzimmer gestartet sein, ist mittlerweile aber längst zum Ausdruck einer kommerzialisierten Clubkultur geworden, die manche unter dem Begriff „Business Techno“ fassen. Man nimmt teil, indem man reinklickt, blickt man nicht nur auf weichgezeichnete Postkartenidyllen, sondern wird selbst Teil einer Brand-Experience.

Die virtuelle Realität ist real

„Wir sind an der Realität interessiert und wollen die Wirklichkeit der Welt herzeigen“, sagt Cercle-CEO Barbolla auf die Frage, ob der nächste Schritt seiner Firma nicht in die virtuelle Realität führen müsste. Man muss Baudrillard nicht studiert und von Simulationstheorie noch nie etwas gehört haben, um zu checken, dass der Mann entweder mit alternativen Fakten hantiert oder längst in der eigenen, parallelen Wirklichkeit aufgegangen ist. Natürlich ist Cercle an keiner virtuellen Realität interessiert, die man sich mit einer klobigen Brille um den Kopf schnallt, um sie erleben zu können.

Schließlich ist die Plattform bereits selbst zur virtuellen Realität geworden, die als Angebot einer Konstruktion von Wirklichkeit funktioniert. Cercle verkauft kein Produkt, vermittelt aber einen Lifestyle über die angebotene Ästhetik: Mit DJs an tolle Orte jetten, Kamera aufstellen und Instagram-Filter drüberbasteln, voilà: 15 Millionen Klicks und die Entpolitisierung von Techno in geilen HD-Videos eingefangen – aber hey, echt geile Vibes und so!

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Interessant ist dabei nicht, dass es nicht mehr ausreicht, wenn ein DJ USB-Sticks einstöpselt und zwei Stunden vor der Kamera an einem Mischpult rumdreht – es muss mehr sein, weil es nicht mehr um das Set, sondern um die Inszenierung des Settings geht. Interessant ist eher, dass die positiven Vibes, die aus den weltgewordenen Wandtapeten sprudeln, eine Realness vortäuschen, die es gar nicht gibt. Das erkennt man auch daran, dass ein Cercle-Moment nie beendet ist. Er dehnt sich aus, bleibt „da“ und verschwindet doch. Dieses Verschwinden begann mit Boiler-Room-Sets, die Mitte der 2010er-Jahre zu Memes wurden und inzwischen ihre logische Mutation in DJ-Sets am Eiffelturm oder vor den ägyptischen Pyramiden finden.

In beiden Fällen entsteht ein Archiv, das als Gradmesser der Gegenwart die Vergangenheit der elektronischen Musik speichert, aber gleichzeitig den wichtigsten Teil eines Moments verhindert: jenen des Erinnerns, weil alles vergessen wurde – oder werden sollte. Der Cercle-Moment dehnt sich bis zur Überschreibung mit dem nächsten Cercle-Moment aus. Man speichert ihn nur, um ihn zu vergessen. Schließlich steht jeder „einzigartige Moment“ in Konkurrenz zu einem nächsten, größeren und „noch einzigartigeren“.

Wenn Derek Barbolla davon träumt, irgendwann ein DJ-Set auf dem Mond zu veranstalten, muss man ihn so ernst nehmen wie Tweets von Elon Musk. Das mag für manche verrückt klingen und für andere nach einer Drohung. Aber wie abwegig ist die Vorstellung, dass ein DJ im Raumanzug zum Mond düst, um dort ein paar Beats ins Weltall zu pumpen, wirklich? Die Disneylandisierung elektronischer Musik verlangt danach. Ihre Kommerzialisierung durch den visuellen Expansionsdrang hat den Club längst hinter sich gelassen. Irgendwann, so darf man annehmen, fliegen wir wieder zum Mond. Und dann? In Zukunft wird man zu Hause Pillen einwerfen, um mit einer virtuellen Crowd zu feiern. Musik kommt von DJs, die mittels künstlicher Intelligenz längst nur noch als Avatare auftreten.

CDJs, die dank tausender Stunden Archivmaterial jeden Song und seine Übergänge kennen, lassen Algorithmen lernen, wie ein „perfektes“ Set funktioniert. Das Techno-Erlebnis wird automatisiert. Zum Raven bleibt man zu Hause. Das Smartphone misst den Puls, checkt die Stimmung und wird sie in die Vorstellung von Gefühlen übersetzen. Man wird auf einem virtuellen Dancefloor landen, auf dem es möglich sein wird, verschiedene Party-Pakete für verschiedene Preisklassen zu wählen, um in der Masse aufzugehen, die „unique experience“ zu erleben, „einzigartig“ zu sein.

Die Videos von Cercle sind weder Anfang noch Ende dieses Prozesses. Ob man sich das Vierviertelgeplätscher vor Alpenpanorama oder auf der schwimmenden Insel im Pazifik reinzieht, hängt heute zwar noch von deren Suche nach „der perfekten Geschichte zwischen DJ und Location“ ab. Doch sobald die Welt vermessen und der letzte Winkel erschlossen ist, wird diese Entscheidung nur noch auf Basis unserer Stimmung und ihrer Optimierung gefällt. Während man sie schon heute immer stärker beeinflussen kann, bleiben Ort und DJ austauschbare Variablen, die liefern, was von ihnen erwartet wird. Am Ende zählt nur das Bild, seine Ästhetik und der Vibe. Auf 3000 Metern Seehöhe, vor den Pyramiden oder am Mond. Hauptsache in Full-HD.

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