Bruchstelle – Warum "Kannst du von Streams leben?" die falsche Frage ist

Bruchstelle – Warum "Kannst du von Streams leben?" die falsche Frage ist

Features. 13. Juni 2023 | 4,4 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Eine neue Doku-Serie des Bayerischen Rundfunks deckt die 'Dirty Little Secrets' der Musikbranche auf und nimmt dabei Spotify in den Fokus. Gut recherchiert, allgemein verständlich und kritisch: So wie diese Reihe könnten gerne alle Produktionen der Öffentlich-Rechtlichen sein. Nur sollte die grundlegende Frage eine andere sein, schreibt Kristoffer Cornils.

Wenn mich jemand fragt, womit ich eigentlich mein Geld verdiene, sage ich: Musikjournalist. Meistens schiebe ich hinterher, dass ich überwiegend über wirtschaftliche Themen schreibe. Und weil auch das meistens mit einer hochgezogenen Augenbraue quittiert wird, füge ich noch hinzu: Spotify und so, weißt du? Wissen sie dann, weil die meisten die Plattform nutzen und aber auch von der Kritik am Unternehmen gehört haben. "Die zahlen so schlecht, ne?", ist eine häufig gestellte Frage. Ja, sage ich dann. Schon. Aber die Sache ist sehr komplex.

Seit Erscheinen der Doku-Serie 'Dirty Little Secrets' werden mir solche Gespräche leichter fallen. Denn obwohl der penetrant flippig-kumpelige Tonfall dieser Produktion des Bayerischen Rundfunks nervt: Allein die zwei der drei Folgen, die sich Spotifys Lizenzabkommen mit den Major-Labels und dem bereits seit dem Jahr 2017 immer wieder diskutierten Phänomen der sogenannten Fake Artists widmen, sind sehr gut geworden.

Dahinter steckt eine gründliche Recherche, die für ein Publikum ohne größeres Vorwissen verständlich aufgearbeitet wird und dennoch sehr nuanciert ist. Die ihrem Gegenstand gerecht wird und überdies mit der dritten Folge, die dem Quasi-Monopol von CTS Eventim über den deutschen Konzertmarkt gewidmet ist, ein noch breiteres Bild zeichnet. Es ist das einer Musikindustrie, die von großen Unternehmen für große Unternehmen aufgebaut oder aber aufgekauft wurde und nur zu deren Vorteil funktioniert – während kleinere und auf eigene Faust aktive Künstler:innen in die Röhre gucken müssen.

Mittels dieser Serie können die nun ihren Fans viel besser vermitteln, was sie am System stört und weshalb genau sie spätestens zur #Wrapped-Saison schäumende Tweets über das schwedische Unternehmen verfassen. Und vielleicht können einige sogar selbst etwas Neues lernen. Es ist schon lange her, dass mich eine Produktion der Öffentlich-Rechtlichen dermaßen wohlwollend gestimmt hat.

Als ich sie über meine Social-Media-Kanäle empfahl, regte sich dennoch Widerspruch. "Diese Idee, dass jeder von Spotify leben können müsste, ist wirklich schlimm auszuhalten gewesen", schrieb mir ein Bekannter mit jahrzehntelanger Erfahrung im Musikgeschäft. Der Kommentar bezog sich auf eine Szene in der Dokumentation, in welcher ein halbes Dutzend Musiker:innen an einem runden Tisch im Berliner Club Gretchen sitzt. Die Künstlerin Balbina stellt ihnen dieselbe Frage: "Kannst du von Streams leben?" Die Antwort ist immer dieselbe: "Nein."

Die Frage wird im Kontext von Streaming so oft gestellt, dass ich die gesamte Szene kaum beachtet habe. Der kritische Einwand dagegen ist aber berechtigt. Denn die dahinterstehende Idee halte ich ebenfalls für Quatsch. Und bin dafür, dass wir gänzlich andere Fragen stellen.

Das Monopol über das Leben

Die Musikwirtschaft ist eine Welt der Mischkalkulationen. Der im Rahmen von 'Dirty Little Secrets' vorgestellte Komponist etwa, der sich mit Playlist-optimierter Klimpermusik den Lebensunterhalt primär dank Streaming bestreiten kann, stellt eine Ausnahme dar. Nicht zuletzt deshalb, weil Musiker:innen über Plattformen wie Bandcamp, Beatport und andere Online-Angebote, über die sich digitale Musik, Tonträger und anderes anbieten lassen, ebenfalls Einnahmen generieren können. Und hoffentlich obendrein noch bei der GEMA registriert sind, um mit der Verwendung ihrer Musik Geld zu machen.

Sowieso greifen bei den meisten anderen verschiedene Tätigkeiten und Einnahmequellen ineinander. Die überwiegende Mehrheit der House- und Techno-Produzent:innen etwa legt zusätzlich auf. Nicht wenige betreiben außerdem ein Label oder organisieren Partys. Manche geben Masterclasses zum Thema Musikproduktion, andere bieten Mixing- und Mastering-Dienstleistungen an und mehr als häufig haben sie einen ganz regulären Teil- oder gar Vollzeitjob, der überhaupt nichts mit Musik zu tun hat.

Ähnlich sieht es in anderen Genres aus. Pop, Rock und Hip-Hop: Dort läuft viel über Konzerte und Merchandising oder gänzlich andere Geschäfte. Das ist natürlich nicht unbedingt gutzuheißen: In bestimmten Zeiten war es für einigermaßen erfolgreiche Künstler:innen noch möglich, allein von ihren Alben den Lebensunterhalt zu bestreiten – das heißt, ihrer Kunst an sich. Und nicht irgendwelchen dazugehörigen Produkten oder ihrer Live-Darbietung, von der sie – das verdeutlicht der dritte Teil von 'Dirty Little Secrets' – ebenfalls nicht immer viel verdienen.

Im Guten wie im Schlechten haben sich also die Einnahmequellen über die Jahrzehnte hinweg diversifiziert und verbreitert. Egal also, ob am Monatsende Millionen oder Kleckerbeträge auf dem Kontoauszug stehen: Dahinter steht in der Regel ein komplexes Patchwork verschiedener Einnahmequellen. Das macht es kompliziert, sich über Wasser zu halten, ist aber in anderer Hinsicht gut so. Zum einen, weil das den Künstler:innen zumindest in der Theorie erlaubt, ihr Publikum auf viele verschiedene Arten zu erreichen und damit Geld zu verdienen.

Zum anderen ist die Abhängigkeit von nur einer einzigen Plattform oder Firma für Selbstständige immer riskant. Denken wir an die Millionen von Songs, die einst von MySpace verschwanden. Oder an OnlyFans, das auf äußeren Druck hin beschloss, keine pornografischen Inhalte mehr zuzulassen. Solche Beispiele gibt es allerhand. Manche scheinen irrelevant, manche gingen glimpflich aus. Sie alle aber beweisen, wie schnell die Zugänge zu Inhalten oder eben auch Einnahmen gekappt werden können.

Wer seinen Lebensunterhalt nur über eine Plattform verdient, gibt ihr das Monopol über das eigene Leben und erhält im Gegenzug keinerlei Garantien. Den Lebensunterhalt nur mit Streaming bestreiten zu können, scheint in dieser Hinsicht überhaupt nicht erstrebenswert. Wer möchte schon der Willkür eines Unternehmens wie Spotify ausgeliefert sein?

Das Monopol über die Vorstellungskraft

Nun drückt die Gretchenfrage Balbinas an ihre Kolleg:innen aber aus, dass sich die meisten eben schon Spotify ausgeliefert fühlen. Unrecht haben sie damit ja nicht. Über eine halbe Milliarde Menschen nutzen es pro Monat als Streaming-Plattform, die Anzahl der Premium-Abos hat sich nach Angaben des Unternehmens mittlerweile auf 210 Millionen vergrößert. Tendenz steigend.

Bei Spotify ist dementsprechend das größte Publikum überhaupt zu erreichen und sind somit viele Fans zu gewinnen. Und die wollen ja vielleicht nicht nur die Musik streamen, sondern auch Konzerte besuchen, Merch kaufen oder andere Dinge tun, die zum großen Einnahmen-Mischmasch beitragen könnten. Das stellt automatisch eine Abhängigkeit her. Spotify nutzt diese Macht immer mehr aus, wie die Einführung von Features wie Marquee oder Discovery Mode belegt.

Dass über Spotify im Direktvergleich mit anderen Plattformen herzlich wenig – im Schnitt kaum mehr als 0,003 Euro pro Stream – bei den Interpret:innen ankommt, wirkt da natürlich umso perfider. Deswegen die Rufe nach einer Anhebung der Abo-Preise und höheren Ausschüttungen oder einer Ablöse des Pro-Rata-Modells zugunsten eines sogenannten nutzerzentrierten Modells, wie es SoundCloud eingeführt hat: Gefordert wird immer wieder, dass mehr Geld in den Topf kommt und dass aus diesem heraus gerechter verteilt wird.

Es ist unwahrscheinlich, dass Spotify diesen Forderungen Gehör schenken wird. Und ohne dieses Unternehmen verteidigen zu wollen: Ausschließlich auf seinem Mist ist das alles nicht gewachsen. 'Dirty Little Secrets' verdeutlicht nämlich anschaulich, dass Spotify sich all das nicht alleine ausgedacht hat. Die Major-Labels waren daran auch beteiligt. Und deshalb ist die Sache komplexer, als sie nach außen hin scheint.

Die grundlegende Wahrheit lautet: Die Musikindustrie wurde ursprünglich von den Major-Labels aufgebaut, die dementsprechend die Regeln aufstellten. Und als Tech-Unternehmen wie Spotify dazustießen, legten sie gemeinsam mit den Majors neue Regeln fest. Damals wie heute waren diese Regeln überhaupt nicht darauf ausgelegt, kleineren und selbstständig aktiven Künstler:innen wie einer Balbina über Streaming den Lebensunterhalt zu garantieren. Selbst ihre eigenen Artists benachteiligen diese Labels ja, wie ein im Jahr 2015 geleakter Lizenzvertrag zwischen Spotify und Sony bewies.

Weil sich das Publikum aber immer mehr dem Streaming zuwandte, konnten sie ihre Marktmacht zentralisieren und zementieren. In Deutschland werden fast 75 Prozent aller Einnahmen aus dem Geschäft mit Musikaufzeichnung durch Streaming generiert. Es wird noch mehr werden. Spotify wurde so als größte Streaming-Plattform in den Augen der Welt zum sichtbarsten Symptom eines ausbeuterischen Systems. Für viele steht der Name mittlerweile synonym damit. Das beweist 'Dirty Little Secrets' auch: Welche systemischen Übel Apple Music, Amazon Music oder Deezer prägen oder wie zum Beispiel YouTube den Grundstein für den heutigen Streaming-Markt gelegt hat, wird nicht thematisiert. Kritisiert wird das Symptom, nicht das System.

Streaming und also Spotify haben dank kräftiger Mithilfe der Majors den Markt erobert und wie nebenbei die Vorstellungskraft monopolisiert. Der Künstler Mat Dryhurst hat vor einer Weile den Begriff des "Streaming-Fatalismus" geprägt: Die von Verzweiflung genährte Annahme, es gäbe jenseits von Spotify keine Alternativen mehr. Eben dieser Fatalismus drückt sich in der Frage "Kannst du von Streams leben?" aus. Und genau das macht sie im Kontext der sehr richtigen Analysen von 'Dirty Little Secrets' zur falschen.

Die eigentliche Frage

Wenn uns 'Dirty Little Secrets' eines lehrt, dann, dass mehr denn je nach Alternativen auf dem Streaming-Markt und jenseits davon gefragt werden muss. Was etwa in der Doku-Serie als "Geistermusik" bezeichnet wird, hat eine lange Geschichte. Schon im Jahr 2017 trat der Journalist Tim Ingham eine breite Diskussion los, als er die von ihm als "Fake Artists" bezeichneten Profile entdeckte, über die Library-Musik in die Playlists gespült wurden. Geändert hat sich seitdem … nichts. Und dennoch einiges. Nämlich anderswo.

Mit Resonate, Marine Snow oder Funkwhale gibt es zum Beispiel seit geraumer Zeit alternative Streaming-Services. Die meisten von ihnen richten sich nicht an die breite Masse, die wohl viele Künstler:innen am liebsten erreichen würden. Aber wer ein leidenschaftliches Publikum erreicht und es nachhaltig für die eigene Musik begeistern kann, fährt damit vielleicht sogar besser, als im Algorithmenstrudel mit über 150 Millionen anderen Songs zu konkurrieren. Abo-Plattformen wie Patreon oder der Erfolg von Bandcamp etwa zeigen, dass der Aufbau einer treuen Anhängerschaft viel bringen kann – nicht nur finanziell.

Keine der genannten Plattformen ist perfekt und ganz bestimmt stellt keine von ihnen eine Passepartout-Lösung für alle Musiker:innen auf dieser Welt dar. Aber die dahinterstehenden Gedanken und Ideale können die Vorstellungskraft anregen – wider des Streaming-Fatalismus. Warum nicht ausgehend von ihren positiven Merkmalen neue Plattformen und Modelle entwickeln? Und die Sache am besten noch weiterdenken?

Das Genossenschaftsmodell von Resonate etwa bietet Musiker:innen das größtmögliche Mitspracherecht auf einer zentralisierten Plattform. Lässt sich das nicht auch in anderen Kontexten ausbauen? Marine Snow bricht mit dem Per-Play-Modell und stellt ihm das einer einmaligen und zeitlich begrenzten Lizenzierung entgegen. Wäre das nicht insbesondere für all jene besser, deren Musik zwischen schnell wegkonsumierbaren 2 ½-Minütern auf Spotify einfach zu sperrig ist? Und Funkwhale mag zwar nicht wirklich Geld ausschütten, aber seine Struktur als sogenanntes Fediversum eröffnet noch ganz andere Perspektiven.

Denn wenn es nicht immer nur Streaming sein soll – und das soll es ja eben nicht! –, ließe sich über noch ganz andere Möglichkeiten nachdenken. Musiker:innen und Fans sind es gewohnt, sich in kleinen subkulturellen Blasen zu bewegen, die alle ständig in Bewegung und doch miteinander verbunden sind. So funktioniert das Prinzip des Fediversums und eignet sich also perfekt, um es als Vertriebsnetzwerk zu verwenden: Labels oder einzelne Künstler:innen könnten ihre Musik und ihr Merch über eigene Instanzen verkaufen, die wiederum Teil eines größeren Netzwerks sind, zu dem die Fans einen zentralisierten Zugang haben. Quasi wie Bandcamp, nur dass dahinter kein einzelnes Unternehmen steht. Und die Musiker:innen selbst die Regeln machen könnten.

Würde das alle Probleme lösen? Bestimmt nicht. Ist es sowieso eine utopische Idee? Vielleicht. Aber von denen braucht es heute mehr denn je. Und es hat ja all das schon gegeben. Ein solches System nämlich wäre das digitale Pendant zu den alternativen Vertriebsstrukturen, die ab Ende der siebziger Jahre von den ersten Independent-Labels aufgebaut wurden. Sie umgingen die von den Major-Labels konstruierten und mit oligopolistischer Macht regierten Infrastrukturen, indem sie kurzerhand ihre eigenen aufbauten. Das ging so lange gut, bis auch sie von den Majors und Tech-Plattformen geschluckt wurden.

Sollte es aber nicht mit den heutigen Mitteln möglich sein, etwas Vergleichbares neu aufzubauen, egal ob nun als Fediversum oder in anderer Form? Für Streaming, für den Verkauf von Tonträgern und Merch, für Ticketing oder noch ganz andere Dinge? Zur Verbreiterung des Patchworks aus Einnahmequellen, mit denen so viele Musiker:innen ihren Lebensunterhalt bestreiten, und über das sie immer noch viel zu wenig Kontrolle haben?

'Dirty Little Secrets' kann als Anstoß verstanden werden, endlich konkreter über solche Dinge nachzudenken und Spotifys Monopol über die Vorstellungskraft zu zerschlagen. Dazu lautet die eigentliche Frage dann aber nicht: "Kannst du von Streams leben?", sondern wovon sich stattdessen leben ließe.

Der Autor dankt Christina Lux, Gregor Wildermann und Peter Armster für ihre direkten und indirekten Einwände und Anregungen in der Diskussion um 'Dirty Little Secrets'.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Amazon Music , Apple Music , Bandcamp , CTS Eventim , Deezer , Dirty Little Secrets , Fediversum , Funkwhale , GEMA , Gretchen , Marine Snow , MySpace , OnlyFans , Patreon , Resonate , Sony , Soundcloud , spotify , youtube

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