Bruchstelle: Wer ist Marcellus Young? KI-Fakes erreichen die Clubmusik

Bruchstelle: Wer ist Marcellus Young? KI-Fakes erreichen die Clubmusik

Features. 14. März 2025 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Ein YouTube-Nutzer lädt angeblich verloren gegangene Veröffentlichungen von Labels wie Playhouse und einer vermeintlich bisher unbekannten Detroit-Legende hoch – und verkauft sie auch über Bandcamp. Die Hintergrundgeschichten wirken ausgedacht, die Musik ist wahrscheinlich mittels KI generiert. Das wirft fundamentale Fragen auf, kommentiert Kristoffer Cornils.

Auf dem YouTube-Account @Tobfunka wurden im Dezember 2010 die ersten Videos hochgeladen. Den Auftakt markiert der dritte Eintrag der Mixtape-Serie "Hi-Hat Club" des deutschen Beatmakers Dexter (nicht zu verwechseln mit dem niederländischen Electro-Produzenten selben Namens), das in drei Teile gesplittet wurde. Nach und nach folgte mehr Musik, die jeweils mit dem Album-Artwork oder Plattenlabel visualisiert wurde. Darunter finden sich Perlen vom norwegischen Ambient-Duo Deaf Center, dem Moritz von Oswald Trio und der Chicagoer House-Legende Paul Johnson. Ein klassischer Digging-Account, der obskure oder schwer zu findende Musik erhältlich macht.

Nach einem letzten, privaten Upload aus dem August 2013 folgen für lange Zeit keine weiteren Videos. @Tobfunka wird erst Anfang Dezember 2024 wieder aktiv. Das erste Video seit langer Zeit trägt den Titel "[US Deep House, 2002] Otis Brown Jr. Feat. Chilly V. - You've say", in der Beschreibung des Videos heißt es: "B1 track from a rare limited 10" vinyl from 2002, produced in Detroit." Stutzig macht daran nicht allein der grammatikalisch zweifelhafte Titel, sondern auch alles andere. Bei Discogs findet sich zwar ein Otis Brown Jr., ein Schlagzeuger mit Credits auf House-Platten. Jemand mit dem Namen Chilly V. indes, der gemeinsam mit einem Otis Brown Jr. musiziert hat, ist nicht aufzufinden. 

Und klingt die Hintergrundgeschichte nicht eigentlich zu schön, um wahr zu sein? Sie ähnelt denen, die @Tobfunka weiteren Uploads mitgibt, die in der Folge in immer kürzeren Abständen erfolgen. Die Beschreibungen von "[Late 90s Minimal Electro] Bicycle 1000 (7inch by unknown artist)", "[Disco, 1977] Melissa Taylor - Your Love Is Killing Me (Instrumental) Private 7inch" und schließlich "[Detroit Techno, 1994] Marcellus Young - Exit From Big D (Full Album)" lesen sich wie Variationen auf das immer selbe Thema: Versprochen werden von der Musikgeschichte vergessene Trüffel, die erstmals in exzellenter Tonqualität für die Nachwelt zugänglich gemacht werden.

Das zugstärkste Video ist das zu "Exit From Big D". Das am 11. Februar 2025 hochgeladene Album des angeblichen "completely overseen genius from the 3rd generation of Detroit Techno producers" sei das einzige Release des Produzenten, veröffentlicht über sein Label Tower im Jahr 1994 in einer bescheidenen Auflage von 100 Exemplaren. Omar-S sei ein großer Fan des danach nie wieder in Erscheinung getretenen Produzenten – so behauptet es zumindest @Tobfunka. Das klingt sehr sensationell und erneut zu schön, um wahr zu sein. Und die Musik? Die klingt verdächtig nach KI.

KI-Fakes, zum Kauf angeboten?

Die acht Tracks von "Exit From Big D" weisen durchaus einige der Parameter der Musik von Carl Craig, Kenny Larkin und Claude Young auf, die auch die Videobeschreibung als Referenz verweist. Flirrende Melodien, sanfte Pads und Chords sowie buttrige Kicks verknoten sich zu atmosphärischen Dance-Tracks. Wer genau hinhört, erkennt jedoch Anzeichen von KI-generierter Musik. Die Hi-Hats wirken schlierig und es ergeben sich immer wieder rhythmische Fehler sowie melodische und harmonische Ungereimtheiten. Dafür fehlen die analogen Klangsignaturen, die die Musik dieser Zeit prägen.

Den Eindruck teilen viele Menschen. "this look like it was made by IA [sic]", lautet einer der überwiegend negativen Kommentare. "Is there a pic of him with his hands outside of his pockets? Just wanted to check something…", schreibt jemand in Anspielung auf das Cover-Artwork, das eine hochgewachsene schwarze Person auf einer Brücke zeigt, die Hände stecken in den Manteltaschen. KI-Programme wie Midjourney sind legendär schlecht darin, Menschen die korrekte Anzahl von Fingern zu verleihen. Auch lassen sich in dem Bild weitere Indizien – eine sonderbare Fluchtperspektive, wie zerknüllt wirkende Stahlelemente – ausmachen, die auf eine synthetische Machart hindeuten. 

Das Cover des Albums Exit from Big D von Marcellus Young

Das alles sowie der Name der angeblichen Legende – mit Marcellus Pittman und dem bereits genannten Claude Young hätte Marcellus Young gleich zwei Detroiter Namensvetter – lässt in der Gesamtsicht eigentlich ein deutliches Bild erkennen, das von offenkundig sarkastischen Kommentaren unter dem YouTube-Video untermauert wird. "Marcellus Pittman-Claude Young Elisasue from Detroit", schreibt jemand in Anspielung auf den Horror-Film "The Substance", @Tobfunka deklariert die Person als "winner". Es drängt sich die Vermutung auf, dass die gesamte Aktion als augenzwinkernder Kommentar auf die vergangenheitsfetischisierende Digging-Kultur verstanden wird, der der Account @Tobfunka selbst angehört.

Der YouTuber antwortet auf einige Kommentare, lässt sich aber eher selten zu Repliken auf Kritik hinreißen. "Really weird and harmful to do this, man. How depressing", schreibt jemand. Die Antwort: "To do what? Share music with other people. Yea, that's really depressing :(". Dabei geht es bei dem Ausgangskommentar womöglich gar nicht primär um Musik und Cover-Artwork. Sondern darum, dass @Tobfunka über einen Bandcamp-Account dieses Album und andere seiner Uploads verkauft. Er bewirbt das Angebot sogar aggressiv über YouTube: In einem unter "Exit From Big D" angepinnten Kommentar verlinkt er auf die entsprechende Bandcamp-Seite.

Geschichte wiederholt sich

Für 0,99 Euro lässt sich "Exit From Big D" dort von Tobias Records kaufen, eine angeblich einst für die Veröffentlichung durch Playhouse bestimmte EP namens "Irrgewicht" kostet 0,50 Euro – und so weiter, und so fort. Das ist noch nicht alles: Mit zusammengenommen fast einer Million Views auf seine 77 Uploads seit Eröffnung des Kanals und den vergleichsweise hohen Zugriffszahlen auf Videos wie "Exit From Big D" oder das angeblich von einer indonesischen Dub-Band eingespielte Album "Dub of Tomorrow" – die bei Redaktionsschluss je 55.000 und fast 38.000 Plays verzeichnen – könnte @Tobfunka in der Lage sein, die Plays seiner YouTube-Videos zu monetarisieren.

Die genauen Absichten von @Tobfunka liegen im Dunkeln, auf eine Presseanfrage des Autors reagierte er bis Redaktionsschluss nicht. Wenn es sich um eine bloße Spielerei, gar einen kritischen Kommentar auf Digging-Kultur handeln soll – warum das Ganze verwerten? Just das wirft die Frage auf, ob die Musik von Marcellus Young nicht eine Geschichte der wirtschaftlichen Ausbeutung von vor allem schwarzen Produzent:innen reproduziert, die maßgeblich den Sound geprägt haben, aber selten adäquat bezahlt wurden. Das House-Label Trax etwa soll zahlreichen Künstler:innen Tantiemen vorenthalten haben, dergleichen Beispiele finden sich noch viele weitere in der (Club-)Musikgeschichte.

Wenn nun "Exit From Big D" tatsächlich mittels KI generiert wurde, kamen dabei aller Wahrscheinlichkeit nach Trainingsdaten der Platten von Pionier:innen wie Craig, Larkin oder Young zum Einsatz, ohne dass die für die Verarbeitung ihrer Musik einen roten Heller sehen würden. Firmen wie Suno oder Udio weigern sich unter Berufung auf die Rechtsnorm des Fair Use weiterhin beharrlich, für das flächendeckende und ohne Einwilligung der Rechteinhaber:innen erfolgte Training ihrer Programme etwas zu bezahlen. Gegen sie und andere Anbieter wie Anthropic und auch OpenAI laufen deshalb bereits einige aus der Musikwelt heraus lancierte Klagen.

Somit verortet sich das Treiben von @Tobfunka im Kontext einer Gegenwart, in der sich die Musikwelt insgesamt von KI bedroht wähnt. Der kuriose Fall von Marcellus Young steht überdies im Zeichen einer bereits laufenden veritablen Überflutung der Plattformen durch KI-generierte Musik. Deezer meldete Ende Januar, dass täglich 10.000 solcher Musikstücke dort hochgeladen würden. Das verschärft eine bereits seit langem laufende Wertschöpfungskrise. Viele dieser Tracks mögen zwar niemals abgespielt werden, die wenigsten können sich an den Meisterwerken ihrer Zunft messen oder diese gar de facto "ersetzen". 

Schaden könnten sie trotzdem, weil sie dank ihrer Überfülle als synthetische Musik legitimen Uploads die Plätze in den Playlists und in der Aufmerksamkeit des Publikums streitig machen. 

Gut für den Algorithmus, schlecht für die Kultur

Wer über YouTube auf Video-Mixe mit Titeln wie "1 Hour of AI Generated Tech House" stößt, bekommt transparent gemacht, worum es sich dabei handelt. Alles andere indes führt zur Verwirrung unter Konsument:innen, denen die Herkunft und Machart KI-generierter Tracks in der Regel vorenthalten wird, wenn sie nicht sogar – wie wohl auch von @Tobfunka – verschleiert wird. Obwohl "Exit From Big D" bei genauerer Betrachtung als fingiert zu entschlüsseln ist: Kommentare wie "lmfao it took me a minute to realize…" oder "The algorithm blessed me today! What a find" deuten darauf hin, dass der Fake einigen Menschen zumindest kurz als real erschien. Ein paar Menschen haben "Exit From Big D" sogar käuflich erworben.

@Tobfunka scheint sich bewusst zu sein, dass das Skandälchen um seine Uploads aufmerksamkeitsökonomische Konsequenzen hat. "Every discussion is good for the algorithm :)", kommentiert er unter einem der kritischen Posts. Doch was gut für den Algorithmus ist, hat nicht selten schlechte Auswirkungen auf die Kultur, auf die er einwirkt. Das gilt nunmehr umso mehr für die Clubkultur. Denn obwohl es sich dabei noch um einen Einzelfall handelt: "Exit From Big D" untermauert, wie leicht im digitalen Raum Musikgeschichte verzerrt werden könnte, während Geschichten der Ausbeutung in der Gegenwart aktualisiert werden – solange denn das Publikum nicht achtsam hinhört. Das entwirft in jeglicher Hinsicht zweifelhafte Perspektiven.

Egal, welche Absichten @Tobfunka tatsächlich hat: Seine Uploads beweisen, wie leicht potenziell schadhafte Praktiken mittlerweile im digitalen Raum umzusetzen sind. Das kann allemal als repräsentativ für ein Problem verstanden werden, mit dem sich die Clubkultur losgelöst von diesem Einzelfall in Zukunft beschäftigen muss.

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