Buch-Essentials: Dance Music in Deutschland
Ob Standardwerke, Belletristik, Fotobücher oder Techno Autobiographie: Unsere Essentials-Serie stellt die wichtigsten Bücher rund um Techno, House und DJing vor. Übrigens: Wir haben in diesem Artikel so oft es geht Affiliate-Links zum Buchhandel Buch7 eingefügt. Buch7 spendet 75% des Gewinns an soziale, kulturelle oder ökologische Einrichtungen und bietet gleichzeitig alle gewohnten Annehmlichkeiten großer Versandhandel wie Amazon und Co. Informationen dazu bekommt ihr hier.
Die Geschichte der Dance Music ist international und weitreichend, weswegen die wichtigsten Bücher zum Thema dementsprechend dick ausfallen. Wenn es um die Entwicklung einzelner und regional beschränkter Szenen geht, so dominieren Oral Historys wie 'Electri_City', 'Verschwende deine Jugend', 'WienPop' oder natürlich 'Der Klang der Familie' das Bild – Mitglieder der Community erzählen hier direkt, wie etwa in Düsseldorf der Grundstein für elektronische Musik gelegt wurde oder aber wie Berlin nach der Wiedervereinigung auf dem Dancefloor zusammenwuchs.
Und dann gibt es noch einige akademische Arbeiten, die wie Anja Schwanhäußer in 'Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene' die Wirkungsmechanismen regionaler Szenen beschreiben, sich wie 'Die Clubmaschine (Berghain)' von Kilian Jörg und Jorinde Schulz dem konkreten Treiben abstrakt zu nähern versuchen oder natürlich Anthologien wie 'Localizer 1.0' und 'Techno', die mittlerweile selbst historisch geworden sind.
Wer eine Übersicht über die Anfänge und Hochzeiten der House- und Techno-Szene im gesamten deutschsprachigen Raum sucht, wird – mit einer unten aufgeführten, ambitionierten Ausnahme – weiterhin nicht wirklich fündig werden. Genauso wie es zu den einzelnen Zeitabschnitten der Rave-Historie hierzulande sehr unterschiedliche Herangehensweisen gibt: Von der theoretisch-subjektiven über die autobiografischen Memoiren hin zu Fotobüchern mit Texten verschiedener Autor:innen, die Einordnung bestimmter geschichtlicher Phasen kommt in vielen Formen daher.
Unsere Auswahl von sechs essentiellen Büchern zu Clubkultur im deutschsprachigen Raum kann deswegen gar nicht repräsentativ oder erschöpfend sein. Auch weil das Gros von den existierenden Büchern sich leider auf das Geschehen in der Hauptstadt Berlin fokussiert. Wer sich aber nun beflissen fühlt, die große Rave-Geschichte Deutschlands zu schreiben, kommt bei der Recherche um diese Werke nicht herum.
Electronic Germany (2019) von Christian Arndt
„Berlin Calling? Einfach auflegen“, kalauert Christian Arndt in einer Zwischenüberschrift und fasst damit gewissermaßen das Programm seines nach einem Track von Anthony Rother und DJ Hell benannten Buchs Electronic Germany zusammen. Der Journalist hat es sich mit seiner ersten, im Jahr 2019 veröffentlichten Monografie zur Aufgabe gemacht, die Geschichte und Gegenwart von Techno und Rave-Kultur in ganz Deutschland zu erzählen, statt nur die Hauptstadtmythen wiederzukäuen, die bereits in Oral Historys wie Der Klang der Familie oder anderen Büchern zur Genüge unter die Lupe genommen werden.
Deswegen schreibt Arndt auch über das Dorian Gray und das Omen, stellt Mark Spoons Partner Jam El Mar in einem Porträt vor und widmet nicht nur der Love Parade, sondern auch der Street Parade (die Schweiz ist offenkundig ebenfalls Teil von Arndts elektronischem Deutschland) jeweils ein Kapitel seines schräg und schrill vom ehemaligen Frontpage-Art-Director czyk gestalteten und von vielen Fotos Ernst Stratmanns begleiteten Bandes. Doch geht es eben auch immer und immer wieder um Berlin, wobei der Fokus mehr auf Dirty Doering und den Kalkbrenner-Brüdern liegt als etwa auf dem Berghain. Denn zwar würden die wenigsten wagen, Helena Hauff und Felix Kröcher in einem Satz zu nennen, bei Arndt werden dazu gleich noch Felix Jaehn und Alle Farben erwähnt. Das alles, sagt er, ist Techno. Und Unrecht hat er damit eben nicht.
'Electronic Germany' ist ein inkohärentes Buch über eine zersplitterte Szene, das wie aus einzelnen Artikeln, Interviews und Label- oder Künstlerporträts zusammen getackert wirkt. Arndts Begeisterung für Techno-Kultur, einzelne Player oder das Miteinander auf dem Floor kann manchmal überzogen wirken, in seinen besten Momenten aber ist sie ansteckend. Vor allem bietet 'Electronic Germany' Einblicke in die Geschichte einer ravenden Gesellschaft, die sich nicht ausschließlich im wiedervereinten Berlin zusammenfand und ist damit als wichtige Ergänzung und Korrektur zum dominanten Narrativ zu verstehen.
Christian Arndt
Electronic Germany
240 Seiten
24,95 €
ISBN: 978-3-8419-0620-5
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Mix, Cuts & Scratches (1997) von WestBam mit Rainald Goetz
Eine Vorreiterrolle schreibt Arndt in seinem Buch allerdings keinem (waschechten) Berliner, sondern einem Münsteraner zu: Maximilian Lenz. Der begann seine Karriere als Teenager erst in der Punk-Szene, übersiedelte bald in die geteilte Stadt und spielte sogar auf dem Festival der Genialen Dilletanten im September 1981 im Tempodrom, machte sich aber erst ab 1983 unter dem Namen Westfalia Bambaataa einen Namen – kurz WestBam. Es folgten gemeinsame Produktionen mit Klaus Jankuhn, eine Tour mit D.A.F. und schließlich die Gründung der Plattenfirma Low Spirit. Der Rest ist Geschichte.
Neben seiner Arbeit als DJ, Produzent und Plattenbetreiber versuchte sich WestBam, der im Jahr 2015 mit Die Macht der Nacht eine Autobiografie vorlegte, auch als Theoretiker zu etablieren. Sein Text 'Was ist Record Art' erschien im Jahr 1984 in einem Frankfurter Kulturmagazin, als Lenz noch keine 20 Jahre alt war. Der markante, großspurige Ton ist darin bereits zu erkennen, die Gedanken des jungen DJs über das Auflegen lesen sich dennoch prophetisch: Es kann als Manifest für den kommenden Siegeszug des DJing gelesen werden.
'Was ist Record Art' wird auch im 1997 erschienenen Buch 'Mix, Cuts & Scratches' wiedergegeben, einem wilden Band, der überwiegend aus aneinandergereihten Statements, Erinnerungen und Aphorismen besteht. Collagiert wurden diese dereinst von Rainald Goetz, reisender Romanautor von Büchern wie 'Celebration' und 'Rave', in denen der prominente Interview-Partner ebenfalls zu Wort kommt oder Thema ist. Neben kuriosen Infos zur Form von WestBams Handinnenflächen (ähnlich wie die des verstorbenen Altkanzlers Helmut Kohl!) liefert 'Mix, Cuts & Scratches' einen recht ungeordneten, personengebundenen Einblick in die Entwicklung der „ravenden Gesellschaft“ ab dem Jahr 1984 und spiegelt damit auf eigenwillige Art Rave-Geschichte wider.
WestBam
Mix, Cuts & Scratches
mit Rainald Goetz
159 Seiten
11 €
ISBN: 978-3-88396-136-1
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B-Book. Lust und Sound in West-Berlin 1979 – 1989 (2015) von Mark Reeder
Auch Mark Reeder wählte einen autobiografischen Ansatz, als er im Jahr 2015 mit 'B-Book. Lust und Sound in West-Berlin 1979 – 1989' das begleitende Printprodukt zu seinem ähnlich privat gehaltenen Filmessay 'B-Movie' vorlegte. Wie es schon zwei Jahre zuvor das Die-Tödliche-Doris-Mastermind Wolfgang Müller in seinem Buch 'Subkultur Westberlin 1979 – 1989' getan hatte, nimmt der Musiker und MFS-Labelgründer in Bild und Wort ein bewegtes Jahrzehnt ins Auge: Punk hatte in der Kulturszene der geteilten Stadt seine Spuren hinterlassen, die Neue Deutsche Welle und Industrial fanden auch in Berlin Wiederhall. Etwas Neues, Aufregendes braute sich in der alternativen Szene der Stadt zusammen.
Reeder treibt sich also unter „Genialen Dilletanten“ herum, im Umkreis des Atonal Festivals, das vom späteren Tresor-Gründer Dimitri Hegemann ins Leben gerufen wurde. Bei den Dilletanten (die Schreibweise geht auf einen Tipp- beziehungsweise Druckfehler zurück) handelt es sich um eine recht lose Gruppe von MusikerInnen und KünstlerInnen, die sich erstmals im Jahr 1982 in einem von Müller herausgegeben Sammelband für den Merve Verlag vorstellt, dem Jacek Slaski erst vor Kurzem eine Anthologie mit Gesprächen hinzufügte. Zu ihnen gehörten die Mitglieder der Einstürzenden Neubauten, Musikerinnen wie Gudrun Gut oder das Multitalent Frieder Butzmann.
Reeder kommt ursprünglich als Krautrock-begeisterter Repräsentant für das britische Label Factory nach Berlin, nach dem Selbstmord von Joy-Division-Sänger Ian Curtis allerdings orientierte er sich schnell neu und findet Fuß in einer virilen Szene, die schon für das nächste große Abenteuer in den Startlöchern stand: Mit der Ankunft von Techno und der ersten Love Parade enden die Erinnerungen Reeders fürs Erste. Abgerundet wurden Film und Buch übrigens von der 'B-Box', einem umfassenden Soundtrack, auf dem unter anderem WestBam, Malaria! und natürlich Reeder selbst vertreten sind.
Mark Reeder
B-Book. Lust und Sound in West-Berlin 1979 – 1989
224 Seiten
39,95 €
ISBN: 978-3-8419-0385-3
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Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende (2013) von Ulrich Gutmair
Und wie’s nach der Ankunft von Acid House und Techno in West-Berlin weiterging? Das wissen wir alle. Oder können es zumindest nachlesen, denn Ulrich Gutmair hat in 'Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende' das definitive Buch über den Mauerfall und die Ausweitung des Dancefloors über die beiden zuvor getrennten Stadtteile geschrieben. Auch dieses Buch ist geprägt von persönlichen Erinnerungen, vom Ankommen in Berlin, dem Druffsein und dem Nicht-mehr-Klarkommen-über-so-viele-Zukunftsvisionen.
Sowohl in der Oral History 'Der Klang der Familie' als auch in den beiden von Essays und Interviews begleiteten Bildbänden 'Berlin Wonderland: Wild Years Revisited, 1990-1996' und 'Berlin Heartbeats: Stories from the Wild Years 1990-Present' von Anke Fesel und Chris Keller von der Agentur bobsairport werden dieselben oder zumindest ähnliche Geschichten von der Techno-Szene Berlins in der Nachwendezeit erzählt. Aber, so schreibt der Journalist selbst: „Erinnerung funktioniert nicht wie ein Fotoapparat. Die Bilder, die das Gedächtnis hergibt, sind unscharf und vermischen sich mit Gerüchen, Sounds und Gesichtern, zu denen wiederum Gespräche gehören, die möglicherweise aber in ganz anderen Zusammenhängen geführt worden sind.“
Deswegen zoomt Gutmair immer wieder weit heraus und beleuchtet die Zusammenhänge, vor denen Techno überhaupt erst möglich wurde. Anstatt sich lang und breit über das Wie und das Was auszulassen, diesen DJ und jenes Labels vorzustellen, beantwortet Gutmair lieber die Frage nach dem Warum: Warum Berlin so ein fruchtbarer Nährboden für diese Szene sein konnte, deren Erfahrungswerte er lebhaft in seine Erzählungen einflechtet und deren Personal er seinem Publikum vorstellt wie alte FreundInnen. 'Die ersten Tage von Berlin' ist ein ungemein lehrreiches Buch, nicht nur was die Rave-Geschichte der Stadt anbelangt.
Ulrich Gutmair
Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende
256 Seiten
10 €
ISBN: 978-3-608-50315-9
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Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset (2009) von Tobias Rapp
Wie sich eine sachgerechte Aufarbeitung der Vergangenheit liest, das also beweist Gutmair. Doch eine Bestandsaufnahme der Gegenwart? Das scheint angesichts einer dermaßen verästelten und schnelldrehenden Szene wie der Berliner geradezu unmöglich. Einem allerdings ist es gelungen, er heißt Tobias Rapp. Ein Jahr nach Veröffentlichung des Films 'Berlin Calling' mit Paul Kalkbrenner in der Hauptrolle reist die halbe Welt Wochenende für Wochenende nach Berlin, um dort zu feiern. Im Berghain, der Bar 25, dem Tresor oder dem Watergate. Der Journalist prägt den Begriff „Easyjetset“ für dieses Phänomen und widmet der Szene ein ganzes Buch.
Im Jahr 2009 herrscht Hochstimmung, und das von Mittwoch bis Montag – oder je nach After-Hour-Treibstoff sogar bis Dienstag. Rapp hangelt sich in 'Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset' am Wochenendfahrplan der regionalen und zugereisten Party People entlang, beschreibt diese oder jene Clubnacht, schnackt mal mit diesem oder jenem Szenemitglied über den einen oder anderen Aspekt der Clubkultur: die hedonistische Internationale, MediaSpree versenken, ravende Mütter. Manche dieser Themen sind zeitlos, andere mittlerweile selbst zu Fußnoten in der Stadt- und Musikgeschichte geworden.
Rapp ist ein begeisterter Teilnehmer der Berliner Szene, ein Fan des Berghains ebenso wie von Ricardo Villalobos. Das macht 'Lost and Sound' zu einer lebendigen Lektüre: Zwischen den Zeilen klebt tonnenweise Leidenschaft. Rückblickend wirkt die frenetische Feier des Temporären und damit auch des Prekären befremdlich. Denn wie der Easyjetset maßgeblich zur Gentrifizierung der Berliner Dancefloors beitrug, so zeigte sich die Stadt in über einem Jahrzehnt nach Veröffentlichung von 'Lost and Sound' seiner Clubszene gegenüber nicht unbedingt freundlich. Lärmbeschwerden hier, Mietverdopplungen dort: Obgleich Rapp derlei Tendenzen streift, scheinen weder ihm noch seinen InterviewpartnerInnen das Damoklesschwert über ihren Köpfen aufzufallen. Den Spirit dieser Zeit konnte er dennoch einfangen.
Tobias Rapp
Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset
268 Seiten
9 €
ISBN: 978-3-518-46044-3
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Come In My Kitchen. The Robert Johnson Book (2013)
Berlin, Berlin, Berlin! Andere Städte haben auch schöne Clubs und noch reichhaltigere Geschichten. Wer schreibt eigentlich über die Geschichte des Milk! in Mannheim, wo ist das Buch zur Dokumentation 'Zeitgeist Stammheim' über den legendären Club in Kassel? Gibt es nicht genug Fotos aus dem Golden Pudel oder dem Front in Hamburg, um damit eine ganze Bibliothek zu füllen? Wenn das Label Compost sich schon ein Buch zum 20. Geburtstag geschenkt hat, wo bleibt denn das zur Münchener Szene, zum Ultraschall und überhaupt? Warum nicht mal Kompakt und ganz Köln im Klappcover? Und überhaupt: Frankfurt, Offenbach – wer erzählt die Geschichten dieser beiden so wichtigen Städte für die Nachwelt?
Nun, immerhin das wurde bereits erledigt, wenngleich ein Kapitel in 'Come In My Kitchen: The Robert Johnson Book' wohl bei weitem noch nicht ausreicht, um erschöpfend alle Aspekte der regionalen Szene und ihrer Geschichte zu beleuchten. Dennoch ist das im Jahr 2013 anlässlich des 13. Geburtstags des Offenbacher Clubs von Betreiber Ata Macias herausgegebene und mittlerweile heiß begehrte Kompendium ein gutes Einstiegswerk, das im Vergleich zu der Schwemme an Berlin-Büchern auch die Unterschiede zwischen den Selbstauffassungen der einzelnen Szenen deutlich hervortreten lässt. Im Robert Johnson beispielsweise, das macht der nach einem Song des Club-Namenspaten benannte zweisprachige Band deutlich, wird ganzheitlich gedacht: subjektiv und objektiv, mit den Augen genauso wie mit den Ohren.
Ob nun der „Babba“ Sven Väth und Talla 2XLC – der übrigens selbst Ende des Jahres 2019 noch seine Autobiografie 'Am Anfang war der Technoclub' vorlegte – oder Ricardo Villalobos, Stefan Marx und Theo Parrish: In 'Come In My Kitchen' treffen die Perspektiven sehr unterschiedlicher Szenefiguren aufeinander, die sich in jeweils verschiedenen Medien und Arten zum Ausdruck bringen. Mehr gäbe es zum Robert Johnson eigentlich kaum zu sagen, wäre das Buch nicht mittlerweile vergriffen und seit Veröffentlichung nicht schon wieder viel Zeit vergangen. Eine aktualisierte Neuauflage wäre ein echtes Geschenk.
Ata Macias und Christopher Keller (Hrsg.)
Come In My Kitchen. The Robert Johnson Book (Traveller Edition)
378 Seiten
19 €
ISBN: 978-3-000-39653-3
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