Corona und Plattenläden: Der große Blindflug ins Ungewisse
Streaming-Partys, Zoom-Konzerte und eine Schwemme digitaler Releases: Dank Corona lernen nicht nur MusikliebhaberInnen die Vorzüge des Digitalen neu wertzuschätzen. Aber wie haben diejenigen den Shutdown erlebt, deren Läden vom zwischenmenschlichen Kontakt, dem haptischen Erleben der Ware und dem sozialen Austausch leben? Wir haben mit Smallville Records aus Hamburg, KMA60 aus Berlin und Optimal Records aus München darüber gesprochen, welche Auswirkungen Corona für die Plattenläden hat.
Kaum ein Tag wurde von LadenbesitzerInnen in Deutschland so herbeigesehnt wie der 20. April. Einen Monat waren große Teile des Einzelhandels aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen – mit derzeit noch nicht absehbaren wirtschaftlichen Folgen. Der erhoffte Ansturm blieb vielerorts allerdings aus. „Ich dachte: Wenn der Tag kommt, an dem ich wieder aufmachen darf, dann kommen sie alle. Das war leider nicht so“, erzählt Just von Ahlefeld. Gemeinsam mit Julius Steinhoff betreibt er in Hamburg das Label und den gleichnamigen Plattenladen Smallville. Beide sind hauptberuflich DJs, der Laden ein Herzensprojekt mitten im beliebten Karoviertel.
Das Sortiment bei Smallville ist cluborientiert, zum Stammkundenkreis zählen DJs, aber auch TouristInnen, die aufgrund der Reisebeschränkungen nun wegbleiben. Befreundete DJs waren zum Reopening zwar da, der Umsatz jedoch eher bescheiden. Just von Ahlefeld vermutet, dass viele unsicher waren wegen der unübersichtlichen Regelungen zur Wiedereröffnung.
Dana Ruh glaubt, dass es auch mit der Angst vor dem Virus selbst zu tun hat. Gemeinsam mit Jamie Fry betreibt die DJ und Produzentin seit einem Jahr den elektronischen Plattenladen KMA60 im Schillerkiez in Berlin-Neukölln. „Im Plattenladen fasst man ja alles an. Trotz Desinfektion und Masken müssen sich die Leute erstmal wieder in die Läden trauen“, sagt Jamie Fry. Dana Ruh vermutet: „Das wird ein langsamer Prozess.“
Ein Hygienekonzept mit Maskenpflicht, Desinfektionsmittel und Mindestabstand gehört ab sofort dazu. Bei einer Ladenfläche von gerade mal 45 Quadratmetern habe man sowieso selten mehr als zwei KundInnen im Laden, scherzt Just von Ahlefeld. KMA60 geht es ähnlich, befindet sich der 110 Quadratmeter große Laden ohnehin noch in der Etablierungsphase. Anders sieht es bei Optimal Records in München aus, die seit 1982 ihren Platz im Glockenbachviertel verteidigen. Fast so lange leitet Christos Davidopoulos den Laden, der auf 140 Quadratmetern ein breites musikalisches Sortiment anbietet.
Maximal sieben KundInnen gleichzeitig sind erlaubt, Kopfhörer zum Anhören muss man nun selbst mitbringen. Kundengespräche mit Mundschutz seien ihm unangenehm, erzählt Davidopoulos, ansonsten habe er die Wiedereröffnung recht positiv erlebt. Viele KundInnen hätten Bestellungen abgeholt, was den Umsatz kurz in die Höhe getrieben habe. In der zweiten Woche sei der Umsatz jedoch um die Hälfte gefallen.
„Die Vorsicht ist groß“, sagt Davidopoulos. „Zudem sind viele Leute, die Musik kaufen, Geringverdiener, StudentInnen, SchülerInnen. Die überlegen sich: Kauf ich mir eine Maxi oder ein Bier und geh an die Isar mit dem Kumpels?“ Für Just von Ahlefeld ist der finanzielle Verlust nicht mal das Schlimmste: „Die Idee von Smallville hat vor allem einen sozialen Hintergrund, als Treffpunkt für DJs und Leute, die in Clubs gehen. Es geht ums Zusammenkommen, den Austausch und die Synergie innerhalb der Szene. Das hat in den letzten Wochen gefehlt.“
Dennoch sei die Unterstützung der StammkundInnen spürbar gewesen. Warme Worte per E-Mail und Bestellungen für Überraschungs-Plattenpakete seien bei Smallville eingegangen. Ähnlich war es bei Optimal. „Ein paar haben Gutscheine für sich selbst gekauft und gesagt: ,Ich gebe das innerhalb von sechs Monaten eh aus’ und holen sich einen Gutschein für 1000 Euro. Das ist super, weil es ein zinsloser Kredit ist quasi. Das macht Hoffnung, dass es vielleicht gutgeht.“
Wer wie KMA60 hingegen noch relativ frisch am Markt ist, kann nicht so entspannt in die Zukunft blicken. „Wir sind noch neu und haben natürlich Geld in den Laden investiert“, sagt Dana Ruh. Der Laden sei auch als flexibler Event Space und Galerie konzipiert. Da eine solche Nutzung in absehbarer Zeit kaum möglich sein wird, liege der Fokus nun darauf, den Onlineshop auszubauen. Doch auch hier gibt es Hürden, die das Geschäft erschweren: Sendungen nach Übersee wurden in den letzten Wochen verzögert oder gar nicht ausgeliefert.
Fans in Kanada, den USA und Australien sind für Smallville, die vor allem ihre eigenen Label-Releases und Merch im Onlineshop vertreiben, wichtige AbnehmerInnen. Etwa ein Drittel der Onlineverkäufe kommt aus Deutschland, die restlichen entfallen auf Europa und internationale Sendungen. „Das war schon ein starker Einbruch“, sagt Just von Ahlefeld.
Ein komplettes Umschwenken auf das Onlinegeschäft sei für Smallville zudem kaum möglich: „Wir verdienen am Onlinehandel hauptsächlich an unseren eigenen Smallville-Releases. Wenn du auf Discogs eine Platte verkaufst, die es auch auf decks.de gibt, dann musst du die zwangsläufig teurer verkaufen. Mit großen Playern wie juno, HHV, deejay.de und decks.de zu konkurrieren, ist totaler Irrsinn.“ Optimal hat sich daher längst gegen einen Onlineshop entschieden. „Ein Drittel des Umsatzes müssen wir für die Miete verwenden“, sagt Christos Davidopoulos. „Damit haben wir noch Glück.
In der Parallelstraße, der Fraunhoferstraße, wäre die Miete doppelt so hoch.“ Optimal macht sich das Internet deshalb auf kreative Weise zunutze. Seit dem Lockdown streamen sie zweimal die Woche über ihre Social-Media-Kanäle live aus dem Laden und stellen die neuesten Releases vor – aufgelegt und moderiert von Christos Davidopoulos.
„Wir haben damit immer 3000 bis 4000 Leuten erreicht und die bestellen wie die Weltmeister – von überall! Berlin, Hamburg, Bonn, Holland, sogar aus Mexiko hatte ich eine Bestellung!“, freut sich der Optimal-Macher. Bestellt werden kann über Social Media, per E-Mail oder Telefon, den Versand organisieren die drei Festangestellten mit ihren drei Aushilfen selbstständig. Ein logistischer Mehraufwand, der sich lohnt: 30 Prozent des normalen Umsatzes hat Optimal dadurch sogar während des Lockdowns gutmachen können. Zudem habe man den KundInnenkreis erweitern können, sodass sie die Streams auch nach dem Lockdown einmal wöchentlich beibehalten wollen.
Eigeninitiative scheint das Gebot der Stunde. Als die Lieferwege der Vertriebe zwischenzeitlich unterbrochen waren, weil ein zentrales Lager von Sony und Warner in Frankreich wochenlang dichtmachte, nahm Christos Davidopoulos selbst Kontakt zu den Labels auf und wurde zum Teil direkt beliefert. Schwieriger wird es mit dem Nachschub, wenn Labels bereits gepresste Platten zurückhalten oder geplante Releases verschieben. Verständlich – findet Dana Ruh: „Warum sollte man jetzt eine Platte rausbringen, die nicht gespielt werden kann? Und wann wir wieder spielen dürfen, das weiß niemand.“ Für die Plattenläden bedeutet das aber auch: Es gibt weniger Veröffentlichungen, die sie anbieten können.
„Was problematisch für kleine Läden wie uns ist, wenn im Mai oder Juni plötzlich die doppelte Menge rauskommt. Das musst du ja alles finanzieren. Und strenger aussortieren“, weiß Christo Davidopoulos. Wichtig sei allen drei Plattenläden, trotz allem frische Releases und die gewohnt hochwertige Auswahl anzubieten. Im Einkauf müsse man dafür investigativer vorgehen, da man das Kaufverhalten der KundInnen anders antizipieren müsse als sonst, erklärt Just von Ahlefeld von Smallville: „Ich kaufe jetzt eher limitierte Platten, weil man sie später nicht mehr bekommt. So Sachen wie Running Back, die gehen immer, aber da nehm ich jetzt ein paar weniger, weil ich weiß, die krieg ich in zehn Jahren noch.“ Eine Beobachtung, die er jetzt bereits gemacht hat: Es wird weniger Techno gekauft. „Die Leute kaufen jetzt lieber Disco-Platten und smoothere Sounds. Darauf stell ich meine Einkäufe ein.“
Verändert Corona also auch unseren Musikgeschmack? Auch wenn Jamie Fry von KMA60 diese Beobachtung noch nicht an Verkaufszahlen festmachen kann, vermutet er: „Wenn es ein Genre gibt, dessen Beliebtheit durch die Krise abnehmen könnte, dann wäre es wahrscheinlich Techno. Techno gehört in den Club. Wenn du die Musik dort hörst, inspiriert dich das eher, die Platten zu kaufen. Aber wenn niemand mehr ausgeht … das wird interessant.“ Ähnliches beobachtet auch Christo Davidopoulos, sind es doch vor allem DJs, die Techno- und Dance-Platten zum Auflegen kaufen. Da dies jetzt flachfällt, seien sie zurückhaltender geworden. „Jetzt merken alle, wie prekär die Situation in der Szene immer war. Diese Leute kämpfen ums Überleben. Nicht die Stars, aber kleine Warm-up-DJs, lokale Residents, die können ihre Miete teilweise nicht zahlen. Und die Soforthilfe kommt oft nicht an.“
In Bayern verzögerte sich die Auszahlung des sogenannten Corona-Zuschusses für Solo-Selbstständige und Kleinunternehmer empfindlich lange. In Berlin hingegen war das Geld oft binnen weniger Tage auf dem Konto der AntragstellerInnen. So auch bei Dana Ruh und Jamie Fry, die damit vorerst ihre laufenden Betriebskosten decken können. Ihre ausgefallenen Gehälter dürfen sie sich davon aber nicht erstatten – ein Problem, das besonders Selbstständige ohne größere Rücklagen schnell in finanzielle Not bringt. Auch wenn sie froh ist, dass die Hilfen so schnell auf den Weg gebracht wurden, sagt Dana Ruh deutlich: „5000 Euro sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Das hilft uns nicht bis Ende August zu überleben. Es muss eine zweite Auszahlungsrunde geben.“
Bei Optimal ist bislang noch nichts von den Hilfen angekommen. Christos Davidopoulos sieht den Betrag von 5000 Euro bezogen auf Münchner Preisverhältnisse sowieso eher symbolisch. Er kritisiert das Umschwenken der Politik von „Wir lassen niemanden pleite gehen“ hin zu „Wir können nicht jeden retten“ scharf. „Es soll mir mal einer erklären, warum in einer Situation, wo Leute ohne eigenes Verschulden auf Einkommen verzichten müssen und den Arbeitsplatz verlieren, nur die heilige Kuh der Hausbesitzer ihre Miete komplett einstreichen dürfen.“ Er fordert eine Mietminderung, mindestens für den Zeitraum des Lockdowns, und eine prozentuale Anpassung der Miete an die sinkenden Umsätze. „Wir wollen ja keine Geschenke. Wir wollen einfach dann zahlen, wenn es möglich ist.“
Auch Just von Ahlefeld blickt unsicher in die Zukunft: „Was passiert mit der Clubkultur? Wie lange tragen Leute die Idee noch weiter, wenn sie gar nicht in den Club gehen können? Welchen Stellenwert hat sie? Das ist der große Blindflug ins Ungewisse. Dass die Leute kein Interesse mehr an der Musik haben, ist das, wovor ich ein bisschen Angst habe.“
Ebenso wie Dana Ruh ist er als DJ doppelt betroffen. Auch für sie und Jamie Fry ist die Ungewissheit das größte Problem. „Wir werden erst sehen wie groß der Schaden wirklich ist, wenn alles wieder losgeht“, sagt Dana Ruh. „Je länger es dauert, desto größer wird der Schaden sein.“ Ein Weg für KMA60 ist, ihr Sortiment zu erweitern: Seit Kurzem bieten sie CBD-Produkte im Laden an. Dana Ruh findet dies angesichts der aktuellen Lage passend, soll es doch dabei helfen, die mentale Gesundheit zu stabilisieren. Von der Politik wünschen sich alle LadenbetreiberInnen eine Perspektive. Von den KundInnen vor allem, dass der Kontakt nicht abreißt: „Jetzt, wo wir wieder geöffnet haben, wäre es toll, wenn die Leute einfach vorbeikommen. Auch einfach nur, um Hallo zu sagen“, sagt Jamie Fry. Und Dana Ruh ergänzt: „Haltet die Sache in Bewegung.“
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