Tripbericht: CTM Festival 2022 – "Intimacy means connection"
Das CTM Festival hat alles: das Berghain als eine von vielen Locations, ein überbordend gutes Line-up mit Teilen des Techno-Establishments ebenso wie mit Newcomer:innen, Installation, Filmscreenings, Ableton Masterclass, Hacklab, Konzerte, Visuals, Party und ein begleitendes Awarenessteam. Das diesjährige Motto lautet "Contact" und nimmt damit ein letztes Mal Bezug zur Coronakrise. Nicht zuletzt der Pandemie wegen haben sich die Macher:innen des Festivals dazu entschieden, die 2022er-Ausgabe in zwei Hälften zu teilen. Nach einem unter Pandemiebedingungen stattfindenden Part I Ende Januar wurden die Clubveranstaltungen für Ende Mai angesetzt. Und die Möglichkeiten dieser zweiten Festivalwoche sind so zahlreich, die Veranstaltungen und Locations so unterschiedlich, man kann und wird immer nur einen Teil des Festivals miterleben können. Für diesen Festivalbericht haben sich deshalb auch zwei unserer Autorinnen für euch bei den Konzerten und Partys Ende Mai im Berghain, in der Volksbühne, im Kunstquartier und im SchwuZ in Berlin umgesehen.
Dienstag, Berghain: Pathos, Weltschmerz, Herzklopfen
Nachdem das CTM Ende Januar für den ersten Teil auf pandemiefreundliche Klanginstallationen gesetzt hatte, geht es Ende Mai bei Part II mit einem irgendwie besseren Gefühl unter dem Motto "Contact" zurück in stickige Clubs – allen voran ins Berghain. Das Publikum am Eröffnungstag: Eine all-black gekleidete Mischung aus Locals und Menschen, die der Musik wegen da sind. Und zusätzlich dazu all jene, die sich ein Ticket fürs Berghain gekauft haben, um den Schuppen mal von innen gesehen zu haben.
Und drinnen im Schuppen führen nach Sets von Corin und Elvin Brandhi der Musiker Sote und Visual-Artist Tarik Barri fort, was sie zur CTM 2021 digital begonnen haben: "Forced Absence", das gemeinsame Projekt, das sich verschiedenen Formen der unwillentlichen Abgeschiedenheit, sei es in Zeiten der Pandemie oder aufgrund politischer Tyrannei, verschrieben hatte. Nach all dem erzwungenen Abstand jetzt also wieder, pardon, Contact. Sote klatscht dem Publikum sein neues Album 'Majestic Noise Made in Beautiful Rotten Iran' auch geradezu majestätisch um die Ohren. Uff, wie sehr, merkt man da, hat man es vermisst, in einen so klaren, vollen, mächtigen Sound gehüllt zu werden.
Schon der Titel lässt die zerrissene Gefühlswelt des iranischen Musikers hinsichtlich seiner Heimat erahnen: Elemente klassischer iranischer Musik werden in Synthesizer-Wolken und Bass eingesaugt und mit Noise gepaart. Das ergibt ein großflächiges Wummern, das der perfekte Soundtrack fürs nächste Weltuntergangsszenario sein könnte. Tarik Barri liefert die passenden Bilder dazu. Mal zuckt es bunt auf der Leinwand, bevor die Farbpalette wieder von einem tiefen Schwarz verschluckt wird. So viel Pathos, so viel Weltschmerz, der Sound so maximal wie das Herzklopfen beim Zuhören. Auch die, die zuvor noch auf ihre Telefone oder beeindruckt die Architektur des Berghains beäugt haben, blicken jetzt nur noch auf Bühne und Leinwand. (nvm)
Donnerstag, Berghain: Hexenkessel
Das Programm am Donnerstag im Berghain ist wohl ein Peak-Highlight des Festivals. Wer in dieser Nacht die spärlich beleuchtete Stahltreppe zum großen Floor hinaufsteigt, spürt den Bass, die Vibration, die Menschen, die Energie, die Vorfreude auf eine lange Nacht. Jennifer Waltons Set auf dem Berghain-Floor wird mit frenetischem Applaus beendet, von Punkrock-Zwischenparts bis 'Doctor Jones' von Aqua wurde das Publikum von ihr eingestimmt, auf das, was in dieser Nacht noch folgen sollte: Alles Bekannte, alle Genres sollten ausgehebelt werden.
Bevor sich ein Schwung Leute in die Panorama-Bar verzieht, die ihrerseits zum Hexenkessel mit nichts als Hits, Hits, Hits (inklusive Soulja Boy Remix) mit DJ Fuckoff mutierte, wurde der Berghain-Floor noch zur Bühne für den Liveact Aquarian umgebaut. Nach ein paar Anläufen liefen nach einer knappen Viertelstunde dann auch die passenden Visuals von Sougwen, die die Performance zu einem der technoiden Schlüsselmomente des CTM werden ließen. Die Kombination aus Visuals und Aquarians Live-Performance war so immersiv und spannend, dass man es – ohne zu übertreiben – kaum aushielt. Spannungsbögen ohne gewollten Höhepunkt. Zum Wahnsinnig-werden, aber auch zum Bewundern perfekt.
Die Leipziger DJ Ostbam spielte am frühen Morgen dann noch das beste, schnellste Techno-Closing im Hain, bestechend locker, eigensinnig, frisch und ahnungsvoll; das einfach viel zu früh endete und gleichzeitig ein Versprechen an den nächsten Festivaltag war: There will be more, von allem. (nw)
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Mehr InformationenFreitag, Pt. 1, Volksbühne: Have a seat, please!
Anstrengende Woche bisher. Aber am Freitag ruft zum Glück ein Sitzkonzert. Und was für eins! Den Anfang in der ausverkauften Volksbühne macht Marina Herlop mitsamt vierköpfiger Band. Deren neues Album 'Pripyat' ist gerade erschienen und klingt nicht so dystopisch, wie der Name es vermuten lässt. Ganz im Gegenteil: Die Katalanin mit Princess-Leia-Frisur zwitschert mal wie ein Vögelchen, haucht im nächsten Moment eine zarte Ballade und knallt im wiederum nächsten klare und bestimmende Töne ins Mikrofon. Da kommt eine ganz frühe Grimes durch, mal Björk oder gleich polyfoner Chorgesang. Marina Herlop spielt mit Referenzen ebenso wie mit ihrer Stimme und elektronischen Klangfeldern. So schafft sie ihre ganz eigene Welt, in die man sich fallen lässt und sich einkuschelt, in der man lacht und weint und aufsteht und tanzt – alles zugleich.
Nach einer kurzen Umbaupause folgen Space Afrika. Die beiden Musiker aus Manchester fahren das Ganze wieder etwas herunter. Space Afrika liefern solide ab: Recht klassische, verträumte Ambient-Strukturen treffen auf Dub, Hip-Hop-Elemente und schleppende Beats, dazu laufen verwackelte und grobkörnige Bilder aus Alltag und nächtlichem Leben im Nordwesten Englands.
Von dort geht es weiter an die Ostküste der USA: Moor Mother, Musikerin, Künstlerin und Aktivistin aus Philadelphia, ist laut und sie räumt auf mit Traumata, kämpft gegen Unterdrückung und Diskriminierung. Ihr Sprechgesang, stellenweise einer Predigt gleich, wird mal von schepperndem Beats begleitet, mal von harmonischen Synths oder von hektischem Free-Jazz untermalt, der das Herz aus dem Takt wabern lässt. Einziger Wermutstropfen hier: der Sound. Der Beat ist zu leise und zu dünn, die Stimme stellenweise zu laut, um verstanden zu werden. Standing Ovations am Schluss gibt’s trotzdem – das Warten hat sich für viele dann doch gelohnt. (nvm)
Freitag, Pt. 2, Berghain: Take care of each other
Freitagabend geht es dann wieder im Berghain weiter. Es ist die letzte Nacht in der allseits verehrt-bekannten Location, bevor die Konzerte und DJ-Sets am Wochenende im RSO stattfinden. Nahezu nahtlos gelingt der Anschluss des Closings in der Panorama Bar von Yazzus am Morgen und das Opening im Berghain mit Dormantyouth am Abend. Und wer einige Stunden zuvor noch dachte, es kann keine Steigerung an Dichte, Hingabe und Klimax geben, wurde spätestens bei den Deli Girlz eines Besseren belehrt. Moshpit im Berghain, Schreie ins Mikrofon, schreiendes Publikum. Oft bemüht, aber es passt kein anderes Wort besser: krass, einfach nur krass. Krass gut, krass laut und absoluter Ausnahmezustand.
Man soll gehen, wenn’s am schönsten ist. Gleichzeitig stellt sich nach zwei Berghain-Nächten auch ein gewisser Overload ein, wenngleich es dieses Mal noch länger gehen soll, bis 12 Uhr mittags ist die Schätzung. I Hate Models und Jennifer Cardini, die jeweils um 7 Uhr im Berghain und um 9 Uhr in der Panorama-Bar anfangen, verpasse ich leider. Dennoch: Besser so als andersrum, beide Acts sind auch an anderen Nächten hier zu hören. Die Liveshows dagegen eher selten oder nur beim CTM Festival. (nw)
Sonntag, Pt. 1, Kunstquartier Bethanien: Intimacy means connection #Hacklab
Ein ganz besonderer Pre-Abschluss findet am frühen Sonntagabend statt. Die Abschlussperformance der ausgewählten Künstler:innen des Hacklabs, die seit einer Woche gemeinsam eben jene Performance erarbeiteten und durch einen Open Call zusammengebracht wurden. Auf der Bühne werden Texte gelesen, Haare geschnitten – mit einem Kontaktmikro an der Schere –, es wird getanzt, gerappt, geschrien, an Körpern geleckt, Strom hörbar gemacht, Mantra-artige Wiederholungen von Sätzen und Klängen dargeboten. Publikum und Performer:innen drängen sich gemeinsam in das mit Teppich ausgelegte Studio im Kunstquartier Bethanien in der Nähe des Kottbusser Tor – hier sind die Besucher:innen dem Geschehen und den Künstler:innen so nah wie nirgends sonst.
Alles dem Credo "Intimacy means connection" folgend und von Ariel William Orah und Peter Kirn gehostet. Dieser Programmteil, geradezu bescheiden vor gut hundert Menschen präsentiert, war sicherlich eine der progressivsten und experimentellsten Performances des Festivals. Die neue Avantgarde, konglomeriert und verbunden durch 90 Minuten im Kunstquartier Bethanien. (nw)
Sonntag, Pt. 2: Heimathafen und SchwuZ: Pipi, Hunger, müde.
Eine lange Woche geht am Sonntag zuerst im Heimathafen und anschließend im SchwuZ zu Ende. Statt Long Island Ice Tea gibt’s zum Einstieg in den Abend nur noch Cola. Und: Urin. Die Hardcore-/Punk-/Noise-Band aus Berlin hilft beim Aufwachen, das anfangs müde Publikum kommt langsam und zaghaft ins Wogen. Auf Urin folgen Senyawa. Rully Shabara und Wukir Suryadi werden gerne als die Aushängeschilder der Szene für experimentelle Musik in Indonesien bezeichnet. Der Sound des Duos vereint Avantgarde mit kulturellem Erbe, traditionelle indonesische Musik mit Doom, mit Metal, mit Noise.
Und dann wären da noch Rully Shabaras Stimme, die die komplette Bandbreite zwischen tiefstem Dröhnen und schrillstem Gesang abdeckt, und Suryadis selbstgebaute Bambu Wukir, eine Art Zither aus Bambus und Saiten aus Tierhaut. So viel Schwere, so viel Theatralik in so kurzer Zeit: Keine 45 Minuten stehen Senyawa auf der Bühne und die Kürze der Zeit wird dem, was die beiden Musiker kreieren, nicht wirklich gerecht.
Drei Straßen weiter sorgt im SchwuZ die französische DJ Marylou fürs Warm-up. Sie füllt die anfängliche Leere des Raumes mit ihrem Mix aus Bass, elektronischer Avantgarde und waberndem Dub und nicht zuletzt auch mit Menschen. Hüma Utku folgt und präsentiert, zumindest in Bruchstücken, ihr zweites unter Klarnamen erschienenes Album 'The Psychologist'. Damit kriecht Utku in die düstersten Ecken der Seele, die Bässe so massiv, wie es die Anlage hergibt. Der Sound bewegt sich irgendwo zwischen knarzigem Industrial, grollenden Drones, Field Recordings und Vocal-Experimenten.
Hüma Utku wiegt das Publikum gerade so in der Schwere des Sounds. Das Herz klopft, das Atmen fällt schwer, die mittlerweile stickige Luft flirrt. Vorbei ist der Abend noch lange nicht: Die Beats aus dem Nachbarraum scheppern schon durch die Wände. Wer noch tanzen kann, tippelt schnell weiter zu den karibischen Beats von Grove oder kratzt alle verbleibende Energie zusammen für das treibende Set von BADSISTA aus Brasilien.
Wir wanken nur noch gen U-Bahn. Schön war's, CTM. See you next year! (nvm)
Verfasserinnen: Nastassja von der Weiden & Nikta Vahid-Moghtada
1 Kommentare zu "Tripbericht: CTM Festival 2022 – "Intimacy means connection""
Bei dem Wort "Tripbericht" muss ich immer an Herrn Dipl. Psych. Käseberg denken :)
https://www.youtube.com/watch?v=a1ZSSAWyrw8
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