Auf der Musikmesse gab es in Halle 9.75 die Möglichkeit dem "DJ der Zukunft" bei der Arbeit zuzuschauen. Was ich mal gemacht habe.
Ein kleiner Stand mit Betreibern aus der chinesischen Sonderwirtschaftszone Shenzhen bot einen aus Kamelbartflaum gestrickten und mit allen radioaktiven Regenwassern gewaschenen Helm an. Mit VAN TAH SIE, so heißt das Teil, kann man je nach Version zwischen 5 und 25 Jahre in die Zukunft reisen. Allerdings nur in Großraumdiskotheken.
Da war ich nun also, im Musikpark Görlitz im Jahr 2020. Die gute Nachricht zuerst: David Guetta kennt keiner mehr, die schlechte: DJs generell kennt keiner mehr. Dafür macht Madonna jetzt, nach vier Alben die von Skrillex produziert wurden, in Taustep. Eine esoterische Version poppigen Slowdubfoxes, den ein blinder 14-jähriger Kinderzimmerproducer aus Bamako bekannt gemacht hat. Ja, auch in Mali haben die jetzt Internet. Also dass, was wir heute so nennen würden. Darüber läuft übrigens alles. Alles ist vernetzt, die ganze Gesellschaft. Social Net Acht Punkt Null. Die Facebook-Sache wurde dann doch für alle Pflicht, inklusive allgemein einsehbaren "Detail Day Book". Natürlich mit Klarnamen und lückenloser Positionshistory. Die Trendigen haben schon diese stytlische Chipapp "iMplantant 24/7". Trägt man wie die Inderin ihren Bindi. Spart das manuelle Eintippen seines Tuns am Zentralterminal, wo die Tugendwächter so grimmig guggen. Nachteilig war diese Vernetzung, als ich nach zwei Bier (die gibts noch, aber nur Low Alk und mit schwerem Versicherungszuschlag) nen Toilettenbesuch machte. Genauer: als ich, zurück an der Bar (nur noch Automaten), kein drittes Bier bekam, da zuviel Alk in meiner abgeschlagen Körperflüssigkeit vorhanden wäre. Das war fast wie bei Lincoln Six Echo. Anyway. Hab ich mit nem fossilen Grundwasser aus dem nubischen Sandstein-Aquifer den "Coyote Uglier" Tänzerinnen zugesehen und dabei versucht mittels der, auf der Wasserflasche kommunizierten, Schluckanleitung high zu werden. Klappte unzulänglich.
Kommen wir zur Musik. Die war da. Videos auch. Es lief allerdings eine Playlist über die Boxen der "Function For EveryOne" Anlage. Mit fettem Bass, dank der integrierten MP5 Aufbereitung. Wie mir der Manager erklärte, verfügt die Disko über Zugang zum "Projekt Claudia" und somit zu 97,2% aller jemals veröffentlichten Musikstücke. Verwaltet wird die Cloud Claudia interessanterweise von der GEMA, die noch immer so heißt. Die Idee dazu hatte Doktor Dotcom, bevor er GEMA-Vorstand wurde (das ist jetzt nen börsennotiertes Unternehmen), im amerikanischen Gefängnis. O-Ton Manager: "Die Cloud ist zwar teurer als alle DJs zusammen, aber der Stress mit den Gästen fällt ebenso weg, wie der Firlefanz, von wegen eigener Musikgeschmacks beim DJ. Eh alles nur Egotrip und Komplexkompensation". Es wird nach Erfahrungswerten und zusammen mit Radio NRJ, die den Zuschlag bei der Vergabe der Netzsendeplätze erhalten haben, eine grobe Playlist erstellt. Diese wird unterstützt von der Software "Tanzstatistik", welche mit der Videoraumüberwachung gekoppelt ist. Auch das Publikum kann über "die üblichen Networks" vorab Wünschen vortragen. Stammgäste mit Goldkarte haben dabei vierfaches Wunschgewicht. Selbst direkt am Abend kann man noch Einfluss nehmen. Je nach investiertem Betrag kann man sogar seinen Wunschsong sofort bekommen oder andere Wünscher auswetten. Nervig sind nur die neureichen Kubaner, die jetzt immer nach Europa reisen und trotzdem ihren Salsa tanzen wollen. Aber für 8000 DM (ja, die gibts wieder) kann man das schon mal machen. Zumal sich jeder weitere Musikwunsch im Preis verdoppelt. Frag ich: "Aber fehlt nicht der DJ?". "Nee. Die haben zum Schluß eh nur noch mit ihren kinetischen Controllern genervt. Ein Gewackel und Geschraube und keiner hat gecheckt, was die wirklich machen. Hauptsache bunt und nach Choreografie von Ian Golden. Noch schlimmer waren die Typen mit dem "Gianto-Emulator". Das war ne Art Twisterspiel, bei der der Bühenboden gleichzeitig die Bedienelement der Software darstellte, welche der "Performance DJ" durch Tanzmoves steuerte. So wie Breakdance im Frühstadium, nur spastisch. Und dann die Dinosaurier mit den Plattenspielern von 1999. Der aktuellste Hit von 2015, dafür aber sechs Minuten ausgespielt und den Übergang zwischen zwei Platten durch nen "NO SYNC BUTTON USED" Licht angezeigt. Nee, Nee - die sind bei ihren nerdigen "Vinyl Only" Parties besser aufgehoben. Gibt es in fast jeder Großstadt nen kleinen Club für. Fördert der Staat, weil Museum. Hat dafür aber auch nur Sonntags nachmittag auf." Hierbei musste ich an die "Bar25" und ein in die Spree fallendes iPhone denken, woraufhin zwei Schweißtropfen an der VAN TAH SIE was kurz schlossen. "Tja, never trust the chinese man on musikmesse" dachte ich noch, während die Reinigungskraft mit dem Staubsauger gegen meine Turnschuh fuhr. Alter, schon nach sieben. Hab ich echt ne Stunde auf dem unbequemen Stuhl in dieser öden Halle gepennt? Nix wie raus hier.
0 Kommentare zu "Ein Reisebericht aus dem Jahr 2020"