Up and Coming – Epikur: "Unsere Ästhetik ist 'Night Drive Trance'"
Okay, also: Epikur. Hamburg, Berlin, DJ-Duo, waren mal ein Paar, jetzt nicht mehr, haben gemeinsam das Clubben und Auflegen entdeckt – und legen auch nach ihrer Trennung weiterhin gemeinsam auf: Eddie und Nadja. Nadja ist als Cryptofauna als DJ bekannt und Teil von TILT und Dissident, zwei Berliner Crews. Sie lebt in Neukölln, was schon die schlechte Internetverbindung beim Videocall verrät. Eddie ist Label-Betreiber, Musikproduzent und spielt in einer Garage-Band namens Sick Hyenas. Die beiden kennen sich seit ihren Teenagertagen, eine unfassbar lange Zeit im schnelllebigen Nachtkulturbetrieb. Unsere Autorin hat das Duo zum digitalen Gespräch getroffen und kennenlernen dürfen. Wie das Melt-Festival die gemeinsame Karriere der beiden geprägt hat und was der Name Epikur bedeutet, lest ihr im Interview.
Das Bild am Laptop stottert ein wenig, aber sie sind da: Eddie und Nadja alias Epikur. Ein bisschen verspätet, es ist schließlich (schon oder erst) Montag. Alle sind froh darüber, dass es nicht um Punkt 10, sondern eher gegen halb 11 mit dem Gespräch losgeht. Die zwei lachen und sind nach kurzem Smalltalk ready, einige Fragen zu ihrer DJ-Karriere und ihrer Geschichte zu beantworten.
DJ LAB: Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Beim Auflegen?
Nadja: Wir waren 15 und 17, als wir uns über gemeinsame Freunde und Freundinnen auf einem Festival bei Kassel getroffen haben. Zu der Zeit waren wir noch im Punkrock unterwegs, elektronische Musik war noch kein Thema. Das kam erst später.
Eddie: Wir sind damals zusammengekommen und irgendwann, nachdem wir verschiedene Musikgenres durchhatten, sind wir dann auf elektronische Musik gestoßen. 2010 waren wir das erste Mal beim MELT-Festival – von da an waren wir hooked und voll drin.
Nadja: Genau. Erst waren es' Punk, Rock und Indie, dann kam die Elektroclash-Phase mit Ed Banger und so weiter. Und schließlich Techno.
DJ LAB: Habt ihr denn auch eine frühkindliche, musikalische Prägung? Also prägende Wurzeln, die weiter zurückreichen?
Eddie: Früher habe ich für die engsten Freunde meine Lieblingssongs auf CDs zusammengestellt, damit wir sie zusammen im Auto oder zu Hause hören konnten. Damals war es meistens Garage-Rock, irgendwann kamen dann auch House und Techno dazu. Das hat sicher eine gute Basis geschaffen für das Selektieren von Musik beim Auflegen. Außerdem war beziehungsweise ist mein Papa Gitarrist in verschiedenen Hamburger Punk-Bands. Da war ich schon als Kind immer mit auf Tour und das ganze Umfeld meiner Eltern, die alle total auf Musik und ihren Lifestyle geflashed haben, hat mich extrem geprägt.
Nadja: Ich komme aus einem musikalischen Elternhaus. Wir hatten ein Musikzimmer mit einem Set-up für eine komplette Coverband. Meine Eltern haben auch ihre eigenen Songs geschrieben, allerdings ohne akademischen Hintergrund. Ziemlich DIY, echt cool aus heutiger Sicht. Aber sie haben mich nie so richtig dazu bekommen, da mitzumachen, was wohl in der Natur der Sache liegt als junger Mensch. Dafür habe ich Anfang des Monats mein gesamtes Taschengeld in der CD-Abteilung in der lokalen Drogerie gelassen. Auf Klassentrips habe ich mich auf den Busfahrten mit meinem Discman abgekapselt. Das habe ich dann aber wieder gutgemacht, indem ich die bösen Mädels und Jungs abends auf den heimlichen Zimmerpartys mit meiner Boombox oder CD-Sammlung beglückt habe (lacht). Und wir hatten in der Mittelstufe ein Format, ich glaube, es hieß Pausen-Disco. Einmal in der Woche haben da in der großen Pause Schüler aufgelegt, natürlich immer die coolsten. Leider nur Jungs. Trotzdem hat mich das damals schon total fasziniert. Dieser Moment, wo aus der drögen Schule durch ein paar Faktoren, Musik und Licht, diese andere, wildere Welt wird.
DJ LAB: Warum legt ihr als Duo auf? Wie kamt ihr zu dieser Entscheidung und was hat euren Sound geprägt?
Nadja: Das Ding mit dem Duo war weniger eine bewusste Entscheidung als eine natürliche Entwicklung. Wir waren ja sowieso ein Paar und dadurch auch zusammen unterwegs. An einem random Montag standen wir plötzlich in einem Hamburger After-Club, mit großen Augen – natürlich nur, weil wir so gestaunt haben (lacht) – und dachten uns: Was zur Hölle ist das? Wir waren beide ja sowieso schon total into it, Musik war schon immer alles für uns. Nach ein paar Streifzügen durchs Hamburger Nachtleben stellte dann eine oder einer von uns, wir wissen leider nicht mehr wer, die entscheidende Frage: Warum fangen wir nicht auch an mit diesem DJ Ding? Und dann haben wir bei eBay Platten bestellt.
Eddie: Genau! 150 gebrauchte Platten haben wir damals ersteigert, total random (lacht). Da war auch viel bleepiger Berliner Tech-House mit diesem touch Micro-House dabei und rückblickend auch viel Unbrauchbares, aber diese für uns erste legendäre Bestellung war perfekt zum Üben. Daraus entstand dann auch unser Sound: nach eBay kam natürlich Discogs. Und da hatten wir uns dann auf das Diggen von 90er-Platten spezialisiert. Da ging es los mit Platten von Peace Frog, aber auch Trax Records, Transmat und Relief zum Beispiel.
Nadja: Und Cajual Records! Oder Djax Up Beats, Underground Resistance natürlich. Neben dem für die Zeit typischen Mid-2000er-Tech-House kamen dann Platten von Labels dazu, die den Sound und vor allem auch die Wurzeln von House und Techno geprägt haben. Das zu durchforsten, hat damals schon extrem Spaß gemacht, ein bisschen wie bei Saturn die neuen CDs durchzuhören. Vor allem auf Compilations gab's auch immer viel auszusortieren, aber so entdeckt man eben auch die Gems.
DJ LAB: Und wie kamt ihr zu eurem ersten Gig?
Eddie: Der hat sich dann ziemlich schnell ergeben. Über meinen Bruder, der Hip-Hop-DJ ist, hatten wir schon ziemlich gute Connections ins Nachtleben. Der hatte uns zum Kickoff auch seine Plattenspieler vermacht. Ein Freund von ihm hat uns dann ziemlich schnell in die coolsten Clubs in Hamburg reingeholt. Dafür sind wir ihm heute sehr dankbar, deshalb an dieser Stelle nochmal: Danke, Daniel!
Nadja: Damals lief alles noch viel mehr über Vitamin B, da es nur Facebook gab und das wurde ja nicht so wie Instagram heute zur Promo genutzt. Da hat man seine Veranstaltungen und Mixe gepostet und einmal im Jahr vielleicht mal ein Foto von sich.
DJ LAB: Wo du gerade schon von Hamburg sprichst: Ihr seid in Hamburg und Berlin ansässig und Residents im Hamburger PAL-Club. Warum die örtliche Trennung?
Eddie: Für mich ist Hamburg meine Base und ich fühle mich hier gerade immer noch sehr gut aufgehoben. Ich habe viele Freunde, meine Familie lebt hier und ich bin sowieso alle zwei Wochen in Berlin. Die Hauptstadt ist schon der place to be, keine Frage. Erst recht jetzt, wo viele Clubs in Hamburg dicht machen mussten – die Locations, in denen Nadja und ich angefangen haben, gibt es nicht mehr. Übrig geblieben sind das Übel und Gefährlich, der Pudel und der Südpol. Das ist zu wenig. Auch das PAL, unsere Resident-Heimat, hat bisher leider auch nicht mehr als eine Off-Location auf Zeit gefunden. Alle suchen, aber es gibt nichts Bezahlbares.
Nadja: Ich freue mich immer, wenn ich in Hamburg bin – aber Berlin will ich nicht mehr missen. Hier habe ich die Geschwindigkeit und die Vielfalt, die ich brauche. Das Überangebot kann auch ein Nachteil sein, klar, aber in den vier Jahren hier habe ich etwas gelernt zu lieben: Jomo. Joy of missing out. Ein solches Problem hat man in Hamburg zwar nur an manchen Wochenenden, dafür habe ich dort einfach eine gewisse Enge gespürt. Ich musste irgendwann einfach aus der Stadt raus, um mit dem Auflegen den nächsten Schritt gehen zu können.
DJ LAB: Was sind eure liebsten Momente beim Auflegen, gibt es einen Schlüsselmoment, neben dem Montagmorgen-Afterhour-Club-Moment, in eurer gemeinsamen Zeit?
Eddie: Unser Gig beim MELT-Festival 2022 ist rückblickend eins unserer Highlights. Dort hat ja zig Jahre vorher auch irgendwie alles angefangen. Am selben Ort mehr als zehn Jahre später dann selbst einen Gig zu spielen, bei dem auch noch alles gepasst hat, das war schon einer unserer prägendsten Momente bisher.
Nadja: Wir haben dort, glaube ich, auf dem schrägsten Dancefloor der Welt gespielt, an einem steilen Hang, von der Nacht in den Tag hinein. Über dem See ist die Sonne aufgegangen, alles war irgendwie orange, die Menschen, die Bäume. Bis ein unerwarteter Regenschauer kam. Genau in dem Moment haben wir dann "Sweat Your Prayers" von Byron Yeates gespielt, der Track war schon in meiner Playlist. Die Vocals des Tracks gehen so: "Raindrops falling, all around". Alles an dem Morgen hat zusammengepasst. Und fast alle sind geblieben, trotz des Regens. Oder gerade deshalb? Ich werde heute noch ab und zu im Club auf dieses Set und diesen Moment angesprochen. Im Laufe einer DJ-Karriere sammelt man viele Momente, aber nur wenige bleiben so lebendig in Erinnerung wie dieser.
DJ LAB: Wie probt ihr, wie kommuniziert ihr, wie managt ihr das Projekt derzeit?
Nadja: Vor dem Auflegen habe ich eine Ausbildung zur Texterin und Redakteurin gemacht. Deshalb übernehme ich logischerweise den Part von Social Media. Eddie kümmert sich im Gegenzug um die Bookings. Weitere Kommunikation mit Labels und Clubs teilen wir uns auf.
Eddie: Für sehr wichtige Gigs treffen wir uns in real life und wenn es mal nicht anders geht, callen wir oder schicken uns Tracks zwischendurch zu. Wir bereiten uns immer mindestens auf den Vibe des Abends vor, telefonieren und stecken ab, wohin es soundmäßig so gehen kann.
Nadja: Diese besondere Dynamik, die sich entfaltet, wenn wir zusammen in der Booth sind, die ist allerdings nicht planbar. Die entsteht einfach so. Ich denke, das funktioniert deshalb, weil wir schon so lange zusammen Musik machen. Ein gewisser Flow entsteht da ziemlich von selbst. Wir haben irgendwann mal den Begriff "Night Drive Trance" erfunden, um unsere Ästhetik zu beschreiben: Es bockt, weil es groovt. Vielleicht fährt man für eine kurze Zeit auch mal eine sehr schnelle und intensive Schiene, aber es wird insgesamt nie zu in your face. Alles um uns herum verliert kurz den Fokus, bewusst entsteht Chaos und ordnet sich dann wieder neu. Das macht für uns auch den Moment auf der Tanzfläche aus.
DJ LAB: Was bedeutet der Name "Epikur"? Google sagt: Epikur ist der Glücksforscher. Wie und warum kamt ihr darauf, welche Verbindung gibt es zu eurer Musik?
Nadja: Ich bin ins Internet rein und mit diesem Namen wieder raus. Epikur war der Begründer der philosophischen Schule des Hedonismus, deren Idee heute oft fehlinterpretiert wird. Im Kern stellte Epikur das Lustprinzip auf: Die höchste Form von Lust ist die Abwesenheit von Schmerz. Um das zu erreichen, forderte er den Verzicht auf zu großes Vergnügen. Denn, wie wir alle wissen, folgt darauf natürlich wieder pain. Also das Prinzip "what goes up must come down." Seine Sicht wirkt heute natürlich radikal, vor allem aufs Nachtleben bezogen. Unsere Definition von Epikur beschreibt am Ende das Gefühl des "based seins" durch den richtigen Mix aller Faktoren, die eine Clubnacht prägen. Und eben auch der Tracks, die wir für ein Set auswählen. Wir spielen natürlich gerne Banger.
Eddie: Total. Die Kunst ist es dann aber, diese so zu platzieren, dass sie den leuchtenden Moment bekommen, den sie verdienen und nicht in einem Meer aus Bangern untergehen. Der Flow soll erhalten bleiben und eine vorher erzeugte Deepness zum Beispiel wollen wir dann weitertragen, statt uns komplett zu verzetteln. Was natürlich passieren kann bei diesem Ansatz. Wir lieben diese Challenge beim Auflegen und wir können das inzwischen sehr gut zusammen.
Für uns haben die beiden noch eine gemeinsame Auflege-Session eingelegt und uns einen Epikur-Mix exklusiv für DJ LAB geschickt. Es bleibt nicht viel zu sagen, außer: Enjoy the Night Drive Trance.
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