Essentials: Acid – Säure, Drogen und die TB-303

Essentials: Acid – Säure, Drogen und die TB-303

Features. 3. März 2024 | 4,7 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Die Ursprungslegende von Acid ist in Stein gemeißelt wie bei keinem anderen Genre. Sie geht so: Drei Jungs aus Chicago spielen an einem Bass-Synthesizer herum, ohne sich einen Deut um die Gebrauchsanweisung zu kümmern. Quäkende Sounds quillen aus dem kleinen silbernen Kasten, ein Aha-Moment: Das klingt schräg, anders – einfach geil! Findet zuerst eine lokale Produzentengröße und später auch ein DJ, der das erste, elfminütige Stück des Trios auf Kassette zugespielt bekommt und gleich in sein nächstes Set im wichtigsten Club der Stadt einfließen lässt.

Zuerst spielt er den Floor leer. Also legt er ihn später noch mal auf und hält damit immerhin ein paar Leute auf der Tanzfläche. Und dann noch ein drittes Mal. Und ein viertes Mal, gegen vier Uhr morgens, als die Drogen ihre Wirkung entfaltet haben und damit auch die Party ihren Höhepunkt erreicht. Es kommt zu wilden Szenen. Menschen rollen auf dem Boden, springen durcheinander und schreien – Acid ist geboren.

Die drei jungen Männer sind auch als DJ Pierre, Spanky und Herb Jackson bekannt und gaben sich als Gruppe den Titel Phuture. Der Name der Produzentenlegende lautet Marshall Jefferson, der DJ hieß Ron Hardy und der Club natürlich Music Box. Der Synthesizer, der ursprünglich als Ergänzung zu Rolands TR-606 geplant war, ging als TB-303 in die Geschichte ein – und das, obwohl die Firma die Produktion einstellte, nachdem nur 20.000 Exemplare über die Ladentheke gegangen waren. Acid war ein unwahrscheinlicher Unfall, der die Musikwelt für immer verändern sollte.

Nicht nur in Chicago, vor allem in Großbritannien kommt der neue Sound bestens an. In Clubs wie Shoom und Trip in London findet Acid einen idealen Nährboden, eine unbändige Aufbruchstimmung macht sich breit. Der sogenannte Second Summer of Love bricht an und scheint ein paar Jahre anzuhalten. Aus Manchester wird Madchester, in Berlin dröhnen während der ersten Loveparade 303-Sounds durch die Straßen – Acid wird zum Soundtrack einer ganzen Generation.

Obwohl viele Acid-Purist:innen selbst heute nur das als Acid gelten lassen wollen, was auf die kleine Roland-Box zurückgreift, so ist nicht alles, was mit einer TB-303 produziert wurde, auch gleich Acid. Der im Jahr 1981 erstmals erhältliche Synthesizer fand schon Verwendung, bevor Phuture seine psychedelischen Qualitäten entdeckten. Im Pop-Bereich (Imagination – In the Heat of the Night), der britischen Post-Punk-Szene (Orange Juice – Rip It Up) wurde sie ebenso wie im Italo Disco (Alexander Robotnick – Problèmes d’Amour und My Mine – Hypnotic Tango) oder im Hip Hop (Newcleus – Jam On It) verwendet – selten aber klang das wirklich nach dem originalen Acid-Sound. Am nächsten kam dem Charanjit Singh mit seinem mittlerweile legendären Album Synthesizing – Ten Ragas to a Disco Beat aus dem Jahr 1982.

Obwohl der 2015 verstorbene Session-Musiker für zahlreiche Bollywood-Filme im Miteinander von straighten Kickdrums dem späteren Acid-Sound sehr nahe kam: Seine Rolle als Vorreiter wurde bei der nachträglichen Entdeckung seines Werks in mehrerlei Hinsicht etwas zweifelhaft. Denn nicht nur gelang Singh etwas ganz Eigenes, auch hatte seine Musik in Chicago niemand gehört, als dort die erste Acid-Single überhaupt erschien. 'Acid Tracks' war der definitive Startschuss des Genres.

Über drei Jahrzehnte später ist eines der drei Phuture-Mitglieder, Earl “Spanky” Smith Jr., bereits verstorben, ebenso wie lange zuvor Ron Hardy die Kanzel für immer räumen musste. Clubs wie Shoom oder Trip existieren nicht mehr, der Second Summer of Love ist nicht mehr als eine Fußnote in der Geschichte Großbritanniens und auch die Loveparade gibt es nicht mehr. Acid aber ist geblieben, hat sich weiterentwickelt und dabei doch nichts von seiner Faszination verloren. Die folgenden sechs essenziellen Tracks aus dem Acid-Universum sind Meilensteine in der Entwicklung des Acid-Sounds – sie zeigen, wie sich das Genre nach dieser einschneidenden Nacht in der Music Box weiter und weiter entwickelt hat.

Sleezy D – I’ve Lost Control (1986)

'Acid Tracks' markierte den Startschuss, doch wurde ein anderer Track zuerst auf Vinyl gepresst. Obwohl Phuture und Jefferson den Track ihren Angaben nach im Jahr 1985 produziert hatten, sollten bis zu seiner ordentlichen Veröffentlichung durch das Chicagoer Label Trax noch zwei Jahre verstreichen. Eine halbe Ewigkeit in der sich damals schon schnell drehenden Szene. 1986 erschien 'I’ve Lost Control' von Sleezy D auf Trax und sendete so das erste Signal der Acid-Revolution durch die Welt. Nur wer war das eigentlich – Sleezy D? Derrick Harris, der im Sommer des Jahres 2019 verstarb, war ein Freund desselben Marshall Jefferson, der schon bei der Entstehung von 'Acid Tracks' eine tragende Rolle spielte.

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Harris spielte für seinen hyperproduktiven Kumpel den Kurier und brachte dessen neueste Aufnahmen zu Ron Hardy in die Music Box. Der Legende nach gab er sich sogar hin und wieder selbst als deren Produzent aus. Zumindest in einem Fall stimmte das allerdings. Oder? Obwohl Jefferson in Interviews mittlerweile mit großer Selbstverständlichkeit andeutet, dass er sowohl 'Acid Tracks' als auch 'I’ve Lost Control' im Alleingang produziert hätte, verzeichnet das Label der Erstpressung jedoch ganz klar Sleezy D. und Virgo (ein Pseudonym Jeffersons) als deren Urheber.

New Order – Blue Monday (So Hot Mix By 808 State) (1988)

Im Jahr 1988 erlebte Acid in Chicago eine Hochkonjunktur. Mr. Fingers’ 'Acid Attack', Maurice’ 'This Is Acid (A New Dance Craze)', DJ Pierres 'Box Energy', Armandos 'Confusion’s Revenge' – zahllose ikonische Singles erschienen quasi im Wochentakt. Auch in Großbritannien wurde der neue Sound begierig aufgesogen und Labels wie Desire veröffentlichten Singles von US-amerikanischen Künstlern wie Bam Bam und Charles B, dessen Track 'Lack of Love' von Adonis produziert wurde. Was fehlte, war ein sich direkt auf dem UK speisender Sound. Abhilfe sollten Matin Price, Graham Massey und ein gewisser Gerald Simpson schaffen, der im Juni 1988 mit 'Voodoo Ray' einen der ersten großen Hits der frühen britischen Rave-Szene veröffentlichte. Zuerst aber legte er gemeinsam mit dem Plattenladenbesitzer Price und dem Drum Machine Enthusiasten Massey im Januar die LP Newbuild vor, welche zur Blaupause des britischen Acid-Sounds wurde.

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Zur selben Zeit werkelte das Trio allerdings auch an einem Remix für New Orders Mega-Hit 'Blue Monday'. Obwohl das Stück zu einer Hymne des für die britische Szene so zentralen Club Haçienda wurde, ging die Aufnahme verloren – bis Massey in seinem Archiv eine Aufnahme fand und sie gemeinsam mit einem Remix von New Orders 'Confusion' im 2004 neu aufgelegt wurde. Die Mischung aus hartem, repetitiven Acid und den New-Wave-Elementen des Originals vereint die Quintessenz des genuin britischen Acid-Ansatzes in sich, wie er den Second Summer of Love prägen sollte.

Miss Djax – Killer Train (1995)

Während Großbritannien rasend schnell eine eigene Acid-Szene bildete, zeigte sich Kontinentaleuropa musikalisch breiter aufgestellt und deshalb etwas träger. Doch mindestens eine Frau hielt die Fahne für den originalen Chicagoer Sound hoch und verhalf vielen Produzent:innen aus der Windy City zu ihren ersten Releases und Auftritten in Europa: Saskia Slegers alias Miss Djax kurbelte wie niemand sonst mit ihrem Label Djax Records und deren verschiedenen Sublabels den Austausch zwischen Nordamerika und Europa an. Alan Oldham, Mike Dearborn, Glenn Underground, Paul Johnson, Steve Poindexter, Felix da Housecat – unzählige Produzenten aus den USA lieferten ihr erstes Übersee-Release bei Djax ab.

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Der Acid-Sound war schon immer eine besondere Leidenschaft von Slegers, die spätestens ab ihrem MayDay-Auftritt im Jahr 1992 zu den größten DJs der europäischen Szene gehörte. Als Produzentin trat die Niederländerin allerdings erst später in Erscheinung, ließ die TB-303 dann aber quäken und plärren. Der Track 'Killer Train' von ihrer zweiten EP Miss Djax vs The World beispielsweise ist die perfekte Synthese von Detroit-inspiriertem 909-Worship und einer zuckelnden 303-Bassline, die ihrerseits zum Vorbild für nachfolgende Generationen wurde – vergleiche etwa Gunnar Haslams 'Overcomplete' von 2014.

AFX – Lisbon Acid (2005)

Ließ sich der harte Acid Techno, wie ihn Miss Djax mit ihrem Label oder Produzenten wie Emmanuel Top und BBE, Hardfloor, Richie Hawtin als Plastikman oder Dave Clarke geprägt haben, an Härte noch toppen? Selbstverständlich, es musste nur ein Richard D. James an die Regler treten. Der war als großer 808-State-Fan von Anfang an infiziert. “Es war der nächste Schritt nach Chicago-Acid und so sehr ich das liebte, konnte ich mich doch besser mit 808 State identifizieren.”, erinnerte er sich an seine erste Begegnung mit Newbuild. “Es schien kälter und zugleich doch menschlicher.” Das sind Worte, mit denen sich zugleich James’ eigene Musik bestens beschreiben lässt.

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Nachdem er mit den zwei sehr unterschiedlichen Ausgaben seiner Selected Ambient Works, zwei weiteren Alben und einer Reihe von unterschiedlichen Releases in unterschiedlichen Formaten und unter verschiedenen Namen die elektronische Musik von Grund auf revolutionierte, wurde es um die Jahrtausendwende recht still um James, bevor er sich 2001 mit der LP Drukqs zurückmeldete. Kein anderes seiner Alben polarisierte dermaßen. 2005 folgte mit der Analord-Serie aber wieder erstklassiges AFX-Material, das mit analogem Equipment hergestellt wurde. Tracks wie 'Lisbon Acid' von der siebten Ausgabe brillierten mit zeitgenössischen und komplexen Acid-Interpretationen – gleichermaßen kalt und menschlich.

Recondite – Tie In (2012)

In den Nullerjahren hatte Acid dabei allerdings keinen sonderlich guten Stand, Minimal war der Sound des Jahrzehnts. Mit der Ausnahme weniger Trutzburgen wie dem britischen Festival Bangface oder dem mittlerweile in Wien ansässigen Produzenten Tin Man tat sich in Hinsicht auf Acid recht wenig. Ein Umbruch allerdings fand Anfang dieses Jahrtausends statt, als eine neue Generation die emotionalen Qualitäten des Acid-Sounds zu erforschen begann. Recondite hatte 2011 mit drei viel beachteten EPs auf seinem eigenen Label Plangent auf sich aufmerksam gemacht, sein Debütalbum allerdings veröffentlichte Lorenz Brunner auf Absurd Recordings beziehungsweise dessen Oberlabel mit dem sprechenden Namen Acid Test.

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Recondites On Acid mag für Genrepuristen in seiner Produktion und Grundstimmung keine authentische Acid-Platte sein – zu glatt scheint sie im Sound, zu melancholisch wird dort der psychedelische Klang ausgewälzt. Doch ist der Einfluss der acht Stücke auf die Techno-Welt nicht zu leugnen. Stücke wie 'Tie In' stellten einen Brückenschlag zwischen der typisch verhaltenen Dial-Ästhetik von Pantha du Prince oder Efdemin und dem Deep-House-Hype dieser Zeit dar: Zuhausehör-Acid für den Morgen danach, bisweilen auf den Club, vor allem aber auf die Couch zugeschnitten.

Evol – Ideal Acid (2018)

Neben solchen Neuerungen unterlag Acid in den letzten drei Jahrzehnten ähnlichen Schwankungen wie andere (Sub-)Genres: Hype und Erschöpfung gaben sich die Klinke in die Hand. Wo in der einen Sekunde noch alle nach Acid schrien, krähte in der nächsten schon (fast) wieder kein Hahn nach den irrlichternden 303-Sounds. Eine Grundfaszination blieb immer und nicht selten trug sie bizarre Blüten. Smiley-Faces, Auflagen von exakt 303 Schallplatten pro Release wie beim Label I Love Acid und jede Menge Geblubber, Gequietsche und Gekreische – Acid ist zum Fetisch geworden. Keine andere Platte drückte die manchmal sehr übertriebene Huldigung des Genres und seines spezifischen Sounds besser aus als Ideal Acid des Duos Evol.

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Roc Jiménez de Cisneros und Stephen Sharp sampelten für sie 303 Acid-Stücke für die natürlich auf gelbem Vinyl gepresste und auf 303 Stück limitierte Platte und erstellten so eine Art Acid-Mega-Mix im Kurzformat. Überraschend war das kaum, denn Evol sind für solche Stunts bekannt: Ihr FACT-Mix von 2012 brachte 105 Tracks zusammen, die den klassischen Hoover-Sound verwendeten – in unter 50 Minuten, wohlgemerkt. Ideal Acid ist noch kürzer, hektischer und unaufgeräumter, eher akademisch als euphorisch und obendrein bewusst bescheuert. Acid-Geschichte, wahllos durcheinandergewürfelt. Aber auch ein schöner Kommentar auf ein Genre der elektronischen Musik, das sich über nur eine (Fehl-)Funktion eines einzigen Instruments definiert und nicht selten mit reaktionärer Nostalgie verteidigt wird.

Essential Clothing - Can't Decide

Was hörst du so für Musik? Eine kleine aber essentielle Frage, die oft als Gesprächsöffner dient und zumeist in langen Gesprächen endet. Denn die Liebe zur Musik ist Ausdruck unserer Persönlichkeit und verbindet uns mit anderen. Aline Piplies und Marvin Uhde nahmen diese Frage als Anlass und gründeten das Modelabel Can't Decide. Die beiden Designer aus Leipzig sind tief verwoben mit der elektronischen Musik und der dazugehörigen Subkultur und arbeiteten unter anderem mit Perel, dem Institut für Zukunft oder dem Nachtdigital Festival. Mit ihren handbestickten Pullovern, T-Shirts und Hoodies kann man die eigene Genrezugehörigkeit und Verbundenheit zur elektronischen Musik nach außen tragen. Techno, Gabber, Ambient oder direkt alles? Well, can't decide! Und deshalb gehört auch der Acid Sweater in unsere Essentials:

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Spotify

Viele der Klassiker, die in unseren Essentials aufgeführt werden, lassen sich aufgrund ihres Alters oder Nischenstatus nur über YouTube finden, daher verwenden wir in unserer Auflistung überwiegend diese Plattform. Um aber auch mobil einen leichten Zugriff zu haben, tragen wir bei Spotify auffindbare Tracks in thematischen Playlists zusammen und ergänzen diese um weitere Beispiele aus dem jeweiligen Genre.

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Veröffentlicht in Features und getaggt mit 808 State , Absurd Recordings , Acid , Acid Test , AFX , Blue Monday , Evol , I’ve Lost Control , Ideal Acid , Killer Train , Lisbon Acid , Miss Djax , New Order , Recondite , Sleezy D , So Hot Mix , TB-303 , Tie In

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