Jungle: Die prägendsten Tracks der 90er Jahre
Jungle war Grunge auf Steroiden, eine Reaktion auf den rauschvernebelten Liebestaumel, die Hardcore-Schreddermaschine für rosarote Brillen nach dem Rausch. Es war der Reality-Check für eine Szene, die Polizeigewalt und Rassismus in der Gesellschaft erfuhr, die sich ihren eigenen Raum, ihre eigene Subkultur schaffen musste, weil sich Politik und Wirtschaft gegen sie stellten. Deshalb heulten Sirenen über Basslines. Deshalb ratterten Breaks aus den Boxen wie Salven aus einem Gewehr. Deshalb klemmte das Messer zwischen den Zähnen.
„Hätte man 1989 eine Jungle-Platte aus dem Jahr 1993 aufgelegt, alle hätten gewusst, wie die Zukunft klingt“, schrieb der Kulturtheoretiker Mark Fisher. Ende der 80er, als die Nachbeben des Summer of Love billiges Ecstasy auf White-Collar-Raves verfrachteten und das House-Ding zum Ausverkauf stand, zerschmetterten ein paar DJs in London Vierviertel-Hymnen und zogen sich mit Hip-Hop-Platten zurück – um die Scheiben auf 45 Umdrehungen in der Minute abzuspielen, mit Akai MPCs zu sampeln und über Techno zu knallen.
Die Zukunft klang nach Hardcore. Nach Beats aus dem Fleischwolf. Und digitaler Entfremdung mit Bässen, für die Atheisten in Weihwasser plantschten. Eine Generation, die mit dem DIY-Ethos des Punks aufwuchs, hatte plötzlich Zugriff auf Sampler. Produzenten wie DJ Hype, Lennie De Ice und die Ragga Twins stellten sich die Teile in ihre Schlafzimmer. Sie schliffen Dub, Reggae und Hip-Hop durch Effektgeräte. Beats hämmerten über Bässe als hätte eine Baustelle Speed in den Zement gemischt. Gleichzeitig schossen Labels wie Shut up & Dance, Reinforced und Kickin’ aus dem Boden. Der Soundtrack für das urbane England der 90er ballerte über Pirate Radio Stations und drehte sich auf Dubplates, verkauft aus dem Kofferraum ausgeliehener Ford Fiestas.
„Es ging um den Vibe, deshalb entstanden Tracks, die überall für Chaos sorgten – von verrauchten Kellerclubs bis zu illegalen Warehouse-Raves mit 10.000 Leuten“, schreibt Paul Terzulli. Mit „Who Say Reload – The Stories Behind Classic Drum & Bass Records of the 90s“ hat der Brite ein Buch geschrieben, das die Entwicklung von Jungle nachzeichnet. Banger für Banger, Story für Story. Für die Veröffentlichung auf Velocity Press sprach er mit B-Boys, Label-Guys und Jungle-Pionier*innen. Um einen Rückblick zu wagen in eine Zeit, in der sich ein Teil von House und Happy Hardcore löste und dem Pillen-Smiley die Augen ausstach.
Auch wenn Jungle heute keine Schockwellen mehr in den Boden stampft, gechoppte Amen Breaks und heilige Subbässe galoppieren weiter. Wer sich an Clubnächte erinnern kann (hach!), hat den Moment vor Augen, in dem ein DJ nach sieben Stunden Geballer zum Closing einen Jungle-Track rausschießt. Producer wie Coco Bryce, Outer Heaven, Sully und Special Request bespielen mittlerweile eine Gegenwart, die schon lange nichts mehr von der Zukunft gehört hat, im Gegenteil. Trotzdem: Der Breakbeat lebt, spukt, sucht heim. Diese zehn Tracks führen zurück in die 1990er. Zurück zum Anfang. Zurück zur nostalgischen Idee einer Zukunft, die nie eintrat.
The Ragga Twins – 'Spliffhead' [Shut Up & Dance Records] (1990)
Machen wir uns nichts vor: Reggae und Soundsystem-Culture sind verbandelt wie Techno und Ecstasy. Wirklich spannend wird’s dort, wenn es zum Crossover kommt, also Reggae aus seinem Soundsystem ausbricht, hinüber wandert und Pillen mit Techno-Heads crusht. Schließlich entstand Jungle nicht aus dem Nichts, 1990 war nur das Symptom für den Sound, den The Ragga Twins in einem Wohnzimmer im Londoner Peckham aus einer 303 und einem hochgepitchten Hip-Hop-Track zusammenlöteten und im Rave-Rausch aufgehen ließen.
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„Als wir Spliffhead veröffentlichten, hatten wir keine Ahnung, dass das Teil so einschlagen würde“, sagt Flinty von the Ragga Twins in „Who Say Reload“. 30 Jahre später schiebt der Song noch immer – und sorgt dafür, dass 50-jährige Ex-Raver ihre seelische Vergangenheit in YouTube-Kommentaren ausschütten.
Lennie De Ice – 'We Are I.E.' [Reel 2 Reel Productions] (1991)
Lennie De Ice produzierte einen der ersten Amen Break-Banger und hörte ihn kein einziges Mal live, weil er im Gefängnis saß. Im Buch von Paul Terzulli erinnert er sich: „Nachts, wenn alle Gefängniswärter weg waren, stellten die Leute die Radios an und veranstalteten kleine Raves in ihrer Zelle. Alle klopften ihre Plastikbecher gegen die Gitterstäbe, wenn eine Pirate-Station meinen Track spielte.
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Das war traurig, aber auch ein stolzer Moment für mich.“ Reel 2 Reel, das Label, auf dem „We Are I.E.“ erschien, verkaufte 16.000 Platten. Und streckte dem belgischen Piano-House mindestens einen Mittelfinger ins Gesicht. Großbritannien hatte damit endlich wieder „einen Sound“, bevor Noel Gallagher den „Union Jack“ auf seine Gitarre plakatieren konnte.
LTJ Bukem – 'Demon’s Theme' [Good Looking Records] (1992)
Was für ein Labeldebüt! Als LTJ Bukem 1992 Good Looking Records gründete und mit „Demons Theme“ seine erste Platte veröffentlichte, platzte die Underground-Blase.
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LTJ Bukem verstand den Wellness-Lounge-trifft-Afterhour-Ansatz der frühen 90er und knallte ihn als Panflöten-Samples über Breaks, die zum Fünfuhrtee mit drei fetten Lines auf dem Silbertablett gereicht wurden. Gibt es bessere Musik, um sich eine alte Playstation auf eBay zu schießen und Metal Gear Solid auf Repeat zu zocken?
Engineers Without Fears – 'Spiritual Aura' [Dee Jay] (1993)
DJ Rap war eine der wenigen Produzentinnen, die im Jungle-Game mitmischte. Für „Spiritual Aura“ tat sie sich mit Toningenieur Aston Harvey zusammen. Das Ergebnis: ein Instant-Classic, bei dem sich noch heute jede*r Nachwuchs-Junglist vor Freude auf dem Boden wälzt. „Ich spielte am Wochenende vier bis fünf Gigs, das war ganz normal.
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Jedes Mal, wenn ich zu einer neue Party fuhr, hörte ich unseren Track“, sagt Rap in „Who Say Reload“. Die Platte brachte Liquid Drum’n’Bass auf den Teller, die Pads stehen noch immer für Euphorie, für Rave, für Nostalgie. Übrigens: Weil Dee Jay Recordings die Dinger wie Ecstasy-Tabletten vorm Club verscherbelte, sahen Rap und Harvey keinen Penny dafür.
Omni Trio – 'Renegade Snares' [Moving Shadow] (1993)
Rob Haigh kam aus Post-Punk-Ecke, veröffentlichte in den 80ern Art-Rock und blieb auf Drum ’n’ Bass hängen. Als Omin Trio schob er Platten raus, die heute auf „Intelligent“-Playlists des Genres landen. Der Piano-Loop auf „Renegade Snares“ ging zwar schon damals als Casio-Kacke durch, fasste den Alles-geht-Vibe aber über eine Bassline, die in Kombination mit dem kastrierten Amen Break den Moment einfing.
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„Es gab keine Regeln, keine richtigen oder falschen Wege, nur die Notwendigkeit, mit einem Track Eindruck zu hinterlassen“, sagt Omni Trio in Terzullis Buch. Das änderte sich nach 1993.
Leviticus – 'The Burial' [Philly Blunt] (1994)
1994 peakte Jungle unbemerkt von jenen, die beim Schwanzverlängerungsnationalismus zwischen Oasis und Blur ihr English Breakfast köchelten. Das Underground-Ding verteilte sich eher über den Dächern Londons. Pirate Radio Stations montierten Antennen auf Plattenbauten, Jungle knarzte aus Schlafzimmern zwischen Peckham und Greenwich. Als Jumping Jack Frost hatte Nigel Thompson den heißen Scheiß in der Acid House-Szene im UK veröffentlicht.
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Unter seinem Alias Leviticus crashte er deren Beerdigung mit einem Ragga-Track, der den Druckkochtopf Jungle zum Explodieren brachte. Kurz davor fand die Polizei eine Pistole in seinem Haus, er habe „deep shit“ gebaut, sagt Thompson in „Who Say Reload“. Deshalb sei er in sich gegangen, habe seine Energie gebündelt und auf einer Akai MPC freigelassen – bäm, neun Millimeter kollektive Ekstase!
T Power vs MK Ultra – 'Mutant Jazz' [Sour] (1995)
Während Jungle mit Goldies „Timeless“ in die Charts krachte, landete Jazz 1995 im Morast. T Power und MK Ultra schnippelten seit den frühen 90ern ihre Breakbeats, mit „Mutant Jazz“ breiteten sie die Gymnastikmatten aus, schluckten fünf Liter Yoga in Tropfenform und setzten zu einer Zeit zum Sonnengruß an, in der manche ihre Pillen wie Smarties futterten.
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Allein: Das Saxophon tröpfelt in ein Intro, das jeden Porno der 90er zum Höhepunkt gebracht hätte. Danach: pure Glückseligkeit, eine Zigarette im Mundwinkel, Future Sounds of London, aber richtig!
Roni Size – 'Trust Me' [Talkin Lound] (1996)
Roni Size produzierte während der 90er keine einzige schlechte Platte. Und mindestens fünf Klassiker. Einer davon: „Trust Me“, das er auf Gilles Petersons Talkin Loud veröffentlichte und so klingt als hätte Leyland Kirby die falschen Medikamente geschluckt. „Der Track entstand aus Samples, aber ich weiß nicht mehr, woher ich sie nahm“, sagt Roni Size. „Plattenfirmen schickten uns ziemlich viel Platten, wir gingen nach Hause und sampled the fuck out of them.“
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Ein Jahr nach „Trust Me“ schnappte sich Roni mit „New Forms“ den Mercury Prize – vor den Spice Girls, Chemical Brothers und Radiohead. Das Preisgeld spendete er an das Jugendzentrum in Bristol, wo er seinen ersten Drum Computer in die Finger bekam.
Nasty Habits – 'Shadow Boxing' [31 Records] (1996)
Doc Scott war ein Wrecker of Civilization. Der Mann produzierte seit den frühen 90ern Tracks, die wie die chemische Alternative zur Plattensammlung vom Papi klangen. Unter seinem Nasty-Habits-Alias blickte er endgültig in Saurons Auge. „Shadow Boxing“ ist Kung-Fu-Fighting für Leute, die beim Wu-Tang Clan falsch abgebogen sind, ein Auftragskiller von einem Track – leise, unbemerkt, von hinten.
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„Goldie und ich hatten Gespräche über das, was wir Ghost Loops nannten, bei denen man eine Melodie von etwas summt, das man entweder in der Nacht zuvor – oder gar nicht gehört hatte“, sagt Doc Scott in „Who Say Reload“. Das Bass-Riff ist genau das. Es schleicht sich an und streckt einen nieder. Immer wieder. Immer noch.
Ed Rush, Optical & Fierce – 'Alien Girl' [Prototype] (1998)
Jungle war Ende der 90er so fragmentiert wie die deutsche Sozialdemokratie. Manche nannten das Ding nur noch Drum ’n’ Bass in seinen „intelligent“ oder „liquid“ Ausformungen. Andere laberten von Dark-, Tech- oder Hardstep. Irgendwann blubberten „Drum ’n’ Bass“-Tracks in Shampoo-Werbungen und bei Oasis. Two Step Garage klapperte, Ansätze von Dubstep grunzten schon herum.
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Während alle mitschwafelten, aber niemand mehr die gleiche Sprache verwendete, bügelten Ed Rush, Optical und Fierce einen der letzten „realen“ Banger raus – „Alien Girl“ ist das, was von Jungle übrigblieb: Bässe aus dem Betonbunker und der Totalausverkauf auf der Mainstage beim Glastonbury Festival.
1 Kommentare zu "Jungle: Die prägendsten Tracks der 90er Jahre"
PFM - The Western (1995)
https://www.youtube.com/watch?v=hqFFjCi9wQE
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