Recherche: Die Festivalkrise 2023 – Absagen mit Ansagen

Recherche: Die Festivalkrise 2023 – Absagen mit Ansagen

Features. 11. November 2023 | 4,6 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Der Neustart der deutschen Festivalbranche im Vorjahr ging mit Hindernissen und Hiobsbotschaften einher. Alle Hoffnungen auf Besserung wurden während dieser Saison enttäuscht. Finanzielle Verluste, Publikumsschwund und überdurchschnittlich viele ausgefallene Veranstaltungen: Mit Blick auf die zurückliegenden Monate offenbarten sich die prekären Umstände, in denen mittelgroße und kleine Festivals heutzutage agieren. Der auf das kommende Jahr ist dementsprechend ein sorgenvoller. Eine Marktbereinigung könnte anstehen – oder auch eine Rückkehr zur Basis.

Es hatte eine einzige Party sein sollen, nach dem Kassensturz stellte sich jedoch schnell ein hartnäckiger Kater ein: Im Jahr 2022 konnten die Live- und Festival-Branchen weitestgehend uneingeschränkt ihren Betrieb wieder aufnehmen. Gerechnet wurde mit einem enthusiastischen Publikum, das nach zwei Jahren Abstinenz wieder das Leben feiern wollte. Stattdessen kam es in Europa und anderswo zu einer Kettenreaktion: Das Publikum sah sich einerseits mit dem wohl größten Veranstaltungsüberangebot der Musikgeschichte und andererseits mit einer haltlosen Inflation konfrontiert, während einige Teile dem Braten aus epidemiologischer Perspektive noch nicht trauen wollten oder sich in den vorangegangenen zwei Jahren schlicht anderen Hobbys zugewandt hatten.

Die daraus resultierenden schleppenden Vorverkäufe und niedrigen Besucherzahlen, die geringere Umsätze im gastronomischen Angebot mit sich brachten, erschwerten der Live-Industrie ebenso wie der Festivalbranche die Arbeit. Weniger Planungssicherheit, mehr Arbeit und am Ende vielleicht Verlustgeschäfte – keine guten Aussichten. Zusätzlich angekurbelt wurde diese Abwärtsspirale vom inflationsbedingten Aufwärtstrend in den Ausgaben: Nachdem während der Pandemie viel Personal aus den Branchen abgewandert war, stiegen die Preise, obwohl nicht selten unerfahrene Kräfte angeheuert wurden, die den Produktionsteams Mehraufwand und damit noch mehr Kosten bescherten.

Nicht allein der Arbeitsmarkt, sondern ebenso der für Veranstaltungsbedarf hatte sich gewandelt. Neben gutem Personal waren auch diverse Technik oder Busse schwieriger aufzutreiben und im Durchschnitt teurer als in den Vorjahren, weil die Nachfrage den Wert des Angebots hochgetrieben hatte. So wie eben alles andere eh teurer wurde: Ob Energie und Handseife für das Konzert-Venue oder Absperrtechnik und Dixie-Klos fürs Festival – die Preise für all das explodierten. Im Herbst 2022 meldete die Live-Branche eine dicke Krise und selbst etablierte Festivals wie die Fusion und das Garbicz schrieben fette rote Zahlen. Am Ende stand die bange Frage im Raum: Wie wird es wohl in 2023 laufen?

Die Lage: Explodierte Preise und schlechte Aussichten

Keinesfalls besser, zumindest in bestimmten Bereichen. Für manche nämlich sind es rosige Zeiten: Bereits für das erste Halbjahr 2023 meldete das international aktive Ticketing-Unternehmen CTS Eventim einen neuen Umsatzrekord von über einer Milliarde Euro, Live Nation (das im Vorjahr noch mit Goodlive die unter anderem für Melt und Splash! zuständige Agentur gekauft hatte) strich allein im Zeitraum zwischen April und Juni rund 5,3 Milliarden auf dem internationalen Markt ein und die Deutsche Entertainment AG rechnete europaweit mit „dem stärksten Festival-Sommer aller Zeiten“ – was sich in diesem Fall auf Festivals wie das von I-Motion ausgerichtete Nature One oder die Airbeat One bezog. Soweit die Branchenriesen und Festival-Giganten, die aus der Sache fette Profite schlagen konnten.

Anderswo hagelte es Absagen und die Welt der elektronischen Tanzmusik blieb nirgendwo davon verschont: In Deutschland kündigten etwa die Jubeljahre, in Großbritannien das No Bounds in Sheffield und das von fabric ausgerichtete EXODUS sowie das FEST in Polen mit mehr oder weniger viel Vorlaufzeit an, ihre diesjährigen Ausgaben nicht stattfinden zu lassen. Die Gründe dafür sind im Einzelfall unterschiedlich, im Gesamten aber zeichnet sich ein Trend ab: Die zurückliegende Saison gestaltete sich noch schwieriger als die vorige. Die Perspektiven für die kommende sind vor allem für mittelgroße und kleine Festivals prekär.

Der gefühlte Trend ließ sich nach einer von der LiveKomm, dem Bundesverband der Musikspielstätten, unter 114 Festivals durchgeführten Umfrage für die deutsche Branche beziffern. 12 Prozent der antwortenden Festivals gaben demnach an, nicht stattgefunden zu haben. Als Zahl sei das „signifikant zu hoch“, sagt der LiveKomm-Vorsitzende Axel Ballreich. „Es ist nicht ungewöhnlich, dass pro Jahr ein paar Festivals aus diversen Gründen nicht stattfinden können. In der Regel aber lag die Quote bei fünf bis höchstens sieben Prozent“. Mit Zuversicht blicken die wenigsten in die Zukunft: Gut ein Drittel der befragten Festivals ist sich sicher, im Folgejahr stattfinden zu können. Als akut in ihrem Fortbetrieb gefährdet oder zumindest unsicher betrachten sich jeweils ebenfalls ein gutes Drittel.

Genaue Zahlen zur Festivaldichte in Deutschland gibt es aus diversen Gründen nicht, die LiveKomm aber rechne mit etwa 1.000 bis 1.300, sagt Ballreich. Laut einer Studie aus dem Jahr 2022 gehören Techno und andere Spielarten elektronischer Musik, EDM sowie Trance und Goa zu den drei beliebtesten Genres im Publikum. Dementsprechend groß und divers ist die Szene am Markt positioniert. Ließe sich da aber nicht von einem Überangebot sprechen? Das würde schon seit langem getan, antwortet Ballreich, und weist im selben Zug darauf hin, dass die Preissteigerungen per se nicht neu wären. „An Inflationsraten wie die jetzigen aber ist niemand gewohnt. Damit ließ sich schlecht rechnen und das hat zu Fehlkalkulationen geführt.“

Aus der deutschen Festivalszene für elektronische Musik waren bisher kaum offizielle Zahlen zu hören, in Portugal vermeldete aber das Waking Life einen Verlust von satten 400.000 Euro – und schlüsselte die Gründe dafür beispiellos minutiös auf. Ballreich kennt solche Rechenspiele zu Genüge. Selbst von vergleichsweise großen Festivals sei zu hören gewesen, dass diese keinen Umsatz machten. Das ist nur logisch. Denn die von Ballreich geschätzten Preissteigerungen von gut 50 Prozent für Technik, Gastronomie oder Security und bis zu 80 Prozent höhere Personalkosten skalieren bei einem Festival mit Besucherzahlen im oberen fünfstelligen Bereich noch einmal ganz anders als bei einem Wald-und-Wiesen-Rave mit ein paar hundert Leuten.

Zwar kamen mit der Coronakrise auch die staatlichen Rettungspakete und halfen Programme wie Neustart Kultur vielen aus der Branche, während des Stillstands ihren Bestand zu sichern und nach dem Wegfallen gesetzlicher Auflagen weitgehend risikofrei den Neuanfang zu wagen. Doch lief das Projekt mit einem Finanzvolumen von gut 221 Millionen Euro für Clubs, Veranstalter:innen und Festivals im Juni dieses Jahres aus – und damit just zu Beginn der Festivalsaison. Große Teile der Branche waren wieder auf sich gestellt, obwohl die neuerliche Krise sich verschärft hatte.

Neben den Kosten sei darüber hinaus auch der Standort zum Problem geworden, berichtet Ballreich. Überhaupt an Freiflächen zu kommen, sei in den vergangenen Jahren zunehmend schwieriger geworden, erklärt er, und ergänzt: „Dazu kommen Lärmbeschwerden auf dem Land ebenso wie in der Stadt. Auf dem Land kommt die schlechte Infrastruktur hinzu, sei es für die Versorgung oder die Anreise des Publikums.“ Selbst also wenn der Festivalmarkt übersaturiert ist: Er hat hierzulande buchstäblich weniger Freiraum, der sukzessive teurer wird. Ganz zu schweigen davon, dass viele potenzielle Besucher:innen lieber den EasyJet nach Kroatien nehmen, die Konkurrenz ums Publikum internationaler geworden ist.

Vor dieser Gemengelage von Problemen prognostiziert Ballreich eine beschleunigte „Marktbereinigung“: Wo immer Festivals auf eigene Faust und Kosten finanziert würden und keine Rücklagen vorhanden seien, lohne sich das Risiko immer weniger. Er erwartet deshalb für das kommende Jahr Absagen von zehn bis 15 Prozent der deutschen Festivals – und verbleibt weit darüber hinaus skeptisch. „Ich rechne damit, dass in fünf Jahren in Deutschland wesentlich weniger Festivals stattfinden werden als noch in diesem Jahr.“

Das Beispiel Th!nk?: Verunsicherte Gäste und freche Booking-Agenturen

Das Th!nk? macht nach zwei Ausgaben Mitte der Neunziger seit dem Jahr 2010 jedes Jahr für einen Tag das Ufer des Cospudener Sees in Leipzig zum Dancefloor. Nur zwei Ausnahmen gab es in dieser Zeit: Aus offensichtlichen Gründen fiel die Party im Sommer 2020 ins Wasser, in diesem Jahr wurde sie gar nicht erst geplant. Mit den Worten „Schade, schade, Schokolade“ vermeldeten Steffen Kache und sein Team aus dem Umfeld der Distillery am 2. Mai 2023 eine Absage mit Ansage: „Wir können und wollen die gestiegenen Preise sowohl beim Personal, der Technik, der Logistik usw. nicht auf die Ticketpreise umlegen.“

Kache, der als Kassenwart ebenfalls im Vorstand der LiveKomm sitzt, rechnet das konkret vor: Hatten die Tickets im Vorjahr noch 39,90 gekostet, hätte das Festival unter den gegebenen Umständen gut 50 Prozent Aufschlag verlangen müssen – 60 Euro insgesamt also. Der Distillery-Mitbetreiber berichtet, dass es bereits Ärger über die Preisgestaltung im Vorjahr gegeben hätte, eine solche Erhöhung also allein rein wirtschaftlich nicht infrage käme. Denn höhere Preise schrecken noch mehr potenzielle Besucher:innen ab und könnten erst recht ein Minusgeschäft nach sich ziehen. Schon seit einigen Jahren sind die Besucherzahlen des Th!nk? rückläufig und hat sich die Anzahl der Gäste verglichen mit den Hochzeiten des Festivals fast halbiert.

Das Th!nk? konnte sich dennoch immer tragen, zuletzt vor allem dank Förderprogrammen wie Neustart Kultur, auf das das Festival jedoch in dieser Saison keinen Anspruch mehr hätte anmelden können. In Verbindung mit der zusätzlichen Belastung des Kernteams des Th!nk?, das derzeit mit dem Umzug der Distillery beschäftigt ist, lag die Absage letztlich nahe. Zu groß sei das Risiko gewesen, viel Mehrarbeit in eine Veranstaltung zu investieren, an deren Ende womöglich ein Verlust gestanden hätte.

Die Erfahrungen aus den Vorjahren hätten überdies gezeigt, dass sich in der Finanzplanung nicht mehr so wie früher mit Ticketkäufen kalkulieren ließe. Kache berichtet neben gesunkenen Besucherzahlen auch von schleppenden Vorverkäufen. Darin spiegelt sich ein allgemeiner Trend, der mit der generellen wirtschaftlichen Lage zu tun hat: Das Publikum geht angesichts Inflation und ausbleibenden Reallohnanpassungen im Sommer lieber zu einer oder zwei großen Sausen, statt ein paar kleinere Events abzutingeln, bei denen es dann womöglich noch regnen könnte. Auf einen gnädigen Wetterbericht nämlich, so Kache, sei insbesondere ein Ein-Tages-Open-Air-Festival wie seines angewiesen.

Nun mag es vielen Fans auch mal schnuppe sein, ob sie im Regen tanzen – Hauptsache, das Line-up stimmt. Doch genau das habe sich in den vergangenen Jahren immer mehr zu einem der zentralen Kostenpunkte auf Produktionsseite entwickelt, erklärt Kache. Damit spricht er eine szenespezifische Entwicklung an: Da immer mehr Festivals in aller Welt zu allen Jahreszeiten stattfänden und das Geschäft mit Techno auch in den Clubs dieser Welt zunehmend boomt, sei der Konkurrenzdruck nicht nur um das Publikum, sondern auch im Booking höher geworden. Mit der gestiegenen Nachfrage gingen die Preise durch die Decke: „Viele DJs sind entweder bereits ausgebucht oder wir bekommen freche Antworten von den Booking-Agenturen. Ob wir es denn ernst meinen würden, wenn wir ‚nur‘ 10.000 Euro bieten!“

Dabei sind die richtigen Namen ein wirtschaftliches Nonplusultra, erklärt Axel Ballreich. Sie garantieren gut laufende Vorverkäufe und anständige Besucherzahlen, dank derer während eines Festivals Geld in die Kassen der gastronomischen Angebote fließen. Der wirtschaftliche Sachzwang hat einen kulturellen Effekt: „Es findet eine Mainstreamisierung der Kultur beziehungsweise eine Hinwendung zu einer Superstar-Kultur statt.“ Innerhalb der Szene für elektronische Musik lesen sich die Line-ups deshalb zunehmend identisch. „Manche DJs scheint es mehrfach zu geben“, frotzelte Groove-Redakteur Max Fritz in einem (gemeinsam mit dem Autoren dieses Textes geführten, Anm. d. Red.) Roundtable zur Festivalkrise noch vor Beginn der Saison.

Neben wirtschaftlichen und organisatorischen hätte die Absage des Th!nk? in dieser Hinsicht aber ebenso konzeptionelle, um nicht zu sagen ideologische Gründe gehabt, sagt Kache. „Wir denken darüber nach, die Preise zu verringern. Dann würden die Leute eher des Festivals wegen kommen. Zu einem Festival gehört ja viel mehr als das Line-up!“ Konkret gesagt hieße das: längere und clubaffinere Sets von Locals statt großer internationalen Namen, einen schärferen Fokus auf die Gesamtgestaltung des Festivals als Erfahrungsraum. „Das wäre nicht nur preiswerter, sondern auch musikalisch interessanter“, meint Kache. „Vor allem aber würde es heißen, bei dem Namedropping und all dem Gepokere nicht mehr mitzumachen.“

Noch sind Kache und sein Team mit dem Ausbau der neuen Distillery-Location beschäftigt und noch kann er nicht mit Sicherheit sagen, ob das Th!nk? im nächsten Jahr zurückkehren wird. In Hinsicht auf explodierende DJ-Gagen aber ist er sich über eins im Klaren: „Einige Clubs und vor allem kleinere Festivals werden dabei nicht mehr mitmachen“

Das Beispiel Good2U: Große Pläne hegen – klein bleiben!

Am Good2U ließe sich vielleicht demonstrieren, wie – unter außergewöhnlich günstigen Bedingungen zumindest – eine solche Rückkehr zur Basis aussehen könnte. Gegründet wurde es inoffiziell im Jahr 2021 von Dominic Ganser und Tom Haefele, die sich seit ihrem gemeinsamen Studium des Eventmanagements kennen und seit Jahren in der Berliner Clubszene aktiv sind. Als im zweiten Coronajahr ein geplantes Festival ausfiel, disponierten die beiden kurzerhand um, mieteten sich mit ein paar Dutzend Freund:innen in einem Hotel ein und schmissen eine kleine Fete. Nach einer nur leicht erweiterten Neuauflage im Sommer 2022 markierte diese Saison dann den offiziellen Startschuss des Good2U.

Nachdem die beiden schon seit Jahren vom eigenen Festival geträumt hatten, fanden sie mit dem Kühlhaus in Görlitz die eierlegende Wollmilchsau unter den Veranstaltungsorten: Die gute Anbindung an Clubhochburgen wie Dresden, Leipzig und Berlin, eine vorab vorhandene Infrastruktur für Kulturproduktionen und nette Vermieter:innen mit einem bestehenden Netzwerk von Dienstleister:innen, sogar stationäre Sanitäranlagen auf dem Gelände stellten – neben einer beeindruckenden Kulisse – mehr als gute Voraussetzungen dar. Trotzdem kamen bei der auf eine Kapazität von 800 Besucher:innen ausgelegten ersten Ausgabe nicht genug Menschen und gingen die beiden mit einem Minus aus der Sache heraus. „Fast ein Viertel der Tickets wurde nicht verkauft, das reichte nicht zum Break-even.“, rechnet Haefele vor.

Angefangen hatten die beiden mit wenig: Auf Förderungen egal welcher Art hätten sie keinen Anspruch gehabt, Startkapital war sowieso keines vorhanden und als Teil der festivaleigenen Philosophie verzichten sie komplett auf Sponsoring-Deals. „Wir haben versucht, es mit einer Liquiditätsplanung hinzubekommen“, erklärt Ganser. Das heißt: Firma gründen, soweit wie möglich selbst oder mit Hilfe aus dem Bekanntenkreis vorarbeiten und sich ansonsten von Rechnung zu Rechnung hangeln, von denen die größten erst kurz vor der Veranstaltung fällig werden – und also durch die Einkünfte aus den Vorverkäufen beglichen werden können.

Nur liefen auch die nicht wie erhofft. „Unsere Freund:innen haben sofort zugeschlagen, dann kam eine lange Flaute“, berichtet Ganser. „Nachdem wir einen größeren Teil des Line-ups veröffentlicht haben, kam wieder ein Schwall – und dann eine erneute Flaute. Das hat uns schlaflose Nächte bereitet.“ Direkt vor Festivalbeginn, ergänzt Haefele, hätten sie die meisten Tickets verkauft. Es reichte letztlich nicht aus, um die Kosten zu decken, obwohl das Good2U anders als andere Festivals keine bösen Überraschungen bei den Produktionskosten erlebte: Zum einen half der sich aus den Club- und Festival-Branchen rekrutierende Freundeskreis weitgehend ehrenamtlich aus, zum anderen hatten die beiden keine Vergleichswerte zu vorigen Ausgaben und kalkulierten von Anfang an mit Preisen, die sich ab der Vorplanung nicht mehr änderten.

Wenn auch nicht in wirtschaftlicher, so sei das Good2U doch in jeder anderen Hinsicht zum Erfolg geworden, unterstreichen die Betreiber. Sie hätten eine Umfrage gemacht, berichten sie, das Feedback der rund 140 Teilnehmer:innen hätte all ihre Erwartungen übertroffen. Mit dem Good2U sprechen sie eine relativ spitze Zielgruppe an, die meisten der Gäste seien zwischen 26 und 31 Jahre alt, „Rave-erfahrenes Publikum“, grinst Ganser. „Wir wollten Menschen bei uns haben, die mit unseren Werten und denen der Clubkultur etwas anfangen können“, erklärt er.

Dieser (Selbst-)Anspruch schlug sich nicht allein in einem ausformulierten Verhaltenskodex und einer vergleichsweise komfortablen Festivalerfahrung, sondern ebenso im von Haefele – unter anderem als Booker bei der Berliner Paloma aktiv – mit der DJ Yamour kuratierten Programm nieder. Unter den rund 30 Namen auf dem Line-up des Good2U fanden sich neben Hardware-Alleinunterhalter KiNK und Überfliegerin Ogazón vor allem notorisch unterschätzte Legenden wie Don Williams und ItaloJohnson sowie Lokalheld:innen wie Amy Dabbs, Natascha Kann und Sevensol. In der Gesamtsicht ergibt das ein Gourmetprogramm, das sich merklich von den Line-ups etablierter Festivals unterscheidet.

Dabei handelte es sich um bewusste Entscheidung, wie Haefele betont: „Viele Line-ups werden nach dem Copy-and-Paste-Prinzip zusammengestellt, weil das wirtschaftlich gut funktioniert. Uns langweilt das, deshalb möchten wir es anders machen.“ Dennoch musste das Programm letztlich wirtschaftlichen Sachzwängen Rechnung tragen. „Zuerst wollten wir mit längeren Sets planen“, berichtet Haefele. „Weil wir aber vorab nicht so viele Tickets verkaufen konnten, haben wir ein paar gekürzt.“ Statt wie geplant vier spielten die meisten Acts letztlich zwischen zwei und drei Stunden. Die simple Rechnung: Kürzere Spielzeiten gleich mehr verschiedene DJs gleich mehr Besucher:innen, weil die mit einem größeren Angebot gelockt werden.

Das allerdings soll sich nächstes Jahr ändern. Denn obwohl noch unbezahlte Rechnungen im Eingangsordner liegen, steht mittlerweile schon der Termin für die nächste Ausgabe fest. Ganser und Haefele hegen große Pläne: Sie wollen klein bleiben.

Wege aus der Krise? Boutique-Festivals und Fördermöglichkeiten

Als klar wurde, dass sie nicht einmal mit einer Schwarzen Null aus der Auftaktausgabe des Good2U herausgehen würden, traten Ganser und Haefele sofort in den Dialog mit ihren Dienstleister:innen und dem angeheuerten Personal. Rechnungsbeträge wurden nachverhandelt, Zahlungsfristen nach hinten verschoben. Abgestottert wird das sukzessive mit Einkünften aus dem Vorverkauf für die kommende Ausgabe sowie mit einem Kredit, mittels dessen sie sich Pufferkapital für gleich drei weitere Veranstaltungen gesichert haben. Damit hätten sie das Problem zwar erfolgreich aufgeschoben, nicht aber aufgehoben, bestätigen die beiden.

„Wir planen angesichts gesunkener Besucherzahlen nicht mit mehr Einnahmen, sondern mit weniger Kosten“, sagt Steffen Kache über eine mögliche Rückkehr des Th!nk? und auch die Betreiber des Good2U werden auf Einsparungen setzen, statt mit Mehreinnahmen zu rechnen –  potenzielle Ticketkäufer:innen etwa müssten keinen „Preisschock“ erwarten, heißt es mit Nachdruck, und auch soll das Good2U weiterhin eine schnapsmarkenlogofreie Zone bleiben. Neben nicht mehr zu erwartenden Ausgaben, bürokratischen Kosten und denen für die Entwicklung einer visuellen Identität und des Marketings, die im zweiten Jahr eines Festivals nicht mehr ganz so stark zu Buche schlagen, werden die beiden voraussichtlich auch das Budget für DJ-Gagen herunterschrauben. Die Losung ist die gleiche wie beim Th!nk?: Ein paar weniger DJs spielen längere Sets für die gleichbleibende Menge an Spaß an der Sache.

Die Good2U-Betreiber erzählen das alles mit großer Ruhe, Angst vor weiteren Verlusten haben sie nicht. „Die Mittelschicht hat ein Problem, wir zählen uns aber eher zu den kleineren Festivals und sehen mit Gelassenheit in die Zukunft“, bekräftigt Haefele. Ob ihre Rechnung bei der nächsten Ausgabe wirklich aufgehen wird, muss sich noch zeigen. Aber wenn es das tut: Wäre das ein Anzeichen dafür, dass sich die Rückkehr in die Nische eher lohnen könnte als der Versuch, das eigene Angebot immer weiter aufzublasen? Schon vor der Pandemie kamen einige Festivals auf, die auf holistische Konzepte und aber streng limitierte Besucherzahlen setzen: Ein All-Round-Paket für den kleinen Kreis, das allerdings entsprechend bepreist werden muss. Sieht so vielleicht die (bessere) Zukunft aus?

Der LiveKomm-Vorsitzende Axel Ballreich zweifelt daran, dass Boutique-Festivals mit vergleichsweise großem Komfortfaktor in der Breite wegweisend sein können. „In bestimmten Altersgruppen zahlt das Publikum gerne mehr Geld für mehr Exklusivität. Ein schönes Ambiente und tolle Verpflegung sind mittlerweile ein ähnlich guter Pull-Faktor wie ein gutes musikalisches Programm“, räumt er ein. „Das stellt einen Weg aus der Mainstream-Misere dar, ist aber angesichts der Kosten nicht für alle eine Lösung.“ Die Rückkehr in die Nische kann in der Gesamtsicht keine Passepartout-Lösung darstellen. Unterdessen würden bestehende kleinere, mittelgroße und auch größere Festivals sowieso weiter in Schieflage geraten.

Die Aussichten bleiben also schlecht, die guten Nachrichten halten sich in Grenzen. Immerhin: Nach dem Auslaufen von Neustart Kultur wird mittlerweile von staatlicher Seite nachgelegt. Mit dem Festivalförderfonds (FFF) kündigte die Beauftragte für Kultur und Medien (BKM) Claudia Roth vor Kurzem ein neues Programm an. Die dafür bereitgestellten fünf Millionen Euro sehen zwar vor der schieren Dimension der Coronahilfen nach Peanuts aus, sollen aber weitgehend kleineren und mittelgroßen Festivals zur Verfügung gestellt werden. Bis zu 50.000 Euro kann ein jedes Festival ab Anfang November für die Saison 2024 beantragen, damit könnte gut ein Zehntel oder mehr der Festivals in Deutschland zumindest eine kleine Stütze erhalten.

Steffen Kache vom Th!nk? würde sich über mehr Förderung freuen, wäre aber lieber wieder genauso unabhängig wie in Vorpandemiezeiten. Dominic Ganser und Tom Haefele vom Good2U hingegen werden für ihr aufstrebendes Festival wohl mehr als ein halbes Dutzend Anträge stellen. Beim Land Sachsen, beim Bund, bei der Europäischen Union gäbe es verschiedene Töpfe, die indes primär für kulturelle Rahmenprogramme wie Panel-Diskussionen, sozialpolitisches Engagement oder interkulturelle beziehungsweise transnationale Austauschprojekte vorgesehen sind – was alles wiederum Mehraufwand mit sich brächte. „Es wäre sehr schön, wenn stattdessen das Kerngeschäft gefördert werden könnte – das Musikprogramm“, sagt deshalb Haefele. Im Bereich der sogenannten E-Musik, an Opern und anderen Institutionen, sei das eine Selbstverständlichkeit.

Ballreich derweil mahnt Festivals an, das eigene Geschäftsmodell auf den Prüfstand zu stellen und sich nicht allzu sehr auf Rettungsschirme zu verlassen: „Mit diesen Hilfsmaßnahmen lassen sich keine Festivals retten, die den Zeitgeist nicht treffen oder sich aus welchen Gründen auch immer nicht mehr refinanzieren lassen.“ Zudem sind Förderungen eben auch immer an bestimmte Auflagen gebunden: Geboten werden muss laut Roth im Gegenzug zu der Finanzspritze „künstlerische Qualität (... und) gesellschaftliche Aspekte wie Nachhaltigkeit, Bildungsarbeit und Diversität“. Was genau das bedeutet und auf wen es zutrifft, das soll eine unabhängige Jury entscheiden.

Die Festivalkrise hat nach einer Saison voller Absagen mit Ansage vielleicht gerade erst begonnen. Solange sich die wirtschaftliche Situation nicht massiv beruhigt, ist für die kommenden Jahre wohl wirklich mit einer „Marktbereinigung“ zu rechnen, wie sie Ballreich prophezeit. Die Riesenfestivals mit Star-Headliner:innen und Rundum-Remmidemmi-Angebot werden davon aller Voraussicht nach verschont bleiben. Und selbst wenn einigen alten die Rückkehr zur Basis gelingt und einige neue sich in der Nische etablieren können: Es ist damit zu rechnen, dass mittelfristig vor allem kleinere und mittelgroße deutsche Festivals wegbrechen werden.

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