Jahresrückblick 2023: Ein Jahr der "Effizienz", der Aufreger und der neuen Krisen
Der Siegeszug der sogenannten Künstlichen Intelligenz, Festivalkrise, Clubsterben. Ein neuer Krieg beginnt, der Musikmarkt konsolidiert sich zunehmend und der große Trash-Pop-Takeover lockt die Majors an. Dazwischen gab's sogar ein paar gute Nachrichten. Aber hat irgendjemand im vergangenen Jahr den Überblick bewahren können? Kristoffer Cornils versucht, die verworrene Gemengelage des zurückliegenden Jahres zu ordnen.
Die Majors sind da! Das große Geschäft mit dem Rave
Zuerst die Musik – und das Geschäft mit ihr. Denn mit dem Sound des Undergrounds wird zunehmend abkassiert. Der große Trash-Hype aus dem Vorjahr zeigte weiterhin seine Wirkung. Mit Brutalismus 3000 und deren französischem Gegenpart Ascendant Vierge (beide sind bei Live From Earth unter Vertrag) zeigte sich der TikTok-kompatible, durchmemefizierte Pop-Rave-Sound weiterhin quicklebendig, während in den Clubs die Hard-Trance-Edits irgendwelcher R'n'B-Nummern von anno dazumal weiterhin Hochkonjunktur haben.
Mehr noch zeigte sich die Mainstream-Anschlussfähigkeit des aufgekratzten Sounds in seiner vollen Kirmestechnohaftigkeit sogar in den Charts gespiegelt: Joost, Ski Aggu und fucking Otto Waalkes eroberten mit einer klamaukigen Pseudo-Gabber-Rap-Nummer doch tatsächlich die deutsche Pole Position und Domiziana entstaubte für eine Kollaboration sogar Blümchen, die über einem maximal hirnlosen Beat über die Freuden des MDMA-Konsums singsangte. Das ist in Bild und Sound wohl das, woran die meisten Leute heute denken, wenn sie an Clubmusik denken. Brr.
Während Nina Kraviz' 'Bailando'-Cover und die gemeinsame Single von Peggy Gou und Lenny Kravitz sicherlich die surrealsten Höhepunkte des nostalgieinformierten Trash-Pop-Takeovers mit Anschluss an die Kernszene darstellten, fiel der Flirt mit dem Massengeschmack anderweitig zumindest ein bisschen weniger grell aus. Spannend daran ist, wie mittlerweile die Major-Labels mitmischen. Von der gemeinsamen Kollaboration zwischen VTSS und Boys Noize war schätzungsweise nichts anderes als eine bratzige Bum-Bum-Nummer mit Bums-Lyrics zu erwarten.
Dass die beiden damit bei dem zur Warner Music Group (WMG) gehörenden Label Big Beat Records und also im selben Roster wie David Guetta und Robin Schulz landen würden, hätte sich auf dem Herrensauna-Floor vor sechs oder sieben Jahren wohl niemand träumen lassen. Kein Einzelfall: Die federführenden Produzenten des Hard-Trance-Trash-Revivals, DJ Heartstring & Narciss, debütierten im Herbst auf Polydor und damit im Kontext der Universal Music Group (UMG). Auch mit vormals kleinen Nummern wird nunmehr in den Buchhaltungen der ganz Großen gerechnet.
WMG und UMG fanden sich immer dann hinter denselben Decks wieder, als das wohl notorischste DJ-Trio des Jahres den Madison Square Garden ausverkaufte oder beim Coachella kurzerhand den Slot von Frank Ocean neu besetzte. Four Tet lässt seine weltweiten Musikrechte exklusiv von UMG verwalten, Fred again.. und Skrillex sind auf verschiedene Arten mit WMG verbandelt. Wenn die drei zusammenkommen, schaut also nur der zweitgrößte Musikkonzern der Welt, Sony Music Entertainment (SME), in die Röhre.
All jenen, die das Treiben der drei von der Seitenlinie betrachten, dürfte dabei regelmäßig die Kinnlade runterklappen. Völlig unbedarft bewegen sie sich zwischen Mainstream und Underground, Pop und Dance. Die Grenzen scheinen dabei zu verwischen.
Das System Fred again.. basiert maßgeblich darauf, sich durch Figuren wie Four Tet oder The Blessed Madonna etwas Kredibilität aufzuhalsen, Skrillex lässt sich ebenso für B2B-Slots mit Blawan oder von PAN ins Berghain buchen, wohin er übrigens im Rahmen des CTM Festivals (!) zurückkehren wird.
Wenn sich dermaßen große Nummern an eine kleine Szene ranwanzen, kann das nur eins bedeuten: Das Geschäft brummt. Auf 11,3 Milliarden US-Dollar bezifferte der letzte Bericht des International Music Summits das Marktvolumen der elektronischen Musik. Während manche das soziokulturelle Kapital der vermeintlichen Underground-Zugehörigkeit in fette Streaming-Einnahmen und Bookings ummünzen, schöpft der globale Overground aus der Szene noch viel mehr ab und gräbt sich in ihre Infrastrukturen ein. Das hat nicht nur zweifelhafte musikalische Ausprägungen zur Folge.
UMG kaufte bereits Ende des Vorjahres de facto [PIAS], den Vertrieb für Labels wie XL Recordings oder fabric, auf. Seit Kurzem steckt das Unternehmen auch bei NTS als Anteileigner drin. Das stand ganz im Zeichen von Konsolidierungsbewegungen auf dem Markt für Musikaufnahmen, wie sie sich auch mit dem Einstieg von Armada ins Geschäft mit Musikrechten oder im Tech-Bereich der Übernahme von Moog durch InMusic und von Serato durch AlphaTheta Corporation sowie in vielen anderen Fällen bemerkbar machte.
Groß kauft Klein: Das war eine der zentralen Losungen des zurückliegenden Jahres. Der Tanz geht also einmal mehr und bei noch höheren BPM-Zahlen als zuvor um die fette Kohle. Wie aber reagiert die eigentliche Szene darauf?
Volle Fahrt zurück! Das nicht ganz so große Geschäft mit der Nostalgie
Während klassische Sounds und tradierte Strukturen immer weiter zur Ramschware wurden, mangelte es nicht an musikalischen Ideen. Insbesondere an der Schnittstelle von regionalen Stilen und globalem Bassverständnis agierende sowie von den unendlichen Möglichkeiten des Hardcore Continuum beeinflusste Klangentwürfe, aufregende Neuinterpretationen von Footwork-Formeln oder auf links gedrehte Auseinandersetzungen mit dem Techno-Erbe machten Hoffnung.
Die Rhythmen und Klänge von Deena Abdelwahed oder Azu Tiwaline, die Platten auf Livity Sound oder Timedance, die Rückkehr von alten Helden wie RP Boo und DJ Manny fristeten jedoch weitgehend ein Nischendasein in der szeneweiten Aufmerksamkeit. Selbst globale Siegeszüge wie der des südafrikanischen Amapiano-Sounds hallten kaum im kalten Nordeuropa auf den Dancefloors wider und Reggaetón-Riddims flochten sich nur subtil in den Gesamtsound ein. Innovation bleibt Nischenarbeit.
Hier oder dort tat sich jedoch auch in Sachen Techno Erfreuliches. Während House als Genre sich stillschweigend in den Klassizismus – entweder klingt wie es wie ein Bewerbungsschreiben für Running Back oder doch eins zu eins wie anno dazumal – zurückgezogen hat, stießen beispielsweise die einfallsreichen Produktionen von JakoJako, Nick Léon oder Polygonia zurecht auf Gegenliebe.
Das ist ein fetter Pluspunkt auf der Habenseite eines Jahres, das ansonsten weiterhin vom maximalistischen Sound von Kobosil und seinen Klonkriegern dominiert wurde und wo jeder mächtige Drop vorschriftsmäßig auf den Instagram-Post im Nachhinein zugeschnitten wird. Grell und aggressiv klang Techno eben auch dann noch, wenn er ohne Mickey-Mouse-Vocals auskam. Ein Teil der Szene reagierte auf diesen konstanten Overkill mit noch mehr Nostalgie als schon im Jahr zuvor.
Die Verlaufskurve der jüngeren Techno-Geschichte lässt sich gut an SHDW & Obscure Shape illustrieren. Nachdem das Duo ab Mitte des vorigen Jahrzehnts federführend den Post-Berghain-Sound der Dystopian-Clique mit noch mehr Gefühligkeit auflud und dem Trance-Revival damit Tür und Tor öffnete, erfolgte spätestens Anfang letzten Jahres ein Kurswechsel: Das gemeinsame Label Mutual Rytm setzte auf einen reduzierteren Sound. Die Auflösung des Duos war die letzte, folgerichtige Konsequenz dieser Entwicklung hin zu anderen Wurzeln.
Der Sound von Mutual Rytm ist massiv von Hardgroove geprägt, ein Genre, dessen neuerliches Revival in seiner konzentrierten Fokussierung auf nur zwei maßgebliche Parameter – der Name sagt es: knallen soll die Rhythmussektion und wackeln der Arsch – tatsächlich eine adäquate Antwort auf den Bombast der letzten Jahre zu formulieren scheint. Wie aber in der schleichend verlaufenden Rückkehr des Minimal Techno – ein Höhepunkt: die Neuauflage von Ricardo Villalobos' 'Alcachofa' zum 20. Jubiläum – lässt sich darin ein Trend ausmachen.
Er weist zurück in die Vergangenheit. Es geht volle Fahrt zurück, und zwar auf allen Gleisen. Rave the Planet bot in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal vielen Angereisten die Gelegenheit, das Berliner Gebüsch mit literweise überteuertem Plastikbecherbier vollzupissen, als wäre es wieder 1996. Das war erneut nur die Spitze des Eisbergs: Die Nostalgiekulturindustrie lief in diesem Jahr auf Hochtouren. Eine schiere Flut von diversen Doku-Filmen über diesen oder jenen Strang der Rave-Musikgeschichte wurde auf den Markt gepumpt.
Von all den mehr oder weniger sinnvollen Dokus lohnte sich eigentlich nur die Arte-Produktion 'Capital B. Wem gehört Berlin?', weil es darin primär um die Kontexte geht, innerhalb derer sich die vermeintliche 'Wiedervereinigung auf dem Dancefloor' und der EasyJetSet bis hin zur heutigen kulturellen Verödung der Hauptstadt abspielten. Daran sollten sich viel mehr Menschen ein Beispiel nehmen, die sich das Jahr über damit hervortaten, ein paar alte Rave-Flyer zusammenzutackern und das Ganze dann als Coffeetable-Buch zu verkaufen. Die sind die ganzen Bäume schlicht nicht wert.
Es zeugt von einer gewissen Ironie, dass dieser neurotische Archivierungszwang mit dem endgültigen Aufschlag von sogenannter Künstlicher Intelligenz im Mainstream zusammenfällt. Denn auch Large Language Models werden verwendet, um den Rückgriff auf das Vergangene als den neuen heißen Scheiß zu verkaufen. Ja, wir müssen leider über Tech reden.
Upscaling und Downsizing: Das "Jahr der Effizienz" im Tech-Sektor
Nach Web3 und dem Metaverse handelt es sich bei dem Gewese um KI um den bereits dritten Tech-Hype-Zyklus innerhalb von genauso vielen Jahren und schätzungsweise werden die ersten Start-ups bald schon Insolvenz anmelden. Doch werden die Konsequenzen des unregulierten Siegeszuges dieser Technologie auf Mainstream-Ebene freilich gesellschaftlich und musikwirtschaftlich doch umfassend sein. Dass der breite und weitgehend barrierefreie Zugriff auf generative KI verheerende soziale und kulturelle Folgen haben wird, zeigt sich bereits im Propagandachaos um egal welches politische Thema.
Das große KI-Upscaling wird die kreativen Branchen und auch die Musik(-produktion) wohl auf immer verändern. Es ist unwahrscheinlich, dass in der näheren Zukunft die Leute lieber die Musik eines Fake-Drakes als den echten hören wollen. Und schätzungsweise wird es eine Weile dauern, bis die ersten per Prompt erstellten DJ-Tools auf dem Dancefloor einschlagen.
KI wird jedoch voraussichtlich hinter den Kulissen ein paar Stellen streichbar machen und ebenso auf dem Markt für Pro-Audio-Technologie langfristig den Ablauf stören. Wer braucht noch Komponist:innen für Library-Musik, wenn zig Anbieter vermeintlich gleich gute Ergebnisse mit ein paar Formulierungen ermöglichen? Was, wenn statt dem Kauf eines Plug-ins in Zukunft ein simpler Textbefehl ausreicht? Es gibt jetzt schon Clubs und Veranstaltungsreihen, die auf Midjourney-generierte Flyer setzen.
Dass aus denen niemand jemals ein Buch zusammenstellen wird, ist kein wirklicher Trost. Während die langsam mahlenden Mühlen der Gesetzgebung (mal wieder) nicht dem technologischen Fortschritt hinterher kommen, investieren die großen Musikkonzerne und Tech-Firmen irrsinnige Summen in den Spaß. Wieder gilt die Parole: Erstmal Geld drauf werfen und hoffen, dass Renditen zurückkommen – nach alledem kann dann die Sintflut kommen.
Am Ende gewinnen immer die Big Three (SME, UMG und WMG) beziehungsweise GAFAM (Alphabet/Google, Amazon, Meta/Facebook, Apple und Microsoft) daran, dass alles automatisierter läuft und die Menschen immer weniger autonom werden. Das ist womöglich noch viel eher der eigentliche Plan, als wirklich nachfrageorientiert sinnvolle Produkte zu entwickeln. Dazu passt, dass das Jahr 2023 von einem rigiden Downsizing geprägt wurde.
Alle diese Firmen haben ein 'Jahr der Effizienz' hinter sich gebracht, wie Mark Zuckerberg es so unschön nannte. Vom Wirtschafts-Tech-Sprech ins Deutsche übersetzt heißt das, dass zehntausende Menschen in diesem Jahr ihren Job verloren haben, nicht wenige Unternehmen ganze Betriebszweige runtergefahren oder sogar Assets abgestoßen haben – und obendrein im selben Zug versuchten, ihre Einnahmen mit aller Härte zu maximieren.
Am ehesten machte sich der Run auf die Profite in der Musikwelt und vor allem der Streaming-Ökonomie als ihrer größten Cash-Cow bemerkbar. Die große Umverteilung von unten nach oben hat ihren Anfang genommen.
Das Wertschöpfungsdilemma: Das Geld fließt anders (nach oben), aber zäher
Schon Anfang des Jahres deutete sich an, dass die Gerüchte um eine Reform des Streamingmarkts bald Realität werden würden. Lucian Grainge, der CEO von UMG und damit der mächtigste Mensch in der Musikindustrie, deutete die Entwicklung eines neuen, angeblich 'künstlerzentrierten' Ausschüttungsmodells an. Bald wurde TIDAL, dann Deezer als Partner von UMG öffentlich genannt, im Oktober schließlich legte Deezer mit einem neuen System für die Verteilung von Tantiemen los und schließlich Spotify nach: Ab Anfang 2024 fließt das Geld von dort aus anders an die Rechteinhaber:innen.
Wie genau das passieren wird, wurde in diesem Magazin an anderer Stelle ausgiebig erörtert. Festzustellen bleibt derweil eines: Wann immer Musik- und Tech-Industrie gemeinsame Sache machen, bestimmen sie die Regeln und profitieren von ihnen, während die anderen in die Röhre schauen müssen. Haben wir doch spätestens durch die Doku 'Dirty Little Secrets' des BR gelernt, dass dieses System gemeinsam von den Majors mit Spotify zusammen erfunden wurde, um primär ihnen zu dienen.
Für einige Künstler:innen und Labels wird in Zukunft noch weniger aus dem Geschäft mit der Musik abfallen, während die Taylor Swifts, Lucian Grainges und Daniel Eks dieser Welt sich – und sei es nur aus Abschreibegründen – einen zweiten Geldspeicher bauen müssen. Dass sich mit TikTok Music nunmehr der nächste Streaminganbieter auf dem Markt positioniert, sorgt für mehr Konkurrenz auf dem Markt. Dass sich der dahinterstehende Konzern ByteDance allerdings um das Schicksal unabhängiger und selbstpublizierender Künstler:innen kümmert: eher unwahrscheinlich. Und angesichts der turbulenten Entwicklungen bei SoundCloud in diesem Jahr stellt sich gar die Frage, wie lange Rechteinhaber:innen dort noch von den sogenannten Fan-Powered-Royaltys profitieren können.
Während die Musikindustrie im Streamingbereich damit den kleinen Fischen zunehmend den Hahn abdreht, hat sich das Wertschöpfungsdilemma anderswo ebenso verschärft. Obwohl die große Vinylkrise auf Produktionsseite mittlerweile behoben scheint – die Laufzeiten sind kürzer, die Logistik funktioniert wieder einigermaßen –, schrecken die aus diversen Gründen stark gestiegenen Verkaufspreise zunehmend das Publikum ab. 300 Exemplare von einer 12"-EP zu produzieren, rechnet sich so ziemlich gar nicht mehr.
CDs und Tapes versprechen höhere Gewinnmargen, das Dilemma bleibt im anderen Format jedoch dasselbe. Und wenn teurere Produkte an weniger Menschen verkauft werden, ergibt sich nur im allerbesten Fall ein Plusgeschäft. Immerhin vermeldet Beatport weiterhin gute Zahlen – zumindest in der Nische scheint der Markt für Downloads zu wachsen (und vergleichsweise ordentliche Streamingeinnahmen bietet die Plattform ebenfalls).
À propos Beatport: Wenn der katastrophale Launch der hauseigenen NFT-Plattform uns etwas gelehrt haben sollte, dann dass in diesem Jahr alle Hoffnungen auf das Web3 endgültig begraben wurden. Denn obwohl sicherlich nicht jede Person auf diesem Markt ein zweiter Sam Bankman-Fried ist und einige ernsthaft egalitäre Potenziale mit dieser Technologie bündeln wollen: Das Vertrauen in die maßgeblich auf Vertrauen setzenden Kryptowährungen ist weggebrochen. Mehr denn je stellt sich die Frage, welchen Nutzen NFT überhaupt für Fans und damit auch für Künstler:innen haben.
Dass Fan-Bindung zumindest in der musikindustriellen Rhetorik immer wichtiger wird, spiegelte sich im ständigen Sprech von sogenannten 'Superfans'. Doch ist auch da Vorsicht geboten: Patreon beispielsweise erfreute sich spätestens ab Pandemiebeginn auch in der Musikwelt immer größerer Beliebtheit, doch gerät das Unternehmen immer weiter ins Schlingern.
Dass Plattformen, die vollmundig eine treue Community versprechen, obwohl sie den Fluktuationen des Markts ausgeliefert sind, keinen Fels in der Brandung darstellen, zeigte sich am Beispiel Bandcamp. Der vormals heiß geliebte Marktplatz wurde kaum anderthalb Jahre nach der Übernahme von Epic Games an die Lizenzierungsfirma Songtradr verramscht. Das wäre per se zu verkraften, doch hat die börsenganggeile, gewerkschaftsfeindliche Firma gut die Hälfte der Belegschaft nicht übernommen, die nun in den Tech- und Support-Abteilungen fehlen. Was soll schon schiefgehen?
Wir lernen (endgültig): Traue keiner Plattform, die du nicht selbst kontrollierst. Ein Trostpflaster mag in diesem Sinne sein, dass der erwartbare baldige Niedergang von Bandcamp die Entwicklung von Alternativen beschleunigt hat: Mit Jam und Mirlo befinden sich beispielsweise gerade zwei sehr ähnliche Plattformen in der Mache, die genossenschaftlich organisiert sein sollen und damit nicht ohne Weiteres einfach von irgendwelchen Riesenkonzernen aufgekauft werden könnten.
Es gilt, dem insbesondere in der Inkubationsphase gesteigerte Aufmerksamkeit zu geben: Der Patreon-ähnliche Dienst Ampled schließt zum Ende des Jahres, die Streamingplattform Resonate steckt in der Krise. Ein Scheitern des Genossenschaftsmodells im digitalen Umfeld? So ließe sich das vielleicht deuten. Oder aber es lag daran, dass es an laufender und intensiver Unterstützung durch diejenigen fehlte, die theoretisch am allermeisten von solchen System profitieren können. Langfristig wird es echte Alternativen zu Spotify, Bandcamp und Co. benötigen – und einfach drauf zu warten, dass sie von alleine aus dem Boden schießen, kann unmöglich der richtige Weg sein.
Insbesondere gilt das natürlich, wenn sich – siehe oben – langsam die großen Player der Musikindustrie in den Underground einkaufen. Denn wenn die erstmal ihren Gewinn aus der Sache abgeschöpft haben, rennen sie erfahrungsgemäß der Hype-Karawane nach, sobald die erstmal genug von einer Subkultur hat.
Für diejenigen Szenemitglieder, die die Musik machen oder herausbringen (zahlt nicht so gut), statt sie hier und da mal für ein paar Stunden im Club zu spielen (zahlt bisweilen sehr gut), war das zurückliegende Jahr also ein mindestens ernüchterndes. Ähnlich erging es den Clubs und Festivals. Die Besucherzahlen sanken, die Preise für so ziemlich alles stiegen und die Aussichten sind düster. Manche warfen in diesem Jahr deshalb schon freiwillig das Handtuch.
Clubs und Festivals in der Krise: Wenig Einnahmen, schlechte Aussichten.
Schauen wir zuerst nach Berlin, wo sich die Misere im Clubbetrieb an wenigen Beispielen offen legen lässt: Der Club Mensch Meier wird schließen, weil die gestiegenen Kosten sich nicht mehr ohne Weiteres auf die Eintrittspreise umlegen lassen. Es sei einfach nicht mehr sozialverträglich, dermaßen viel an der Tür abzurufen, lautete die offizielle Begründung. Inoffiziell würde es sich vermutlich auch schlicht nicht rechnen.
Den Leuten geht dank Inflation und anderen Kostensteigerungen im Privatleben das Geld aus, um hin und wieder auch mal im linken Schuppen ein paar Gläser Soli-Sekt auf Eis zu trinken. Dass das OXI und das ://about:blank derweil Abende mit Gratiseintritt eingeführt haben, ist ehrbar. Vielleicht ist es allerdings auch wirtschaftlich geboten: So wird voraussichtlich der Schuppen voller und die Bar am Ende des Abends leerer als sonst.
Die RE:MISE derweil wurde – ähnlich wie dem legendären Hardwax, nunmehr ins Kraftwerk umgezogen – für Berliner Verhältnisse ganz oldschool verdrängt und der Sage Beach könnte als nächstes dran sein. Und da wäre ja nun noch nach Neuwahl und Sieg von CDU und SPD – es lässt sich nur wiederholen, dass sich hier Geschichte wiederholt: bitte guckt euch 'Capital B' an! – der langsam wieder anlaufende Ausbau der A100, dieser 'Klimaautobahn', für die selbst Berlins Kultursenator zärtliche Worte findet.
Das kann alles nicht gut gehen. Und wird es schätzungsweise auch nicht. ://about:blank, Salon zur Wilden Renate, OXI und Co.: Alle diese Clubs könnten bald – zumindest am jetzigen Standort – Geschichte sein, weil Kai Wegner (CDU) neben den Vornamen irgendwelcher Krawallos Autos ganz oben auf die Prioritätenliste der neuen Stadtregierung gesetzt hat.
In München haben derweil mit dem Legal und der DNA zwei neue Clubs eröffnet, mit dem Darknet in Osnabrück kam ebenfalls einer anderswo dazu. Doch schlossen das Kölner Acephale, in Düsseldorf der Silq Club sowie die Mauke in Wuppertal, in Hamburg ist die Schließung (und der Umzug) des Fundbureaus und des Waagenbaus zu Anfang 2024 mittlerweile ebenso verbrieft wie das Ende des [PAL] am jetzigen Standort und das XLR8R in Kleve wurde wieder zur nomadisch-sporadischen Partyreihe, derweil die Wiedereröffnung der Distillery am neuen Standort in Leipzig noch aussteht.
In der Breite wird die Clubdichte also nicht unbedingt größer, ein paar gute Nachrichten lassen sich aber immerhin vermelden. Wobei sich nur eben die Frage stellt, wie sich all das nachhaltig finanzieren lässt, während die Preise für Bookings ebenso wie Handseife und Security in die Höhe schnellen und sich die Aufnahme von Clubs in die Bauschutzverordnung bisher schlicht nicht ereignet hat.
Die Festivalbranche schlug sich hierzulande mit ganz ähnlichen und noch schwerwiegenderen Problemen herum. Auch hier ist das Publikum wankelmütiger und – verständlicherweise, keine Frage – sparsamer geworden. Es lässt sich nicht mehr ohne weiteres planungssicher die nächste Ausgabe vorbereiten, nachdem die letzte sogar ausgefallen sein könnte. Der Branchenverband LiveKomm verzeichnete deshalb für die zurückliegende Saison überdurchschnittlich viele Festivalabsagen, in Deutschland traf es unter anderem die Jubeljahre und das Th!nk? in Leipzig.
Das verdeutlicht einen Trend, der schnell zum Teufelskreis werden könnten. Nach dem Auslaufen der letzten Coronahilfen-Finanzpakete sind die Unterstützungen weggebrochen. Ein freier Markt befindet sich im freien Fall, Auffangnetze wie der neu eingeführte Festivalförderfonds sind im Vergleich mit dem Programm Neustart Kultur sehr dünn gestrickt. Und das Publikum nimmt derweil tendenziell lieber den Billigflieger an die Adriaküste.
Auch in diesem Bereich der Szene gaben sich also in diesem Jahr oft wenig Einnahmen mit Mehrausgaben die Klinke in die Hand. Die Perspektiven für die Wertschöpfung durch Musikaufnahmen, der Bestand der Clubkultur und die Festivalbranche sehen damit alle auf unterschiedliche Arten prekär aus. Die Einmischung von Majors und dem Mainstream wird dem sicherlich keine Abhilfe verschaffen. Immerhin aber steht die Szene vereint zusammen wie noch nie und entzweit sich nicht etwa über politische Themen. Oder?
… Oder?
Ein neuer Krieg, ein großes Zerwürfnis
Es ließen sich Bände darüber schreiben, was und vor allem wie derzeit in der Szene diskutiert wird. Über ständige "Ja, aber"-Interventionen und moralische Positionierungen, die in der Regel herzlich wenig mit tatsächlicher Politik zu tun haben. Über die inflationäre Verwendung semantisch überfrachteter Begriffe, über gegenseitige Beleidigungen und Schuldzuweisungen. Über Praktiken der öffentlichen Anprangerung und der entfesselten Selbstinszenierung. Darüber, wie ein weitreichender Positionierungszwang herrscht: Wer sich nicht äußert, sagt damit das Falsche. Und wer es doch tut, macht es noch falscher.
Wie der neue Krieg ausgehen wird, ist derzeit ebenso wenig vorauszusagen, wie das große Zerwürfnis die Szene im Gesamten prägen wird. Feststellen lässt sich zwischenzeitlich, dass all das aus den Kommentarspalten sukzessive in den Realraum sickert. Nach Freund-Feind-Schema arrangierte Listen kursieren, offene Briefe werden aufgesetzt, Auftritte abgesagt, Residencys auf- und Boykotte angekündigt. Freundschaften zerbrechen, bestimmte Gruppen werden nicht mehr in diesen Clubs einkehren und andere nie wieder in anderen. Der Krieg geht derweil weiter, die direkt und indirekt Betroffenen verlieren zunehmend das Gefühl der Sicherheit im Alltagsleben.
Das wird diese Szene prägen, weil es tiefer geht als jeder bisherige Konflikt über dieses oder jenes außermusikalische Thema. Wie genau, wird sich wohl erst quälend langsam offenbaren.
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