Müllfreie Festivals: “Wer seinen Müll liegen lässt, darf nächstes Jahr nicht kommen”
@ Tina Eichner

Müllfreie Festivals: “Wer seinen Müll liegen lässt, darf nächstes Jahr nicht kommen”

Features. 9. April 2021 | / 5,0

Geschrieben von:
Ina Friebe

Eine Flagge aus alten Kaffeefiltern, ein überlebensgroßes, von sechs Menschen getragenes Krabben-Kostüm aus Zeltfragmenten, und Verkleidungen aus Verpackungsmüll: So zieht die Trashparade über das Festivalgelände der Fusion. Viele Feiernde bleiben erstaunt stehen oder nähern sich fragend den seltsamen Gestalten auf Stelzen. „Habt ihr nicht letztes Jahr etwas vergessen?“, rufen diese und schwenken ihre verlängerten Arme aus recycelten Müllbeuteln und Plastikfolien.

Die Trashparade ist eine Performance des Kollektivs Planet Trash, das seit 2017 unter dem Motto „Müll ist Ansichtssache“ mit Recycling-Kunst Konsument*innen zum Nachdenken anregen möchte. Neben dem Fusion Festival war das Kollektiv bereits mehrmals auf dem Meeresrausch Festival und dem Garbicz Festival zu Gast, mit seinen Kunstaktionen möchte das Kollektiv die Leute für die Müllprobleme sensibilisieren, die Festivals mit sich bringen.

„Das mit dem Zeigefinger funktioniert nicht. Mit Humor erreicht man die Leute am besten“, meint Isabel Ott, Mitbegründerin des Kollektivs. Die Künstlerin besitzt ihre eigene Galerie auf dem Holzmarkt-Gelände in Berlin, das „World Trash Center“, die auch als Treffpunkt für das Planet Trash Kollektiv dient. Das Kollektiv formierte sich vor drei Jahren, als die Idee entstand, eine Plastikbühne auf dem Meeresrausch Festival auf Usedom zu gestalten.

Isabel Ott im World Trash Center.

„Wir hatten keine Lust mehr auf diese ganze Holz-Romantik und das Waldschrat-Image“, lacht Isabel. Stattdessen gestaltete das Kollektiv einen Floor aus zusammengebügelten Plastikfolien, die vor Ort gesammelt wurden, und trat als „World Trash Orchestra“ auf. Seine Motivation und Absichten formulierte das Kollektiv in einem Manifest: „Mit allen Mitteln der Satire, des Bluffs, der Ironie, verpackt in Kunstaktionen, Performance, Theater und Musik spielen wir mit dem kopflosen Konsumverhalten der Wegwerfgesellschaft. Nur die unbeirrte Auseinandersetzung mit der Realität hat Chancen auf Veränderung!“

Dass auch die Realität von Musikveranstaltungen einer Veränderung bedarf, dürfte jedem*r klar sein, der*die schon einmal auf einem Festival war: Einwegverpackungen, Bierbecher und achtlos stehen gelassene Campingausrüstung sind auf den meisten großen Festivals gang und gäbe. Nur: Die meisten Besucher*innen bekommen die gesammelten Müllberge nach Festivalende nicht zu Gesicht. „Jeder denkt: Ich lass das einfach stehen, das stört ja keinen. Vielen ist dabei nicht klar, welche Massen an Müll dadurch entstehen, weil sie es nicht mitkriegen“, führt Isabel aus.

Und genau diese Massen möchten sie und die anderen Kollektiv-Mitglieder*innen durch ihre Kunstaktionen sichtbar machen. Aus dem Müll des Vorjahres bauten sie auf der Fusion 2019 neben den Kostümen für die Trashparade unter anderem einen Dome aus Lattenrostlatten, ein Labyrinth aus Pavillonstangen und einen Marterpfahl aus Campingstühlen.

Die "Ressourcen".
Das Zeltstangenlabyrinth.

Auch der Plastikschredder, mit dem die Gäst*innen bunte Plastikreste zu Amuletten verarbeiten konnten, war ein Publikumsmagnet. „Das benutzte Material war allerdings nur ein Bruchteil von dem, was im Vorjahr zurückgelassen wurde“, beschreibt Isabel. Den Großteil der zurückgelassenen Sachen – hauptsächlich Zelte, Pavillons und Campingstühle – hatte die Crew sogar noch in funktionstüchtigem oder nur leicht beschädigtem Zustand gesammelt.

Das sprach sich auch bei den Festivalbesucher*innen herum. Unter Zuhilfenahme der mitgebrachten Nähmaschine bekam die Planet-TrashEcke so spontan noch eine Zusatzfunktion: als Reparaturwerkstatt und Ersatzteillager.

Auch wenn Isabel froh ist, vielen Müllfundstücken zu einem zweiten Leben verholfen zu haben, sieht sie das Problem woanders: „Der Campingstuhl aus dem Dänischen Bettenlager für 7,99 Euro hält ein Wochenende und dann ist er kaputt. Du kaufst dir von vornherein absichtlich Müll und weißt eigentlich: Du nimmst es mit und lässt es dann stehen.“

Solche Billigprodukte sollten gar nicht erst produziert werden, plädiert Isabel. Doch weil sich auf dieser Eben so schlecht ansetzen lässt, versuchen Isabel und das Kollektiv, bei den Festivalbesucher*innen eine Veränderung im Denken herbeizuführen.

„Konsumieren ist eine kollektive Denkweise, wie ein Herdentrieb. Die Frage ist, wie benimmt sich die Mehrheit?“, meint Isabel. Als Beispiel erzählt sie vom Wilde Möhre Festival, wo die Besucher*innen Taschenaschenbecher erhalten. „Wer da eine Kippe auf den Boden schmeißt, wird direkt von den anderen angesprochen!“

Auch die Kostüme sind aus Müll gefertigt.

Am Ende zählt, dass möglichst viele mitmachen – doch um ein Event wirklich nachhaltig zu gestalten, muss müllreduzierendes Verhalten von den Organisator*innen von vornherein mitgedacht und vorgelebt werden. Denn das Problem ist groß.

Wie groß, darüber gibt es leider wenig verlässliche Zahlen: Die Green Music Initiative schätzt, dass in Deutschland 30 Prozent der Festivalzelte stehen gelassen werden. Das addiert sich zusammen mit dem sonstigen Konsum auf dem Event schnell auf über 20 Kilogramm Müll pro Besucher*in.

Je länger das Festival dauert, desto größer ist auch die Müllmenge. Kleinere Open Airs wie das Tagesfestival Futur2 bei Hamburg sind da im Vorteil: Mit einem umfassenden Müllkonzept konnte das Organisationsteam die Müllmenge im Jahr 2019 auf bloße 26 Gramm pro Kopf reduzieren. Und auch das Wasteless Open Air, ebenfalls ein Tages-Event, hat es in den vergangenen Jahren geschafft, den Müll der bis zu 1500 Besucher*innen auf wenige Säcke zu reduzieren. Das zeigt: Mit einem umfassenden Konzept und einem starken Nachhaltigkeitswillen lässt sich viel erreichen.

Auch wenn sich auf kommerzielleren Festivals zumindest der Müll- und Becherpfand langsam durchsetzt, passiert vor allem auf dem Campinggelände noch viel zu wenig. Auf einigen Festivals gibt es dafür bereits Freiwilligen-Teams oder „Trash Heroes“, wie sie auf dem Open Air St. Gallen genannt werden. Sie verteilen Müllsäcke, reinigen den Boden und sensibilisieren für das Umweltproblem Müll.

Diese Art von Aufklärungsarbeit sollte Standard sein, bis die Besucher*innen von sich aus bewusster mit dem von ihnen produzierten Müll umgehen. In der Zwischenzeit helfen auch direkte Vor-Ort-Alternativen für Leute, die sich am Sonntagnachmittag außerstande sehen, ihre Camping-Mitbringsel wieder mitzunehmen.

Einzelne Festivals arbeiten bereits mit ehrenamtlichen Vereinen zusammen, die intakte Ausrüstung als Spende für soziale Einrichtungen oder Flüchtlingsorganisationen einsammeln. Aber wie viele Freiwillige braucht es, um nach einer Party mit tausenden von Menschen die Müllhalde nach funktionierenden Zelten abzusuchen? Die englische „Love Your Tent“-Initiative geht davon aus, dass Wohltätigkeitsorganisationen bei einer Menge von 15.000 zurückgelassenen Zelten aus Zeit- und Personalgründen nur etwa 50 Stück retten können.

Doch was geschieht mit dem Rest? Isabel hat eine radikalere Idee: „Ich wäre da ein bisschen diktatorisch“, gibt sie zu. „Ich würde Leute über das Camp schicken, die Gäste ansprechen, wenn sie ihr Zeug stehen lassen. Deren Name kommt dann auf eine rote Liste, und wenn das nächstes Jahr wieder passiert, bekommen sie halt kein Ticket mehr.“

Das Planet Trash Gelände auf dem Fusion Festival.

Im großen Stile ist eine solche Kontrolle jedoch zeit- und personalintensiv. Das Open Air St. Gallen hat den Spieß umgedreht und 2014 ein „Zeltdepot“ eingeführt: Für jedes mitgebrachte Zelt zahlen die Festivalgäste am Eingang ein Pfand, das sie später wieder auslösen können. Diese Maßnahme hat Erfolg gezeigt: Auf dem letzten Festival im Jahr 2019 nahmen über 90 Prozent der Besucher*innen ihr Zelt wieder mit nach Hause.

Das Kollektiv Planet Trash zeigt indessen, wie man die Leute ohne Bestrafung oder Belohnung ebenfalls zu einer Verhaltensänderung bewegt: mit Humor. Doch wann das Team wieder ein Festival bespielen wird, hängt natürlich von der Pandemie-Situation ab. 2020 war ein Pausenjahr für Festivals und für die Clubszene insgesamt. Im Jahr davor hatte die Nachhaltigkeitsdebatte nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch im Event-Bereich Fahrt aufgenommen. Jedoch könnte man sich die traurige Frage stellen, wie viel von diesem ohnehin noch schwachen Engagement nach mindestens einem Krisenjahr noch vorhanden sein wird.

Viele Festivalbetreibende werden froh sein, überhaupt wieder Veranstaltungen durchführen zu können. Der Gedanke an Müllreduktion wird dabei auf der Prioritätenliste womöglich eher nach unten rutschen – übrigens auch auf der Seite der Gäste, die nach langen Zeiten der Kontaktsperren und Veranstaltungsverbote zunächst Lust haben werden, beim Feiern endlich mal wieder alles um sich herum vergessen zu können.

Die Hygienekonzepte, die die Wiedereröffnung der Eventbranche mit sich bringen wird, werfen zudem neue Probleme auf, denn sterile Verpackungen und medizinische Ausrüstung generieren zusätzliche Müllberge.

Vor dieser Frage wird übrigens auch die Fusion stehen, die an zwei Wochenenden im Juni und Juli 2021 ein Präsenz-Festival für je 35.000 Leute plant – mit eigenem Labor und mehrmaligen Massen-PCR-Tests. Und natürlich darf man auch nicht vergessen, dass Müll ja nur eins der vielen Umweltprobleme ist, die Festivals mit sich bringen.

Es lässt sich nur hoffen, dass die Betreibenden die aktuelle Zwangspause nutzen und auf ihrem nächsten Event, wann auch immer das sein mag, die Nachhaltigkeit noch stärker in den Blick nehmen.

Die Fotos dieses Artikels sowie die Idee zum Text stammen aus dem Buch Solutions der Fotografin Tina Eichner (https://www.instagram.com/tinaeichnerphotography/). Solutions präsentiert Projekte und Pionier*innen aus aller Welt, die bereits jetzt konkrete Lösungsansätze für mehr Nachhaltigkeit leben. Für das Buch, das im Oekom-Verlag erscheinen wird, läuft aktuell ein Crowdfunding: (https://www.oekom-crowd.de/projekte/solutions/).

Aus Müll kreierte Kerzenständer.
Deckenlampe mit recycelten Elementen.
Isabell im Außenbereich des World Trash Centers.

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