Narciss im Interview: "Techno muss wieder Spaß machen"

Narciss im Interview: "Techno muss wieder Spaß machen"

Features. 3. September 2022 | 4,3 / 5,0

Geschrieben von:
Christoph Benkeser

Nicolas Schmidt aka Narciss trägt Hawaiihemd hinter den Decks, catcht Pokémon beim HÖR-Set und will Techno wieder kitschig machen. Narciss ist Berliner DJ und Producer und veröffentlicht auf Labels wie Lobster Theremin oder Eurodance Inc. Mittlerweile steht Narciss' Name auf Line-ups neben Namen wie DJ Heartstring und Julian Muller. Man ahnt: Narciss zieht die Gardinen mit der eigenen Musik nicht zu, sondern reißt die ganze Vorhangstange ab, um Sonne reinzulassen, wo lange keine war: im Technoclub.

„Wieso sollte man 30 Euro Eintritt zahlen, wenn man drinnen so tut, als dürfte man keinen Spaß haben?“, fragt Narciss und verdrückt ein Ecstasytränchen. Schließlich stampft Schmidt als Videospiel-Nerd:in nicht stundenlang auf der Stelle, ohne die Gefühlspalette zwischen Techno, Trance und Discoglitzern auszuloten. Der Sound holpert über Melodien, für die Ben Klock vor einigen Jahren noch einen auf Van Gogh gemacht hätte. Heute säbeln sogar unverbesserliche Puristen zum Closing einen Trancetrack raus. The times they are a changing – auch deshalb gehört Narciss zu den interessantesten Producer:innen der Gegenwart. Wieso Schmidt nie Techno-Boomer werden will, warum man heute smart klauen muss und was Susan Sontag mit Narciss' Idee von Trance zu tun hat, hier im Gespräch mit DJ LAB.

DJ LAB: Überraschung: Ich will mit dir heute über Trance sprechen.

Narciss: Kein Wunder, es findet gerade eine Staffelübergabe des Hypes statt – von hartem Techno zu melodiösem Trance.

Es geht weg vom ruppigen und hin zum emotionalen Sound.

Letzthin hab ich mir alte Tracks von mir angehört. Mir fiel auf: Der emotionale Zugang war in meiner Musik immer drin. Seit Kurzem hab ich allerdings zum ersten Mal das Gefühl, dass die Leute den Sound wertschätzen. Trotzdem: Wer weiß, wohin der Trend führt? Vielleicht handelt es sich bei Trance um einen Hype, der übermorgen wieder woanders hält.

Kurz ein paar Ecstasytränchen verdrücken und das war’s?

Vorhin hab ich eine Story von Setaoc Mass gesehen. Irgendjemand hat ihn gefragt, warum er keinen Trance mag. Er meinte, dass man mit Tracks bis 140 Beats in der Minute auf tonaler Ebene keine Chance dagegen haben, weil der Sound so brachial sei. Außerdem kondensiere man Techno von einem Schwebezustand zu einem 15-sekündigen Clip. Dazu kann man stehen, wie man will, aber: Man muss sich nur die Kreislaufbewegungen von Techno ansehen: In den 2000er Jahren brach Techno fast in sich zusammen, weil es in Sachen Tempo nicht mehr weiterging.

Dadurch entstand …

Die Minimal-Bewegung! Sie war ein Schritt zurück zum core! Schließlich hatte man davor Techno-Tracks mit 155 bpm, there was nowhere to go!

Mittlerweile existiert Tempo neben Melodie.

Genau, beides koexistiert. Ich denk dabei aus der Producer-Ecke hin zu DJ-Sets: Ein reines Trance-Set können wenige DJs gut liefern. Ich würd mir das nicht zutrauen. Es geht vielmehr um die Mischung und das vereinende Gefühl, das im Sound der 2000er mitschwingt – krasser Funk und prägnante Basslines!

Wer liefert gute Trance-Sets?

KI/KI ist eine der wenigen, die das bringen kann – das ist zum Niederknien krass! Außerdem spielt ein Berliner Freund von mir, bbetriebswirt, ausschließlich Trance und zieht das beeindruckend durch. Ich könnte das nicht. Sogar beim Produzieren kann ich mich nicht nur auf Trance festlegen, im Gegenteil: Bei der letzten Platte franst es sogar in die Disco-Richtung aus.

Trotzdem ballert dein Sound nach vorn, während er sich auf die Gefühlsschaukel schwingt.

Die Trance-Melodien fließen in harten Techno, ja. Dieser Genre-Mix ist ein Symptom des 21. Jahrhunderts. Eine Beobachtung, die sich auf alle Genres übertragen lässt. In den 80ern oder 90ern konnte man Trendforschung betreiben. Es gab klar abgegrenzte Stile, die für eine bestimmte Zeit standen. Das funktioniert heute nicht mehr, weil die Informationsweitergabe zu schnell passiert. Dadurch vermischen sich Einflüsse und Stile. Egal ob jemand wie ich groovigen Techno mit Samba-Shakers produziert und darin Trance einstreut oder Producer wie I Hate Models, der ultraharten Techno mit Melodien kombiniert.

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Du hast vorhin die frühen 2000er angesprochen – deine musikalische Sozialisation, oder?

Voll, ich bin 1995 geboren, war also in den Nullerjahren saujung. Meine ersten musikalischen Erinnerungen stammen trotzdem aus dieser Zeit. Deshalb ist es eine Ära, die ich stark fühle. Nicht nur musikalisch, sondern auch in Stil und Kleidung. Außerdem sind die frühen Nuller in Sachen elektronische Musik interessant, weil da Musik produziert wurde, die Spaß gemacht hat. Viele Inspirationen aus den 90ern findet man in Produktionen aus den 2000er. Nur hat man sie dort prägnant genutzt und mit der Inspiration des neuen Jahrtausends verknüpft.

Darin schwang etwas Unschuldiges mit, das später in ernstem Minimal verschwand.

Ja, trotzdem gab es roughen Techno, der irgendwann so hart wurde, dass es zu einem full stop kam – weil es nicht schneller ging, ohne Goa zu sein.

Gerade den roughen Techno gab es schon in den frühen 90ern. Ich hab letzthin eine Platte von Circuit Breaker, ein Alias von Richie Hawtin, in die Hand bekommen. Alter …

Krass, oder? Die frühen Produktionen von DJ Rush sind auch brachial im Rage-Mode! Gleichzeitig verknüpf ich den early Detroit-Techno mit einem funky Sound, obwohl manche mit ihren Produktionen so heiß in die Mischpulte gingen, dass die Dinger fast Feuer fingen.

Und eine neue Generation interpretiert diesen Sound. Ich hör darin weniger Wiederholung als eine Vermischung in der Stilaneignung.

Musiker:innen aus unserer Generation sind mit dem Gedanken aufgewachsen, dass alles schon einmal existiert hat. Deshalb lautet das Motto: Versuch gar nicht erst visionär zu sein. Was bleibt uns also übrig?

Klauen?

Na ja, ich formulier es mal fies: Man muss klug und smart klauen, sodass es so wirkt, als wäre es etwas Neues. Das heißt: Ganz viele Inspirationen und Einflüsse verschmelzen gleichzeitig in einem Trank, den so noch niemand gebraut hat.

Wir haben die 2000er nicht im Club erlebt. Trotzdem bezieht sich eine Generation auf diese Periode. Wie viel gefühlte Nostalgie schwingt da mit?

Es ist sicher eine musikalische Nostalgie für eine Ära, die man romantisiert, weil man sie im Club nicht miterlebt hat. Meine ersten Cluberfahrungen hab ich schließlich zu Minimal-Techno gemacht, das fand ich gar nicht so geil. Den Sound der 2000er fühl ich hingegen richtig. Außerdem war die Zeit kulturell krass relevant für elektronische Musik. Schau dir nur mal an, wie Trance aus den 90ern in die 2000er rüberkam …

DJs wie Tiësto oder Armin van Buuren zählten jahrelang zu den erfolgreichsten Musiker:innen der Welt.

Ich hatte neulich einen krassen Moment auf Reddit. Es ging um Marco V, ein niederländischer Trance-Dude, der Anfang der 2000er einen Megahit namens „Simulated” hatte. Ich dachte, dass es sich bei ihm um eine der vergessenen Trance-Legenden handle, hab seinen Namen gegoogelt und gesehen: Der Typ ist immer noch richtig berühmt!

Vor fünf Jahren hätten sich Techno-DJs die Ohren dafür abgesäbelt. Heute herrscht Offenheit für diese Sounds. Ich find den Übergang spannend.

Vor ein paar Jahren hab ich einen Ellie-Goulding-Edit produziert. Gerade von anderen DJs kam nichts als schallendes Gelächter. Nur meine Freunde fanden es krass. Deshalb glaube ich, dass der Übergang hin zur Akzeptanz von Kitsch in der Techno-Szene noch gar nicht so lange her ist.

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Kitsch trifft es perfekt. Er darf wieder sein.

Ich hab eine Theorie dazu: Die Techno-Szene ist elitär. Nicht nur im Zugang, sondern auch in musikalischer Hinsicht. Schließlich geht es immer noch zu oft um die Frage, wie viele Modularsynths man für einen Track benutzt hat. Oder gib dir die Diskussion zu Tool Techno. Das hat etwas von Free Jazz. Man müsse sich ein Ohr antrainieren, um es hören zu können, heißt es. Im Gegensatz dazu findest du mit trancy Kitsch-Sound viel einfacher Zugang zu einer Szene, zu der man sonst keinen bekommen hätte. Das passt den Leuten, die Techno als ihr Reich sehen, nicht in den Kram.

Der Zugang zu Techno ist demokratischer geworden. Mit ein paar Samples und einem Laptop kommt man schon weit.

Ja, ich mach das Meiste tatsächlich am Laptop und hab mich über die Jahre reingefuchst. Deshalb rate ich auch allen, die meine Meinung zu ihrer Musik wissen wollen: Hey, release noch nicht und lass dir Zeit, bevor du den Kram als Karriere ansiehst. Man braucht schon Geduld, auch wenn der Zugang einfacher denn je ist. Schließlich kann sich jede:r Ableton cracken und Mukke machen.

Vielleicht ist Trance der door opener.

Ja, voll. Trotzdem war das für mich nie die Intention. Ich bin ein krasser Nerd für Videospiele. Mukke produzieren hat für mich eine ähnliche Konnotation wie Zocken – es geht mit einer Form von Eskapismus einher. Trance passt deshalb gut. Nicht nur, weil es euphorische Musik ist, sondern auch Spaß zu produzieren, zu hören und aufzulegen macht.

Weil du Videospiele ansprichst: Meine Kindheit bestand aus Metal Gear Solid und Gran Turismo. Trance war als Soundtrack überall.

Voll! Schau dir die meine Tracktitel oder EP-Cover an – du findest unzählige Anspielungen zu Videospielen und Anime. Bei „Language of Love” sieht man ein Auto aus einem Racing-Anime. Das Cover von „Dreamcast” sieht aus wie eine alte Playstation-2-Disc …

Du baust überall Referenzen zu deiner Vergangenheit ein.

Und zum Sound von Soundtracks aus den Spielen, die damals rauskamen, ja. Das hängt stark mit der Ästhetik zusammen, die ich mit meiner Musik vermitteln will.

Du meinst den Mischmasch aus Elementen der 2000er und neuem Futurismus. Das sieht man auch bei Platten von DJ Heartstring.

Bei den Strings spielt weniger der Videospiel- als der Pop-Einfluss der Nullerjahre rein.

Die Bravo-Hits-Ästhetik.

Genau das! Bei ihnen bekommt man immer einen leichten Magazin-Cover-Vibe, der …

Leicht trashig rüberkommt, oder?

Oh Gott, das klingt jetzt so pseudointellektuell, aber: Susan Sontag hat die Bezeichnung „Camp” geprägt. Da geht es um den Kitschfaktor. Etwas, das normalerweise negativ konnotiert ist, in der queeren Community und zur Zeit der Disco-Bewegung aber eine neue Bedeutung bekam. Deshalb passt „campy” als Definition dieser Ästhetik eigentlich besser, auch wenn ich das Wort Kitsch lieber mag.

Beim heutigen Trance geht es um die Wiederaneignung des Kitsches?

Ja, weil gefühlt alle die Nase rümpfen, wenn man das Wort in den Mund nimmt. Dabei ist Kitsch doch wunderschön! Es muss kein Guilty Pleasure sein, man kann die Tracks einfach cool finden.

Wir haben vorhin über die elitäre Techno-Szene gesprochen. Viele können mit deren Zugang nichts mehr anfangen.

Ich auch nicht. Es gibt sowieso zu viele Techno-Boomer, die in unserem Alter sind und nach dem Motto leben: „Wie edgy können wir noch sein?” Sie tragen an ihrem ganzen Körper Gaffa-Tape und haben beim Tanzen einen Gesichtsausdruck, als hätten sie gerade die schlechteste Neuigkeit ever bekommen. Ich frag mich: Muss das sein?

Manche Leute sind überrascht, wenn man ihnen sagt, dass Techno auch Spaß machen kann.

Genau. Wieso gibt man 30 Euro Eintritt für einen Club aus, wenn man drinnen so tut, als dürfte man keinen Spaß haben?

Narciss im Interview.

Trance hinterfragt diese Haltung.

Wobei es für Leute, die aktiv feiern gehen, wahrscheinlich gar keine bewusste Entscheidung ist, ob man auf edgy tut oder nicht. Schließlich wird man durch die Kreise sozialisiert, in denen man abhängt, denn let’s face it: Wie man sich auf Partys verhält, hängt stark mit dem Umfeld zusammen, in dem man sich bewegt. Die Szene ist groß und ein wesentlicher Teil ist immer noch von dem elitären Dasein geprägt. Ich will zeigen, dass es auch anders geht.

Und dass …

Jede:r gut finden kann, was er oder sie möchte! Sobald aber eine bestimmte Art feiern zu gehen eine Monopolstellung innehat, wird es schwierig. Plötzlich kommen Leute und meinen: „Das ist kein Techno, was du machst!”

Solche Diskussionen find ich zunehmend unangenehmer.

Ja, ich bekomm solche Kommentare dauernd reingebrettert. Deshalb mach ich es weiterhin anders als der Rest.

Apropos anders: In welche Richtung wird sich Trance euphorisieren?

Ich find die Theorie von Anthony Fantano interessant: Die klassische Abfolge von einem Trend, der von einem anderen Trend abgelöst wird, ist ein Pre-Internet-Ding. Informationen verbreiten sich zu schnell, als dass ein Trend einfach aufhört, Trend zu sein. Im Gegenteil: Alle Trends passieren gleichzeitig und bedingen sich. Das heißt nicht, dass ein bestimmter Teil von Techno immer härter werden muss, bis wir wieder in einer Sackgasse und damit bei Minimal-Techno landen. Es bedeutet einfach, dass er sich mit anderen Einflüssen vermischt.

Vielleicht wird es dieses Mal nicht das Tempo, sondern die Melodie sein. Nach dem Motto: Alle Emotionen sind gefühlt, jetzt wieder Minimal!

Techno wird minimaler werden, während Trance immer poppiger werden wird – bis aus Trance erneut Pop geworden ist. Das war bei den Produktionen von Tiësto oder van Buuren nicht anders und hat den damaligen EDM vorbereitet.

Schacke hat schon vor Jahren erzählt, dass er gerne Pop machen würde.

Bei DJ Heartstring und mir ist es literally genauso! Deshalb hab ich gerade zum ersten Mal Tracks produziert, auf denen ich singe. Im Herzen sind wir alle Pop-Säue, die diesen Vibe in Techno reinbringen wollen. Die Mischung, bei der wir rauskommen, ist eine bestimmte Facette von Trance. Das ist doch ein nicer Gedanke!

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