Nils Frahm Essentials: Die prägendsten Tracks

Nils Frahm Essentials: Die prägendsten Tracks

Allgemein. 9. März 2022 | 4,0 / 5,0

Geschrieben von:
Christoph Benkeser

„Ich bin fast ein Zeremonienmeister“, sagt Nils Frahm und der in Berlin lebende Pianist übertreibt nicht. Er heile sich durch seine Musik und habe das Gefühl, für andere auch etwas auszulösen. Wer jemals auf einem Konzert von Frahm war, seine Platten gehört oder sich auf Neoklassik-Playlists herumgetrieben hat, kennt das Gefühl – es entsteht eine Klangschalen-Magie zwischen Klavierkonzert und den digitalen Verfremdungen, die sich nicht ohne Ehrfurcht oder Pathos erklären lässt. Dabei ist Frahm bekennender Atheist, bezeichnet sich als spirituellen Menschen. Musik sei eine Art Gottesdienst, „sofern man das Wort Gott breit verstehen mag für die unbeantworteten Fragen des Seins“, sagt er im Interview.

Gleichzeitig bezeichnen ihn manche Kritiker:innen als „besten Langweiler im erweiterten Popbetrieb“. Der Vorwurf: „Neo-Biedermeier“. Weil Frahm schöne Melodien spielt, die nirgends anecken und niemandem wehtun; die in zwei Schichten Luftpolsterfolie einhüllen und von dort aus nach innen blicken lassen, während man aus dem Außen flüchtet. Für die Dauer eines Tastenanschlags, der die Grenzerfahrung zwischen Twitterbeef mit Igor Levit und einem Popspektakel mit riesigem Maschinenpark ermöglicht. Nicht umsonst hat Frahm Hallen in Sydney, Los Angeles und London ausverkauft. Seine Musik symbolisiert den Eskapismus einer Generation, die zur MDMA-Depression am Montag mit ganz viel Self Care reagiert, sich zwei Ibuprofen reinballert und das Klavierknarzen im Dauerloop tröpfeln lässt.

Das funktioniert so gut, dass Frahm inzwischen über ein Dutzend Alben veröffentlicht, ein Studio eröffnet und ein Label gegründet hat. Seine Homebase im Berliner Funkhaus wurde zum Drehort für mehrere „Trips“, er räumte den Preis für den Score zu „Victoria“ ab und vertonte einen Tatort. Außerdem spielte der Mann mit der Schiebermütze Platten mit anderen Kennern der langen Weile wie Ólafur Arnalds, Max Richter und F.S. Blumm ein. Und: Er lernte Brad Pitt kennen. Mit knapp 40 Jahren hat der Mann ein Werk geschaffen, über das andere bereits ihre Memoiren verfasst hätten. Vielleicht schreibt Nils Frahm irgendwann seine Biografie auf. Davor präsentieren wir seine Karriere in einem Essentials über zehn Tracks – vom Debüt 2005 bis zu Erkundungen im Dub der Neuzeit.

Nils Frahm – '7X1/8' [Atelier Musik]

2005 erscheint das Debüt von Nils Frahm. Es heißt Streichelfisch und klingt so, als hätte ein musikbegabter Klimaschützer die Titelmelodie zur Fernsehserie Löwenzahn in einem Naturschutzpark in Nordrhein-Westfalen aufgenommen. Die Platte knistert und tröpfelt, das Piano friemelt zwischen Traumfängern an einem Netz aus Glitches und Glockenspielen. '7X1/8' raschelt sich durchs Unterholz, wo die Tiere im Wald leben. Am Boden tummeln sich Ameisen und Termiten, kleine Würmer bohren sich durch die Erde, Waldmäuse wühlen im Laub. Man könnte glauben, Frahm habe sein Piano auf eine Lichtung geschoben und zu tief mikrofoniert. Ein Traum in Plaid.

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Nils Frahm – 'I Would Like to Think' [Erased Tapes]

Das erste Soloalbum am großen Piano erscheint 2009. Nils Frahm kennen zu dem Zeitpunkt ein paar OGs zwischen Konzerthaus und Panoramabar. Die kommenden Happy-Socks-Hipster fahren auf Kalkbrenner ab. Klassik geht auf dem Pausenhof als Schimpfwort durch. Plötzlich grätscht „The Bells“ mit der Grandezza eines Großmeisters in den Katalog von Erased Tapes Records. Das Londoner Label wird zur geistigen Heimat von Frahm. Sein Labelkollege Peter Broderick produziert die Platte. 'I Would Like to Think' muss man allein für die Akkordabfolge nach eineinhalb Minuten gehört haben. Dafür verpassen sogar überzeugte Regulars die Klubnacht, um das Urlaubsgeld für fünf Hauben in der Elbphilharmonie zu verprassen.

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Nils Frahm – 'More' [Erased Tapes]

Der Leierkasten ist gestimmt, das Piano poliert – „Felt“ von 2011 kippt die elektronischen Tagträumereien in den offenen Flügel und wirft fünf Mikros hinterher. Die nehmen nicht nur jeden Atemzug auf, der Frahm entfährt, sondern dokumentieren das Klimpern auf der Klaviatur der melancholischen Tonleiter. Hach, ein bisschen pathetisch muss man schon sein, wenn man einem Stück wie 'More' während der Playstation-Sessions in Assassins Creed lauscht. Der Übergang nach der Hälfte des Stücks buttert sich so locker durch wie die Französische Revolution im Game. Der Einstieg zum Aufstieg – und der Vorbote zu dem, was noch kommen sollte.

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Nils Frahm – 'Says' [Erased Tapes]

Der Moment, in dem Nils Frahm explodiert, lässt sich genau festmachen. Am 22.10.2013 – knapp einen Monat vor dem Release seines Albums „Spaces“ – veröffentlicht die US-Radioshow KEXP ein fast zehnminütiges Video. Frahm spielt live den Song 'Says'. Er sitzt im Dunkeln des Studios, vor ihm brummt das Rhode, darüber loopt sich sein Juno-Synthesizer in den Arpeggio-Heaven. Das Stück baut sich über fünf Minuten auf, Frahm dreht das Filter rein und wieder raus, fummelt am Space Echo rum, moduliert die Melodie – bis ein Akkordwechsel alles verändert. Das Stück öffnet die Schleusen, die Zeit bleibt stehen. Für einen Moment glaubt man zu schweben. Frahm wippt auf seinen Füßen, die Augen geschlossen, als wüsste er, dass ihm auf YouTube bis heute über drei Millionen Menschen dabei zusehen.

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Nils Frahm – 'Them' [Erased Tapes]

Man muss „Victoria“ nicht gesehen haben, um 'Them' nie mehr aus dem Kopf zu bekommen. Der Titel, mit dem Nils Frahm den Adrenalinrausch im Club vertont, macht auch so klar: Hier potenziert sich drogeninduzierte Euphorie in totale Ekstase, ein freier Fall ohne Beats und Ballast, dafür mit blinkenden Lichtern und einem Tal voller Ecstasy-Tränen. Würde Kollegin Anne Müller nicht mit hauchdünnem Geigengefiedel die Party crashen, man könnte glauben, die Nacht ende nie. Für „Victoria“ bekam Frahm übrigens den Preis für die beste Filmmusik. Später lernte er Brad Pitt kennen, der ihm ein paar Songs für den Astronautenstreifen „Ad Astra“ abnahm. Katsching!

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Ólafur Arnalds & Nils Frahm – '23:52' [Erased Tapes]

Zwei Männer, ein Abend, viel Geknarze und ein Track,für den sich DJs beim Warm-up den Sync-Button abschlecken. '23:52' besteht aus einem Motiv, das sich in seiner ständigen Wiederholung nie wiederholt – weil die Magic zwischen Filterbank und Mitternacht passiert. Das Stück ist so etwas wie der jüngere Bruder von Autechres 'VLetrmx21', pure Abstraktion in Perfektion. Kein Wunder, dass man nach 15 Sekunden mit Gänsehaut dasitzt. Wie sich das Ungetüm erhebt, nach einem Peak sehnt und in sich zusammenfällt, ist mindestens so faszinierend wie die Kochkünste, die Frahm seinem Trance Friend Ólafur Arnalds zu Beginn der Session auftischt. Mahlzeit!

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Nils Frahm – 'Artificially Intelligent' [Erased Tapes]

Als hätte Holly Herndon während der Corona-Krise ein Zoom-Meeting mit Philip Glass abgehalten und dabei die gemeinsame Liebe zum Biedermeier entdeckt. In anderen Worten: Nils Frahm lässt die schwarz-weißen Tasten in letzter Zeit gerade auf seinen EPs verschwinden, um sich anderen Formen der Elektronik zuzuwenden. 'Artificially Intelligent' taugt mit seinen knapp zwei Minuten zwar nicht als Verallgemeinerung, die These hält trotzdem. Frahm füllt einen Leierkasten mit Berliner Luft ab, haucht zwei-, dreimal drüber und versammelt einen halbarschigen Trommelkreis für die Tribal-Note. If that’s the future – count me in!

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Nils Frahm – 'Sunson' [Erased Tapes]

2018 veröffentlicht Nils Frahm „All Melody“. Danach spielt er über 180 ausverkaufte Shows, im Opernhaus von Sydney, in der Disney Hall in Los Angeles und dem Barbican in London. Die ganze Welt jubelt. Am Ende verschlägt es ihn zurück nach Hause ins Berliner Funkhaus. Dort schiebt er an vier Abenden seinen Fuhrpark aus seinem Studio in die große Aufnahmehalle. Später erscheint ein Film von den Konzerten auf der Distinktionsplattform Mubi. „Tripping With Nils Frahm“ ist eine Rückschau von Frahms vorangegangen Jahren. Er spielt die großen Songs, pleast seine Crowd – und hat sich die richtigen Tonleute geleistet. Allein für 'Sunson', das live auf über elf Minuten mutiert, sitzt man mit den richtigen Kopfhörern in der ersten Reihe. Fußfrei, versteht sich.

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Nils Frahm – 'And Om' [Erased Tapes]

2009 schließt Nils Frahm seine Abschlussarbeit an der Kunstuni im österreichischen Graz ab. Dafür spielt er ein komplettes Album ein, das später auf Erased Tapes rauskommen soll, aber nie erscheint. Verloren, vergessen, Frahm gibt sich gar nicht die Mühe so zu tun, als hätte er das Material nach langen Jahren beim Aufräumen seiner Festplatte „gefunden“, sondern ruft den Piano Day am 88. Tag des Jahres ins Leben – und veröffentlicht mit „Graz“ sein persönliches Frühwerk. Eines, das ohne Elektronik entstanden ist. Und auch so klingt. 'And Om' ist der Gewittersturm, der einen mitten im Sommer beim Baden überrascht. Eine Naturgewalt, für die Vivaldi scheißen geht. Und mit der man den Nachbarn auch nach 22 Uhr die feinen Unterschiede der Klassik-Welt schmackhaft machen sollte.

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F.S. Blumm & Nils Frahm – 'Presidential Tub' [Leiter]

Frank Schültge, der Underground-Spezi bei Morr Music und Pingipung, arbeitet mit Nils Frahm seit über zehn Jahren zusammen. Vier Alben hat man produziert, vom Glitch-Knarz der frühen Zeiten ist in letzter Zeit nichts mehr übriggeblieben. Auf „2X1=4“ regiert König Dub. Die Basslines lassen den Geist von Lee Scratch Perry eine Rumba tänzeln. Der Vibe schielt eher ins Black Ark Studio der 70er- als ins Funkhaus der 2020er-Jahre. Und irgendwo trommelt Jaki Liebezeit von Can mit, während Holger Czukay den Bass mit einer Fingerkuppe bearbeitet. Auf 'Presidential Tub' kommt das besonders gut rüber. Nils Frahm klappt das Piano gar nicht erst auf. Der Beat kommt vom Band. Zu ernst solle man das trotzdem nicht nehmen, sagt Frahm. Die Platte habe so viel mit Dub zu tun, wie ihre vorherigen Alben mit Jazz. The boy is still alright!

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