Nosedrip im Porträt: Das Interesse am Unbekannten
Ziggy Devriendt setzt als DJ unter dem Namen Nosedrip ebenso wie als Kopf hinter dem Label STROOM Akzente. Dort erscheint eine nicht immer übersichtliche Mischung aus Reissues und neuer Musik aus den unterschiedlichsten Genres. Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Neuauflagen von Trance-Bangern und Spoken-Word-New-Age-Musik? Mangelnde Professionalität.
Ziggy Devriendt sitzt in seiner neuen Wohnung in Athen, nimmt einen Schluck Wasser und dreht sich eine Zigarette. Ungefähr 70 Prozent seiner Zeit würde er mittlerweile in der griechischen Hauptstadt verbringen, erzählt er, den Rest in seiner Heimat Belgien. Wie es dazu gekommen ist, dass er nach über drei Jahrzehnten in ein anderes Land übergesiedelt ist? Na, es hätte ihm dort eben immer gefallen und nach zwei Jahren im Lockdown-Loop zu Hause sei es eine willkommene Abwechslung gewesen, dort zu sein. Und weil es sich richtig anfühlte, sei er einfach in Athen geblieben. Das allein beschreibt schon perfekt die Philosophie eines DJ und Labelbetreibers, der stets nach dem Gefühl geht und dabei maximal minimale Kompromisse eingeht.
Devriendts Geschichte beginnt in Ostende, einem verschlafenen Nest an der Küste Belgiens. Dunkel sei es dort gewesen, erinnert er sich, und die kulturelle Hochzeit des Städtchens hätte weit zurückgelegen. „Es passierte gar nichts, es war ausgestorben und es gab nur wenig interessante Menschen”, erzählt er. „Ich bin Skateboard gefahren und hatte natürlich einen Freundeskreis, letztlich aber war ich introvertierter, als ich es eigentlich bin. Ich hatte zwar einen Drang in mir, Neues zu entdecken, aber es fehlte an Stimuli.” Das öffentlich-rechtliche Radio bietet immerhin die Impulse, an denen es in seiner Umgebung mangelt: In einer Sendung am späten Abend wird er mit Hip-Hop konfrontiert, seine Neugier ist geweckt. Sein erster Albumkauf: Dizzee Rascals ‘Boy in da Corner’.
Die kulturelle Einöde Ostendes wird für Devriendt immerhin für ihn zur Negativfolie: Devriendt weiß, dass diese Welt mehr zu bieten haben muss. Die Vermutung bewahrheitet sich eine knappe Autostunde entfernt in Gent. Die Stadt erlebt gerade einen Boom und der junge Hip-Hop-Fan findet sich in einer funktionierenden Szene wieder. Rückblickend sagt Devriendt, dass er in Gent seine musikalische Evolution durchlebt habe. In seinen sieben Jahren dort lässt seine Leidenschaft für Hip-Hop langsam nach. „Der Consciousness-Kram, die ständigen Predigten haben mich irgendwann gelangweilt. Aber eines Tages wachte ich auf und es war, als hätte sich mein Kopf geöffnet: Plötzlich interessierte mich alles.” Er diggt sich durch die Fächer jedes Plattenladens, den er finden kann. „Ich interessiere mich für alles, was ich nicht kenne. Das ist bis heute so. Ich gehe nicht mit Einkaufszettel in den Plattenladen.” Immerhin eine Anstellung in einem findet er: Er heuert bei Music Mania in Gent an.
Trotzdem bringt es ihn nach Ostende zurück. Viele Altersgenoss:innen siedeln aus den großen, immer teurer werdenden Städten dorthin, bei seinem Umzug im Jahr 2014 ist dort allerdings noch wenig los. „Dieses Mal aber war es anders, die Isolation tat mir sogar gut. Ich konnte auch durch die Welt reisen, hatte ein musikalisches Netzwerk etabliert.” Er zieht sich also nicht zurück und wird entgegen seines Charakters introvertiert, sondern beginnt, selbst Dinge ins Rollen zu bringen. Er startet das audiovisuelle Online-Radio stroom.tv und später das dazugehörige Label. „Ostende hat mir nichts gegeben und doch ist das Label zu einer Art Maskottchen der Stadt geworden.” Menschen aus aller Welt würden der Stadt seiner Arbeit wegen auf Reisen durchs Land einen Besuch abstatten, erzählt er nicht ohne Stolz.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Belgische Geschichten für die Welt erzählen
Das liegt auch daran, dass STROOM ein Füllhorn sonderbarer musikalischer Entwürfe aus dem kulturell wie sozial vielseitigem Land ist: Reissues aus den achtziger und neunziger Jahren von etwa Jan van den Broekes verschiedenen Projekten, Benjamin Lew oder Pablo’s Eye werfen Schlaglichter auf anarchische Underground-Artists, die mit sparsamen Mittel Musik machten, die Grenzen sprengte – wenn sie sie denn überhaupt anerkannten. „Wann immer ich belgische Veröffentlichungen entdeckt habe, bekamen sie von mir besondere Aufmerksamkeit. Viele von ihnen begleiteten mich schon jahrelang, bevor ich das Label gestartet habe.” Es sei ihm schon immer darum gegangen, seine Funde mit anderen zu teilen.
Einen Aha-Moment erlebt er, als er bei der NTS-Sendung von Charlie Bones zu Gast ist. „Ich habe ‘Businessmen’ von Patrick Selinger gespielt und der Chat explodierte förmlich!” Als im September 2018 eine Compilation mit Stücken Selingers bei STROOM erscheint, ist das Label bereits international bekannt und verhilft so auch weitgehend unbekannter oder bisweilen sogar nie erschienener Musik aus Belgien zu einem zweiten Frühling. „Es ging mir niemals darum, möglichst obskur zu sein”, sagt Devriendt. „Ich will der ganzen Welt belgische Geschichten erzählen.” Viele der von STROOM neu aufgelegten Musik sei immer wieder als Reissue zu haben gewesen, wurde in der Regel aber nur in der Ursuppe registriert, aus der sie ursprünglich gekommen war. „Ich war schlicht in der Position, sie noch bekannter zu machen.”
Damit präsentiert Devriendt einheitlich die Vielseitigkeit eines Landes, das von sozialen Differenzen geprägt ist. Ob das nicht sogar in kultureller Hinsicht einen Vorteil darstellt, mehr künstlerische Diversität bedingt? Jein, lautet die Antwort. „Es gibt wenig Kommunikation zwischen den einzelnen Städten, selbst in Flandern nicht”, berichtet Devriendt. „Andererseits ist es in einem dermaßen kleinen und gespaltenen Land geradezu unmöglich, kommerziellen Erfolg zu haben. Das zwingt alle dazu, mit wenigen Mitteln ihr eigenes Ding zu machen.” Das Endresultat: „Etwas Anderes, Exotisches, Spezielles.”
Einheit in Vielfalt
Das beschreibt nicht nur die auf STROOM veröffentlichte Musik, sondern auch die von anderen Labels wie Les Ateliers Claus und Meakusma. Anfang 2022 veröffentlichten die drei Imprints die von Devriendt kompilierte, gemixte Compilation ‘Trains & Tracks’. Sie folgt dem Verlauf der längsten Bahnlinie Belgiens von Ostende bis Eupen, welche in den Homebases der drei unterschiedlichen Institutionen Halt macht: In Brüssel, wo die dem Label übergeordnete Veranstaltungslocation Les Atelier Claus der regionalen und internationalen Improv- und Experimental-Szene einen Anlaufpunkt bietet, ebenso wie in dem kleinen Städtchen nahe der deutschen Grenze, das nicht nur den letzten Stopp der Bahnreise darstellt, sondern jährlich zum Schauplatz des von Meakusma ausgerichteten, gleichnamigen Festivals wird.
„Wir hatten immer einen guten Kontakt, auch wenn wir alle etwas anderes machen”, beschreibt Devriendt das Verhältnis zwischen den drei Labels. „Wir wollten immer schon etwas gemeinsam machen.” Als sich die Gelegenheit bot, luden sie Künstler:innen aus den verschiedenen Stopps ein, sich einzubringen – und so Einheit in Vielfalt zu beweisen, wie es auch die drei jeweiligen Labels tun. „Wir hätten gerne noch mehr daran gearbeitet. Es ist ein sehr interessantes Miteinander: Meakusma hat einen deutschen und ich einen flämischen Hintergrund, Les Ateliers Claus repräsentieren Brüssel.” Eine ähnliche Vielseitigkeit sieht Devriendt auch im Kern von STROOM. Viele belgische Artists würden ihre Musik lieber bei weltweit aktiven Plattenfirmen statt zu Hause veröffentlichen, klagt er. „Dabei ist STROOM doch ein internationales Label!”
Dass Belgien dank Zugpferden wie Charlotte de Witte und Amelie Lens, Clubs wie dem Fuse in Brüssel oder dem EDM-Festival Tomorrowland in den vergangenen Jahren erhöhte Aufmerksamkeit von der internationalen Szene für Dance Music bekommen hat, beeinflusst seine Arbeit jedoch nicht, wie Devriendt betont. „Vielleicht gibt es jungen Menschen das Gefühl, sie könnten in dem Bereich Karriere machen. Im Grunde aber gibt es zwei verschiedene Pole: sehr kommerzielle Musik auf der einen, obskure auf der anderen Seite.” Deutsche hätten den Viervierteltakt im Blut, scherzt er, in Belgien sehe das anders aus: „Selbst die Dance Music von hier ist mehr out there, musikalischer.” Das würde nicht in den Clubs gespielt. „Schau dir das Nachtprogramm beim Meakusma an! Da geht es nicht darum, den Floor vollzubekommen.”
Bitte keine Profi-Musik!
Ähnlich verhält es sich mit der musikalischen Kurationsarbeit mit STROOM. Die sei von Gefühlen geleitet, sagt Devriendt. Mit seinen Künstler:innen arbeitet er am liebsten über lange Zeit, begleitet ihr Wachstum nachhaltig. „Ich bin nicht diplomatisch oder professionell”, lacht er. “Deswegen ziehe ich es auch vor, eine persönliche Bindung mit meinen Artists zu haben. Ich habe vor Kurzem eine Trennung durchlebt, darin waren alle irgendwie involviert.”
Im Gegenzug entsprechen die Musiker:innen jedoch auch nicht dem Bild von Profis, wie sie eigentlich auf dem einen dermaßen erfolgreichen Label zu erwarten wären – im Gegenteil handle es sich bei vielen der Signings um Nicht-Musiker:innen. „Ein Beispiel ist Susannah Stark, die ich wegen eines merkwürdigen ASMR-Stücks auf Soundcloud kontaktiert hatte und die mir sofort ein Album vorschlug.” Devriendt war skeptisch, sagte aber zu und war begeistert von den absonderlichen Vocal-Improvisationen über blubbernden New-Age-Sounds. Gleiches gelte für TRii Group, ein deutscher Künstler, der sein jüngstes Album für STROOM passenderweise vorsichtig ‘Interest in Music’ nannte, oder Dali Muru & The Polyphonic Swarm, ehemals FITH, angeführt von der Schriftstellerin Dalia Neis.
„Wenn Leute auf mich zukommen, um ein Album mit mir zu machen, und ich kann aus ihrer Musik heraushören, dass sie professionelle Musiker:innen sind, dann interessiert mich das nicht”, sagt Devriendt. Deshalb verwundere es eben kaum, dass viele der Reissues auf STROOM den frühen Achtzigern entspringen, fügt er hinzu. „Das war der Beginn der Demokratisierung der Musikaufzeichnung. Ich liebe Musik aus den Sechzigern und Siebzigern auch, aber es ist doch so: Wenn es auf Platte gepresst wurde, dann hieß das, dass die Menschen dahinter Geld für ein Studio hatten.” Und wer nicht, konnte die eigenen Ideen eben nicht für die Nachwelt aufnehmen – eine Barriere, die mit dem Aufkommen massenproduzierten Recording-Equipments wegfiel. „Und deshalb interessiert mich diese Zeitspanne so sehr: Wir hören da Menschen, die sich im Schlafzimmer ohne kommerzielle Hintergedanken oder professionelle Ansprüche zum Ausdruck brachten.”
Es geht weiter, solange es geht
Ein gewisses Maß an Professionalisierung braucht es allerdings schon im Labelgeschäft. Angesichts der Vinylkrise, Inflation und anderen Faktoren ist das jedoch ein noch prekäreres Business als bei der Gründung von STROOM im Jahr 2016. Ein paar Passionsprojekte, die sichere Verlustgeschäft wären, wurden deshalb vorübergehend auf die lange Bank geschoben. „Das hält mich alles nachts wach, aber ich bin auch sehr stur und dumm”, lacht Devriendt. „Es geht weiter, solange es geht.” Der breite Katalog und gelegentliche Represses würden ihn finanziell über Wasser halten, vor allem aber werde STROOM sowieso seit eh und je durch seine DJ-Sets querfinanziert.
Immerhin das läuft wieder rund, der Tourkalender ist gefüllt. Das freut Devriendt, der offen zugibt, dass er bestimmte Aspekte des Jobs – wenn nicht sogar den Beruf als solchen – nicht sonderlich mag. Denn das Auflegen macht ihm wieder Spaß. „Kurz vor der Pandemie steuerte ich auf einen Burnout zu, die Auszeit war gut. Aber irgendwann kam dann doch der Moment, an dem ich das Handtuch werfen wollte”, erinnert er sich. Im Jahr 2021 beginnt er allerdings wieder, aufzulegen. „Das hat mir viel Energie gegeben. Ich will mich nicht künstlich aufbauschen, aber ich habe den Wert meiner Arbeit wieder zu schätzen gelernt.” Soziale Situationen zu schaffen, Musik mit anderen zu teilen und, ja, durch die Welt zu reisen und Menschen kennenzulernen: „Das fühlt sich alles toll an.”
0 Kommentare zu "Nosedrip im Porträt: Das Interesse am Unbekannten"