Nostalgie im TV: DJs labern über Bibel, Drogen und die Zukunft
Auf Netflix kommt nur Schrott, die Socials sind auch voll damit. Also endlich wieder mal gediegen fernsehen! Da weiß man dann, wie es den normalen Leuten geht, wenn man sich neben Hitler-Dokus und dem Münster-Tatort noch Pilcher-Streifen und die Sportschau reinzieht. Damit das bildungsnahe Bürgertum den neuen Megatrend zur Clubkultur nicht verpasst, erklären die anderen Sender dafür gerne mal, wie das mit dem Techno ist und werden wird.
War schließlich alles schon mal da. Oder so ähnlich. Nur anders. Und weil früher alles bestimmt besser gewesen sein muss, ist man heute nur ein prokrastinierendes Rabbit Hole davon entfernt, den YouTube-Algo mit verpixeltem Clips aus den 90ern vollzuspammen.
Dr. Motte stammelt rum, Marusha macht den Late-Night-Göthe an und Sven Väth rüsselt sich auf Werbekosten neben Kamikätzchen feine Tröpfchen rein. Ging alles irgendwann klar. Heute jedenfalls nicht mehr. Zum Glück hielt aber immer jemand mit der Kamera drauf, ohne sich groß Gedanken zu machen, wie das irgendwann aussehen könnte.
Die unschuldige Privatfernseh-Fantasie ist natürlich lange vorbei und kommt nie wieder. Das hat das 30-Jahre-Tralala zu VIVA genauso gezeigt wie der gesunde Hausverstand, denn: Bei aller Liebe zur romantisierten Vergangenheit lief damals mindestens so viel Scheiße wie heute. Auch wenn es die einzige Scheiße war, die wir hatten.
Dr. Motte löst die Kirche ab
Der als Religionslehrer maskierte Moderator dieser geselligen Männerrunde kann es kaum fassen: Die Jugendlichen wollen weder zur CDU noch in die Sonntagsmette, da muss doch was im Argen liegen! Also lädt man Motte und seine Kumpels ein, die haben grad einen kuhlen Marsch am Start und weil da mehr Leute gekommen sind, als der Senator erwartet hatte, sitzt hier also auch ein Soziologe.
Dem ist die kritische Forscherdistanz vor lauter Euphorie entglitten, was aber auch an der Deko liegen könnte, die ungefähr die chemische Zusammensetzung der Marschration über den Kudamm abbildet.
Raab nervt Bäm
Sat1, die Chemotherapie unter den Privatfernsehsendern, hat früh erkannt, wie man bei der jungen Zielgruppe mitmischt und engagiert zwei verhaltensgestörte Studienabbrecher, die zuvor beim VIVA-Casting durchgefallen sind. Die hampeln in der betriebseigenen WG-Küche rum und schon hat man wieder mal totale TV-Geschichte geschrieben.
So einfach ging das in den 90ern. Vor allem wenn man Gäste einlud, die nur aus sterbebegleitenden Mitleidsmaßnahmen ins Studio kamen. Stefan Raab also neben Westbam – der eine grad frisch ausm Club, der andere noch immer dort und mit so viel Bock auf den Bums, dass Raab irgendwann die CDs ausgehen.
Marusha findet Harald geil
Techno hat nix mit Styling zu tun, deshalb muss man auch nicht so fett auftragen, sondern einfach sein. Tjaha, sagt die Ehrenfrau Marusha! Und weil das knackige 24 Jahre her ist, wird es wohl stimmen. Damals kam man als halbwegs ansehnlicher DJ noch lockerleicht ins Late-Night-Fernsehen, wenn man wieder mal einen Film oder einen Film oder zum Beispiel einen Film gedreht hatte.
So hat sich das bei Marusha jedenfalls ergeben, die bei einer Schlingensief’schen Vorinterpretation von Berlin Calling die Hauptrolle machte. Und in deshalb in DDR-Farben gehüllt den Dirty Harry angraben darf.
DJ Hell mag diese Schuhe gern
Der modeerschöpfte Gigolo samt seiner Mike-Werner-Gedächtnis-Matte wusste schon immer: Ums Aussehen geht’s! Dass der gute Hell als visionierender Visionär aber auch einen ausgeprägten Tick für tolle Treter hat, damit konnte niemand rechnen.
Nicht einmal Charlotte, die ihre Schweißfüße zum Glück nicht in atmungsaktiven Lehrerlatschen versteckt, sondern in spitzen Hacken ausführt, die hier aus unbestimmten Gründen nicht im Tralala vom Gigolo landen.
Alle auf Sendung bei der Mayday
Heike Makatsch, der einzig wahre VIVA-Crush, meinte mal, sie hatte bei der Mayday immer eine gute Zeit, was eine glaubhafte Beschreibung für alle VIVA-Sendungen gewesen sein dürfte, die man so in den lustigen 90ern gedreht hat.
Aber auch später war die Stimmung immer so wie nach fünf Cola-Rum zum Frühstück, wie diese beiden hoppelnden Koksnäschen beweisen. Blondi entlockt WESTBAM UH UH UH UH UH immerhin das beste Interview, das er je gegeben hat: Hallo ne und Rave äh… on!
Sven Väth im Afterhour-Sessel
Niels hatte einen schlechten Ruf, nicht nur bei VIVA, sondern überhaupt, was schwer zu erklären ist, weil: Sein herumkrabbelndes Kamikätzchen war im Vergleich zum Jahre später aufgehenden Palina-Vorhang bei MTV mindestens revolutionärer Sexismus. Findet nachträglich trotzdem jeder scheiße, machte 2000 aber niemandem was aus.
Der "Äh, Technoguru Sven Väth" lässt sich von der sogar den Schampus reichen und verrät in Shiatsu-Haltung seine Shoppingtipps für coole Läden in Manhattan. In einer halben Stunde schütten Ruf und Väth drei, vier Piccolöchen weg und labern in einer Tour Brechdurchfall, dass man einfach 19 Minuten und 58 Sekunden nicht wegklicken will, bis Väth die Gitarre auspackt.
Techno ohne Drogen bei Bio im Ersten
Hier also das sogenannte Hochamt gepflegter Unterhaltung. Sven – Techno ohne Drogen – Väth, hat sich für Alfred Biolek, der mal so wie der immer etwas angetrunkene, aber stets adrett gekleidete Onkel der Nation war, extra die Haare schön gemacht. Man plaudert über dieses und jenes und wann geht’s jetzt eigentlich endlich um Drogen? Na jetzt!
Aber Väth will nicht pushen, weil: Manche Leute trinken, rauchen und schmeißen sich die Auswahl aus dem Apothekerkasten. Sollte man aber bitteschön nicht machen, kann schließlich zu gewissen Schlafstörungen führen, der ganze Genuss, ähh… Gebrauch.
Tanith in seinem neuen Auto
Der Moderator sucht noch die richtige Schublad…äh…isierung für Big Beat, aber Tanith hat schon die Limo gebookt, wegen Marlboro oder Crystal Meth – ich habe wirklich keine Ahnung, was die da labern. Aber ein geiles Shirt hat der an und eine schicke Hose und wenn man dem breitbeinigen Riesenbaby ein bisschen zuhört, sagt es auch ganz vernünftige Sachen.
Über die Kämikäl Brodders, Prodischi oder den Mainstream, der nur hier Mainstream wird, weil in Amerika ist es wahrscheinlich ganz anders.
DJ Kid Paul sagt die Zukunft voraus
Nein, "DJs ohne Platten" ist nicht der letzte Reddit-Thread aus dem Berghain-Sub, sondern eine richtungsweisende Sendung aus dem Jahre Schneemann. Denn nach Winühl oder Viniehl (ich weiß doch auch nicht, Kid Paul!) kommt auf jeden Fall "was Kompaktes oder so."
Der "DJ, wenn man das dann noch sagen kann" kurvt also nicht erst mit der zusammenklappbaren Sackkarre zum Gig und blättert dort durch 2349 CD-Cases. Das digitale Zeitalter findet man schon woanders. Und wenn auch nur in der geilen Sonnenbrille, die Motte hier drei Schnitte später trägt!
Westbam beim Gottesdienst
Entweder in der Kirche oder im Club, an einem der beiden Orte war der Moderator dieser schönen Sendung noch nie. Lässt er sich aber – ganz der Pro – auch zwischen der tollen Schilfrohrmattendeko nicht anmerken.
Also verliest Westbam, ein belesener Bibelbub, von Balkonien aus seinem Hirtenbrief: "Um jetzt mal ganz abstrakt gesprochen", schon mal den Club in der Kirche zu lassen, also "religiös musikalisch, wie man so schön sagt, ne?"
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