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Zwanzig Jahre OYE Records – Die Hochs und Tiefs des Vinyls mitgehen

Zwanzig Jahre OYE Records – Die Hochs und Tiefs des Vinyls mitgehen

Features. 9. Oktober 2022 | 3,8 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Zwanzig Jahre sind in der Szene für elektronische Musik eine lange Zeit. Vor allem für einen Plattenladen, der in der Talsohle des Vinylgeschäfts seine Türen öffnete und seitdem sowohl viele Hochs als auch einige Tiefs und einschneidende Veränderungen durchlief. OYE Records feiert unbeirrt von allen Krisen in diesem Jahr den 20. Geburtstag. Das Team dahinter ist sich sicher: Es bleibt nicht dabei. Es wird weitergefeiert, durch eine schwierige Gemengelage hindurch, den nächsten Jubiläen entgegen.

Im Hinterzimmer eines Ladengeschäfts in Berlin-Neukölln sitzen Tinko Rohst und Sabine Hoffmann und haben noch gar nicht darüber gesprochen, wer die in wenigen Minuten beginnende Schicht übernimmt. Einig sind sie sich aber trotzdem, dass das hier ihr Traumjob sei. Der ist für Hoffmann aber aktuell mit viel Arbeit verbunden. Sie ist seit dem Jahr 2015 Mitarbeiterin bei OYE Records und für die vom Plattenladen organisierten Veranstaltungen zuständig, von denen es in diesem Jahr eine ganze Reihe gibt. So ein 20. Jubiläum kommt schließlich nicht alle Tage.

In der Paloma, der derzeitigen Homebase der regulären OYE-Partys, im ÆDEN oder ://about:blank sowie beim Community-Radio Refuge Worldwide hat die erfahrene DJ und Veranstalterin der Reihe „Frauengedeck” die dezentrale, mehrteilige Geburtstagssause bisher unter anderem schon eingebucht. Mehr Termine werden bis Ende des Jahres noch folgen, fest stehen bisher ein weiterer Stopp am 27. Oktober im Tresor sowie eine Stippvisite bei der Techno-Party STAUB am 12. November. Mehr: tba.

Rohst ist seit geraumer Zeit alleiniger Geschäftsführer von OYE und seit Beginn an dabei. Die Eröffnung des Ladens kann er noch genau datieren, obwohl er damals nur als Gast zu Besuch war: Am 21. Juni 2002 lag Bass in der Luft, sorgten die verschiedenen Bühnen der stadtweiten Fête de la Musique für ein konstantes Hintergrundrauschen, als Lovis Willenberg die Tür zum Geschäft in der Oderberger Straße im Prenzlauer Berg erstmals für die breite Öffentlichkeit aufsperrte. Rohst und Willenberg kannten einander selbst über eine Plattenladen-Connection, hatten bereits Veranstaltungen zusammen geschmissen.

Irgendwann stellte sich Rohst wie selbstverständlich auch hinter den Tresen und blieb dort bis heute stehen. Anfangs setzte sich das Sortiment, der Name deutet es an, vor allem aus Platten mit lateinamerikanischer Musik zusammen und es gab nur ein einziges Fach für Elektronisches, erinnert sich Rohst. Das änderte sich aber entlang der Geschmäcker der verschiedenen Mitbetreiber graduell, wie sich auch die Welt um OYE beständig weiterdrehte und sich die Crates immer wieder neu durchmischten.

Von der Talsohle nach oben 

Die frühen Nullerjahre waren nicht unbedingt eine Blütezeit für das Geschäft mit Vinyl. Nachdem das Medium über die Neunziger hinweg durch die CD verdrängt worden war, trat mit der fortschreitenden Digitalisierung noch ein weiterer Konkurrent in Form digitalen Files auf den Plan und im Laufe des Jahrzehnts brachen zentrale Vertriebe wie Neuton wirtschaftlich ein.

Doch die Szene blieb dem Medium treu. Sie blieb entgegen aller Unkenrufe eines Richie Hawtin, Vinyl sei nichts weiter als ein „pain in the ass”, die Speerspitze eines handfesten Revivals des Formats. „Wir haben in der Talsohle angefangen und von dort an ging es bergauf”, sagt Rohst. „Die Nische war zwar klein, aber groß genug für uns.”

Schon im Jahr 2007 übernahm er gemeinsam mit Markus Lindner, bekannt unter dem Pseudonym Delfonic, den Laden, nachdem sich Willenberg immer mehr aus dem operativen Geschäft herausgezogen hatte. „Entweder ihr steigt ein oder wir machen das Ding zu“, hieß es damals, die Entscheidung fiel ihnen leicht. Es sollte sich als richtige Entscheidung herausstellen:

Spätestens in den ausgehenden Nullerjahren wurde Berlin dank der Hypes um Clubs wie das Berghain oder die Bar25, massiv angetrieben durch den internationalen Erfolg des Films ‘Berlin Calling’ mit Paul Kalkbrenner in der Hauptrolle aus dem Jahr 2008, zum Ziel des „Easyjetsets”, den Tobias Rapp im Folgejahr in seinem Buch ‘Lost and Sound’ beschrieb. Ein Stopp in den Plattenläden der Stadt gehört für viele Techno-Tourist:innen bis heute zum Programm.

Doch die Stadt wandelte sich, allen voran die ehemaligen subkulturellen Epizentren. Nachdem sich das Sortiment von OYE immer mehr auf einen organischen und discoiden House-Sound verlagert hatte, handelte es sich bald schon um einen der wenigen Last Shops Standing im bereits durchgentrifizierten Prenzlauer Berg. Im Jahr 2013 eröffneten Lindner und Rohst die Filiale in Neukölln.

Das Unternehmen ging damit buchstäblich mit der Zeit, und zwar nach Süden, wie Rohst erklärt: „Die Szene hatte den Bezirk gewechselt und nicht alle wollten die 25 Minuten mit der Bahn in den Prenzlauer Berg fahren.” Das Ladengeschäft in der Friedelstraße bot anfangs noch einer PR-Agentur für Clubmusik und dem Label Hotflush ein Zuhause, mit dem zusammen OYE immer wieder Partys organisierte. 

Feste und breite Szeneverwurzelung 

Die eigenen Veranstaltungen haben eine lange Tradition bei OYE, betont Rohst. In der Monkey Bar oder dem Club der Republik im Prenzlauer Berg fanden in den Anfangszeiten von OYE die ersten unter diesem Banner statt, in den Folgejahren weitete sich der Einzugsbereich immer mehr aus. OHM, Salon zur Wilden Renate, ein Stelldichein in der Panorama Bar zum 13. Geburtstag – der Plattenladen zeigte sich über die Zeiten hinweg überall anschlussfähig. So band OYE auch jenseits der Filialen Szenemitglieder an sich.

„Wenn man regelmäßig etwas macht, baut man eine Community auf”, nickt Rohst. „Es geht darum, den Leuten zu zeigen, dass wir da sind und wofür wir stehen”, ergänzt Hoffmann hinsichtlich der Absichten der Veranstaltungen. Der Spaß, da sind sich beide wieder einmal einig, stehe aber sowieso an erster Stelle. Das zeigt sich auch bei den In-Store-Gigs, die im Jahr 2011 von Soul Clap inauguriert wurden – mit dermaßen großem Erfolg, dass sie in den Folgejahren zur festen Säule der OYE-Identität werden, inklusive Livestreams aus der Neuköllner Niederlassung. 

Hoffmann ist nicht die einzige DJ mit ebenso fester wie breiter Szeneverwurzelung, auch Paramida schob dort jahrelang hinter der Theke ihre Schichten. „So eine findet man so schnell nicht wieder”, lacht Rohst, als die Rede auf die Panorama-Resident und Love-on-the-Rocks-Betreiberin kommt. Obwohl sich die Belegschaft über die Jahre wieder verkleinert hat, suchen sie dennoch immer nach jungen Menschen, die das Geschäft mit frischem Blut injizieren, wie Hoffmann bekräftigt. „Damit frischer Wind reinkommt!”

Die Einbindung kreativer Köpfe aus den eigenen Reihen und die Erweiterung des eigenen Netzwerks schließlich hat bei OYE ebenfalls Tradition: Labels wie Box Aus Holz, Money $ex Records und ein eigenes Imprint für Edits entstanden zu Beginn und Mitte der Nullerjahre aus der Belegschaft oder im engen Kontakt mit Produzenten wie Max Graef und Glenn Astro heraus. Deren gleichermaßen von House wie Hip-Hop und Jazz oder sogar Disco inspirierte, ungeschönte Sound dieser Labels wurde von da an fest mit dem Plattenladen assoziiert.

Dabei wäre es falsch, OYE lediglich auf einen Sound zu reduzieren. In den Fächern der beiden Läden finden sich zahlreiche Platten aus den unterschiedlichsten Genres. Der Peak in Sachen Clubmusik sei etwa im Jahr 2016 erreicht worden, seitdem hätten sich stattdessen neue Verbindungen ergeben: „Wir haben unser Spektrum enorm vergrößert – Jazz, lateinamerikanische Musik, Hip-Hop”, berichtet Rohst.

„Clubmusik ist natürlich wichtig und es muss schon meinem Geschmack entsprechen. Wir müssen aber auch krisenfest sein”, sagt er. „Wenn es in einem Bereich nicht mehr gut läuft, beschäftigt man sich mit anderen.” Die Treue zum Medium und die Flexibilität in der Auswahl der darauf enthaltenen Musik, sie gehen bei OYE Hand in Hand. 

Brot oder Vinyl? Natürlich die Platte! 

Doch obwohl sich das Sortiment diversifiziert und besonders im Laden in der Oderberger Straße regelmäßig viel Laufkundschaft aus der angrenzenden Kastanienallee herüberschwappt: Die Vinylkrise macht sich auch dort bemerkbar. Hatten Plattenläden ebenso wie kleinere Labels maßgeblich vom neuen Vinyl-Boom seit den früher Zehnerjahren profitiert, haben vor geraumer Zeit auch die Majors das Geschäft mit der Schallplatte für sich entdeckt und ein altes neues Publikum dafür aktiviert:

„Die Leute, die Anfang der Neunziger ihre Platten weggeschmissen und sich CDs gekauft haben, holen es sich jetzt wieder auf Vinyl”, fasst Rohst die Situation zusammen. Kritisch betrachte er das nicht unbedingt, Vinyl sei eben ein Distinktionsmittel und über zusätzliche Kundschaft wird sich auch nicht beschwert – wobei auch bei erhöhter Nachfrage weiterhin darauf geachtet werde, dass die Belegschaft das Angebot mit dem eigenen Geschmack vereinbaren kann.

Just die erhöhte Nachfrage aber sorgt für mehr Konkurrenzdruck in den Presswerken, von denen nicht wenige mittlerweile kaum noch Kleinauflagen produzieren. Der Markt für 12"s, das zentrale Arbeitsmittel von DJs, schrumpfe merklich, heißt es – einige sind auf digitale Formate ausgewichen, weniger Labels investieren weiterhin in Vinyl. Der Run auf die Presswerke ist ein Faktor unter vielen, der zu Preisexplosionen geführt hat, die durch die Verwertungskette hindurch zu den Kund:innen weitergegeben werden.

PVC- und Papiermangel steigern die Ausgaben von Presswerken, die wiederum die Labels zur Kasse bitten, die gleichzeitig von Vertrieben immer höhere Rechnungen bekommen und dementsprechend den Verkaufspreis höher ansetzen – was sich letztlich auch in den Fächern eines jeden Plattenladens bemerkbar mache. Dazu gesellen sich andere Probleme, etwa der Brexit – bis heute warte Rohst auf einige vor Monaten verschickte Pakete, die vermutlich zwischenzeitlich verloren gegangen sind, erzählt er – oder die Anhebung der Preise für den internationalen Transport von Warenpost durch DHL.

Es wird, kurzum, alles immer teurer für Musikfans, denen steigende Inflation und die exorbitanten Anstiege der Energiekosten perspektivisch ein immer größeres Loch ins Portemonnaie brennen. Der Sommer sei jedoch sehr gut gelaufen, resümiert Rohst. „Ich bin erstaunt, dass die Leute die Preissteigerungen noch mitmachen.” Eine Schallplatte sei eben auch ein Luxusobjekt, fügt Hoffmann hinzu und fragt rhetorisch hinterher: „Was ist wichtiger – ein Brot zu kaufen oder Vinyl?” „Die Platte natürlich!”, ruft ihr Arbeitgeber. „Für mich ist es ein Arbeitsmittel! Ich will nicht, dass es eingeschweißt als Geldanlage in den Schrank gestellt wird. Ich will, dass Platten angefasst und aufgelegt werden.”

Obwohl Rohst als Geschäftsführer wirtschaftlich agieren muss, steckt nicht nur in der Kuration des Sortiments noch immer ein gewisser Idealismus, auch steht hinter alledem eine große Leidenschaft für das Format an sich. Dementsprechend lassen sich die beiden vom Miteinander verschiedener Krisen nicht aus der Ruhe bringen. „Das wird sich irgendwie regulieren”, sagt Rohst. Immer wieder hätten sie sich an Prognosen für die Zukunft versucht, die dann doch nie eintrafen. 

Sowieso wird bei OYE der Wert der Produktpalette und des Jobs, sie an die Kundschaft zu bringen, nicht allein per Excel-Tabelle errechnet. „Es ist sinnstiftend. Man hat mit tollen Leuten aus der ganzen Welt zu tun”, sagt Rohst. „Wir konzentrieren uns auf unser Kerngeschäft. Dann macht man es auch mit Herz und Seele. Ich will nicht leben, um Geld zu verdienen. Sondern leben, um am Leben selbst Spaß zu haben.”

Und an Hoffmann gewandt fügt er hinzu: „Solange ihr euer Gehalt kriegt, ist alles gut.“ Die beiden lachen und sprechen jetzt endlich durch, wer die kommende Schicht übernimmt. Hoffmann ist an der Reihe, übernimmt aber gerne. Es ist eben ein Traumjob. „Ich würde nichts anderes machen wollen.“, sagt sie. Dann drängen drei junge Männer durch die Tür und stürzen sich mit leuchtenden Augen auf die Crates.

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