Wenn Erfolg verdächtig macht: Manipulation bei Spotify und Co. – Quartalsbericht 4/2024

Wenn Erfolg verdächtig macht: Manipulation bei Spotify und Co. – Quartalsbericht 4/2024

Features. 13. Oktober 2024 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Es mehren sich Berichte von Indie-Artists, deren Musik wegen angeblicher Manipulationsversuche von Spotify und anderen Plattformen entfernt wird. Das ist für sie kostspielig und schafft eine paradoxe Situation: Wer einen Überraschunghit landet, muss eventuell draufzahlen. Warum ist das so? Das erklärt Kristoffer Cornils in einer neuen Ausgabe seiner Kolumne "Quartalsbericht".

Benn Jordan ist sehr gut darin, sich ins Gespräch zu bringen. Seltener aber geht es dabei um die Musik des US-amerikanischen Produzenten, der vor allem unter dem Pseudonym The Flashbulb aktiv ist und der breiteren Öffentlichkeit indes vorrangig als YouTuber mit Schwerpunkt auf Pro-Audio-Themen bekannt sein dürfte. Über seinen Kanal mit mehr als 400.000 Follower:innen spricht er immer wieder auch über wirtschaftliche Themen, die mit der Produktion und Distribution von Musik zu tun haben. So auch am 17. März, als er in einem 18-minütigen Video eine nahezu kafkaeske Erfahrung schilderte: Seine Musik war über Nacht von allen Streaming-Plattformen verschwunden, ganze 23 Alben ließen sich plötzlich nicht mehr bei Spotify, Apple Music und anderswo auffinden.

Schnell stellte sich heraus, dass Spotify einige seiner Musikstücke wegen des Verdachts auf Streamingmanipulation von der Plattform entfernt hatte und Jordans Digital-Vertrieb, TuneCore, daraufhin eine Untersuchung einleitete. Nachdem diese zum selben Ergebnis kam, entfernte TuneCore seinen gesamten Katalog von allen anderen Plattformen. Nach einigen Wochen wurde das Problem gelöst und die Musik kehrte auf den Diensten zurück. Doch nicht nur waren Jordan laufende Einnahmen entgangen, auch waren alle seine Tracks aus Playlists verschwunden – die gesamte Episode hat also nachhaltige finanzielle Konsequenzen. Jordan ist nicht der einzige, dem dergleichen passiert ist. Der acht Jahre alte Song 'Play It As It Loops' der Gruppe Hallelujah the Hills wurde durch Spotify kurzzeitig von der Plattform entfernt. Begründung: "artificial streaming". 

Sowohl Jordan als auch Hallelujah the Hills weisen den Vorwurf der Manipulation entschieden von sich. Allerdings handelt es sich in der Breite um ein ernsthaftes Problem. Laut dem Marktforschungsunternehmen Luminate wurden plattformübergreifend im ersten Halbjahr 2024 satte 2,3 Billionen Audioinhalte (was neben Musikstücken auch noch Hörbücher und Podcasts einschließt) gestreamt. Woher diese Streams kommen, ist nicht immer nachvollziehbar und es gibt zahlreiche Tricks, mit denen verschiedenste Menschen versuchen, schnell und bequem sehr viel Geld durch Streaming zu verdienen. Darum hat sich ein ganzes Business gebildet. Zuletzt bewirkte die Musikindustrie in Deutschland ein Verbot der Plattform pimpyourfollowers.de, laut dem Bundesverband Musikindustrie (BVMI) das bereits zehnte Verfahren dieser Art in Deutschland.

Das Geschäft mit der Streamingmanipulation scheint sich für diese halbseidenen Dienste zu lohnen. Mehr noch ermöglicht es Dritten Zugriff auf den sprichwörtlichen Kuchen, dessen Krumen die Plattformen in Form von Tantiemen unter Rechteinhaber:innen aufteilen. Das illegitim abgezwackte Stück ist recht groß: Zumindest dem Unternehmen Beatdapp – das sich auf die Identifikation von Streamingmanipulation spezialisiert hat und also ein Interesse daran hat, die Lage möglichst drastisch erscheinen zu lassen – zufolge belaufen sich die durch sogenannte Fake-Streams ausgelösten Verluste der Musikindustrie auf satte zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr.

Tausend Bots = zehn Millionen Dollar

Mit Verlusten ist an dieser Stelle gemeint, dass diese Summen im Rahmen von Betrugsmaschen generiert werden und dementsprechend im Rahmen eines Pro-Rata-Modells nicht an "ehrliche" Rechteinhaber:innen gehen oder aber dass deren Margen künstlich geschmälert werden. Ein aufsehenerregender Fall der jüngeren Zeit illustriert, wie genau solche Strategien funktionieren können: Ein US-amerikanischer Musiker pumpte sechs Jahre lang KI-generierte Musik auf diverse Plattformen und schickte über tausend Bots los, um die Stücke zu streamen. Weil diese Bots über verschiedene Familien-Accounts aktiv waren und die Vielzahl von individuellen Stücken jeweils nur moderate Plays aufwiesen, fiel das lange nicht auf. Und es machte ihn doch sehr reich: Rund 10 Millionen US-Dollar Tantiemen sollen über die Jahre hinweg zusammengekommen sein.

Exakt solchen Maschen sollte das von der Universal Music Group (UMG) maßgeblich mitentwickelte 'artistic-centric'-Ausschüttungsmodell entgegenwirken. Neben Deezer adaptierte auch Spotify eine Variation davon. Stücke, die weniger als tausendmal pro Jahr gestreamt werden, werden in dessen Rahmen komplett demonetarisiert und ebenso geht Spotify stärker gegen Manipulation vor: Beim Verdacht auf betrügerisches Verhalten müssen Vertriebe wie der Marktführer Distrokid in Zukunft mit Geldstrafen rechnen. Das verschiebt einerseits die Verantwortung von Spotify hin zu diesen Mittelinstanzen und erklärt andererseits, warum TuneCore sofort handelte und Jordans gesamten Katalog überall anders abzog: besser nichts riskieren. Auch wenn die Bußgelder natürlich direkt weitergegeben werden.

Für Künstler:innen, die ihre Musik selbst vertreiben oder aber bei kleinen Labels unter Vertrag sind, ergibt sich seitdem eine paradoxe Situation: Auf Spotify ist nunmehr jeder Erfolg potenziell verdächtig. Könnte es sein, dass in Zukunft unwahrscheinliche TikTok-Viral-Hits wie Pisses 'Fahrradsattel' oder Pavements 'Harness Your Hopes' abgestraft werden, wenn ihr Erfolg Spotify erreicht? Ist es nunmehr möglich, dass Dritte die Plays von bestimmten Musik-Acts artifiziell in die Höhe treiben können, um diesen finanziell zu schaden? Die Verschärfung des neuerlichen war on fraud könnte für nicht wenige kleinere Artists ernsthafte Konsequenzen haben. Sie zeugen allerdings auch von einer gewissen Verzweiflung bei den Plattformen und in der Musikindustrie.

13,6 Milliarden lösen sich in Luft auf

Benn Jordan nutzt das mit den Worten "Spotify's Phony War On Bots" betitelte Video über seine Leidensgeschichte dazu, um mit dem Vertriebsgeschäft im digitalen Raum abzurechnen und die Verflechtungen diverser Großkonzerne in diesem Bereich zu beleuchten. Dabei unterliefen ihm einige Fehler. Die Warner Music Group (WMG) gehört zu einer Firma namens Access Industries, nicht dem vergleichsweise kleinen Investmentunternehmen Access Holdings, wie Jordan behauptet. Auch stimmt es nicht, dass den Big Three – neben UMG und WMG gehört dazu noch Sony Music Entertainment (SME) – 20 Prozent der Anteile von Spotify gehören: WMG stieß bereits vor sechs Jahren alle seine Anteile ab, SME verkaufte zur selben Zeit einen großen Anteil und der UMG gehören bis heute nur bescheidene 3,3 Prozent von Daniel Eks Firma.

Richtig ist allerdings, dass das harte Vorgehen gegen den leisesten Verdacht von Manipulation durchaus in der wechselseitigen Abhängigkeit von Plattformen wie Spotify auf der einen und den großen Musikkonzernen auf der anderen Seite erwächst. Eine Plattform wie Spotify ist auf die Konzerne angewiesen, weil es deren Kataloge, das heißt ihre Musik braucht. Das war zuletzt auch die große Lehre aus dem Showdown zwischen TikTok und UMG. Die Big Three wiederum sind auf die Plattformen angewiesen, weil es sich um die größte Einnahmequelle für das Geschäft mit Musikrechten handelt. Laut BVMI wurden in Deutschland zuletzt 80 Prozent aller Einnahmen durch Streaming generiert. Dieser Anteil wächst kontinuierlich: Der BVMI konstatiert ein 12,7-prozentiges Umsatzwachstum im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. 

Das ist beeindruckend, aber jedem Wachstum sind Grenzen gesetzt. Derzeit treiben die Musikindustrie – und also auch die Plattformen – deshalb gleich zwei Sorgen um. Zum einen könnte die Flutung der Dienste mit KI-generierter Musik, der spektakuläre Betrugsfall in den USA bewies das eindrücklich, potenziell ihre Einnahmen schmälern. Zum anderen ist es nicht allein das an die Konzerne fließende Geld, das auf dem Spiel steht. Als die UMG ihre Zahlen für das zweite Quartal offenlegte und sich herausstellte, dass sich die Umsätze aus dem Geschäft mit Streamingabonnements um lediglich 3,8 Prozent erhöht hatten, fiel der Preis der Aktie des börsennotierten Unternehmens innerhalb eines Tages von knapp 28 auf etwas mehr als 21 Euro ab. In der Summe verlor das Unternehmen so rund 13,6 Milliarden Euro an Wert. Puff, einfach weg.

Noch hat sich der Aktienkurs von UMG nicht wirklich erholt, obwohl das Unternehmen – was auch sonst – rosige Perspektiven verspricht. Tatsächlich geht branchenweit die Angst vor einem "Streaming Slowdown" um, der vor allem den US-amerikanischen Markt, immerhin den größten der Welt, betreffen könnte. Sollten dort die Grenzen des Wachstums langsam erreicht werden, könnte sich das nachhaltig auswirken.

Kein Erfolg, kein Geld. Zu viel Erfolg, noch weniger Geld?

Vor dem Hintergrund von UMGs Börsen-Super-GAU ist es wahrscheinlich, dass eine erneute Verschärfung des war on fraud stattfinden wird. Denn die UMG wird versuchen, das Wachstum ihrer Erträge aus dem Streaminggeschäft langfristig anzuheben, und dazu stehen nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Der Konzern, der vor nicht allzu langer Zeit seine "strategische Partnerschaft" mit Spotify intensivierte, könnte zukünftig Druck auf das schwedische Unternehmen ausüben, den kostenfreien Zugang zur Plattform komplett zu streichen – das zumindest vermutet Tim Ingham, Chefredakteur des Magazins Music Business Worldwide. Sollten sich daraufhin mehr Nutzer:innen des Free-Tiers ein bezahltes Abo zulegen, ließen sich mehr Einnahmen generieren.

Das wäre ein drastischer Schritt, den Spotify nicht gerne vornehmen würde. Denn es würde bedeuten, auf nicht unerhebliche Teile der Werbeeinnahmen verzichten und schätzungsweise die Nutzerzahlen massiv zu senken: 626 Millionen von denen verzeichnet die Plattform laut Unternehmensangaben derzeit pro Monat, insgesamt zählt Spotify hingegen 393 Millionen Accounts mit kostenfreiem Zugang. Dass sie alle auf ein Bezahlabo wechseln, ist mehr als unwahrscheinlich, das heißt, es würde die Anzahl der monthly active users (MAUs) krass senken. Der Schritt wäre also einer zurück und kommt für Spotify also eigentlich überhaupt nicht infrage.

Bleibt noch die effizientere Verteilung der Einnahmen aus dem Abogeschäft, das bei Spotify derzeit beständig wächst. 246 Millionen Bezahlabos meldete das Unternehmen nach dem zweiten Quartal, ein Zuwachs von stolzen 12 Prozent im Vergleich zum vorigen. Es kommt also mehr Geld rein und das muss, so wird die Chefetage von UMG sicherlich denken, eben nur an die richtigen weitergeleitet werden. Die Demonetisierung von selten gespielten Musiktiteln, das rabiate Vorgehen gegen sogenanntes Weißes Rauschen sowie KI-generierte Stücke, von denen sich immer mehr auf der Plattform finden lassen, sind Teil dieser Strategie: Sie machen Gelder frei, die an UMG und Co. gehen können. Die verschärften Maßnahmen gegen mutmaßliche Manipulation bewirken potenziell dasselbe.

Kleinere Artists, die ihre Musik über Services wie TuneCore oder Distrokid selbst vertreiben, stellt das vor ein bizarres Dilemma: Wird ihre Musik nicht oft genug gestreamt, gibt es kein Geld. Wird sie auffällig oft gestreamt – wenn beispielsweise ein Song viral geht –, könnte das zu einer Entfernung der Musik von Spotify und sogar, wie Jordans Fall beweist, anderen Plattformen führen und sogar mit Bußgeldern einhergehen. Wenig Erfolg lohnt sich also gar nicht, zu viel könnte Kosten mit sich bringen. Schöne neue Welt.

Was sonst noch wichtig war: 

AmplifyWorld will über einen Förderfonds mit einem Volumen von einer halben Million US-Dollar vor allem unabhängigen Musiker:innen finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Bei AmplifyWorld handelt es sich um eine Plattform, die Musiker:innen mit zahlungskräftigen Fans verbinden und dabei "innovative Web3-Technologie" zur Anwendung bringen möchte. Weniger schwurbelig ausgedrückt: AmplifyWorld ist ein ursprünglich als Anbieter von Promo-Links à la Linktree gestarteter Dienst mit Risikokapital im Rücken, der zwischenzeitlich zur Patreon-ähnlichen Creator-Economy-Plattform upgegradet wurde, dann mitten im Kryptowinter auch noch NFTs in den Mix warf und nunmehr versucht, beim Superfan-Hype mitzumischen. Weil das bisher offensichtlich nicht funktioniert hat, braucht es gutes Marketing. Und Geld zu verschenken, das hat uns Mr. Beast gelehrt, ist da best practice. Gähn. 

Bandcamp hat sich ein gutes Dreivierteljahr nach der Übernahme durch Songtradr kaum verändert, obwohl darüber fast die halbe Belegschaft verschütt ging. Es scheint zuerst sonderbar, dass ausgerechnet ein neu gelaunchter TikTok-Kanal mit eher mäßig produzierten Videos Bandcamp Daily als audiovisuellen Satelliten redaktionell unterstützen soll. Vielleicht ist das aber ganz im Sinne des neuen Besitzers: Songtradr macht Geld mit Lizenzierungen und wird früher oder später den Bandcamp-Künstler:innen die eigenen Dienste anbieten – warum nicht mit der meistgenutzten App der Welt anfangen? 

Die Baunutzungsverordnung (BauNVO) ist von zentraler Bedeutung für die Zukunft von Clubs: Mit ihr wird geregelt, welche Grundstücke wo auf welche Art verwendet werden dürfen, und also auch, ob Clubs in Wohngebieten stehen dürfen. Nachdem der Bundestag im Jahr 2021 beschlossen hat, Clubs als "Anlagen kultureller Zwecke" anzuerkennen, folgte auf dieses Lippenbekenntnis herzlich wenig – bis jetzt. Nun liegt ein Entwurf zu einer Gesetzesnovelle vor, der die LiveKomm zur Frage "Sind Clubs künftig Kulturorte zweiter Klasse?" reizte: Anstatt Musikorte als Kulturstätten wie zum Beispiel Opern einzustufen, sieht der Entwurf eine neue Kategorie namens "Musikclubs" vor, die nicht mit denen auf einer Ebene steht. Per farbenfroher Excel-Tabelle visualisiert die LiveKomm, dass sich perspektivisch nicht allzu viel verändern würde.

Die Beggars Group ist ein Indie, aber sind Indies nicht gleich Indies: Zum ersten Mal durchbrach das Unternehmen, zu dem die Labels 4AD, Matador Records, Rough Trade Records, XL Recordings und Young gehören, die Einkommensgrenze von 100 Millionen Pfund. Gemeinsam mit Secretly Distribution und Cargo Records UK hat die Firma einen Teil des Geldes sogleich in die Gründung eines neuen Independent-Vertriebs gesteckt. Beggars und Secretly sind ebenfalls Mitbegründer eines "Musikwirtschafts-Think-Tanks" namens ORCA. Die weitreichende gemeinsame Organisation von Indies ist allemal zu begrüßen, angesichts der Größenordnung der Beteiligten versprüht die Sache allerdings auch ein paar Konsolidierungs-Vibes. 

Believe ist ebenfalls so ein Indie, der viel gigantischer ist, als es der Begriff denken lässt – Benn Jordans Digital-Vertrieb TuneCore gehört unter anderem zu dessen Portfolio. Im ersten Halbjahr setzte das französische Digitalunternehmen 474 Millionen Euro um, ein Wachstum von 14 Prozent. CEO Denis Ladegaillerie will zukünftig für noch mehr davon sorgen und schaut sich nach neuen Investitionsmöglichkeiten um, zuletzt kaufte Believe 25 Prozent der Anteile an Global Records, um das rumänische Label mit Schwerpunkt Großraumdissen-Sound zu einem "weltweit führenden" im Dance-Segment zu machen. Na dann.

Defected macht mittlerweile mit dem Verlagszweig von WMG, Warner Chappell Music UK, gemeinsame Sache. Das steht natürlich ganz im Zeichen des großen Runs auf die kleine Szene, der zuletzt in diesem Magazin thematisiert wurde.

Dice, der unnütze Ticketing-Dienst, der vor einer Weile den Boiler Room gekauft hat, steht eventuell kurz vor dem Verkauf

EQUA.LS ist eine App, durch die Fans Geld verdienen können, wenn auf ihre Empfehlung hin andere Nutzer:innen Musik kaufen. Dahinter stecken natürlich irgendwelche Web3-Firmen, die ernsthaft hirnrissige Sätze wie diese in ihre Pressemitteilungen schreiben: "It also creates a new ecosystem for DJs; when you purchase a track on EQUA.LS you can request a .WAV or lossless music file to be emailed to you, perfect for playing out. And the Collector/DJ/Grid curator who brought it to your attention is paid." Wer sagt's ihnen? 

Die Festivalkrise läuft weiter, obwohl die (Haupt-)Saison vorüber ist. Die britische Association of Independent Festivals (AIF) zählte Mitte August rund 60 abgesagte Veranstaltungen und befürchtet, dass bis Jahresende gut 40 weitere folgen werden. Auch in den Niederlanden wurden nach letztem Stand mindestens 60 Festivals abgesagt. Für Deutschland liegen solche Zahlen aktuell nicht vor, nach dem Melt kündigte aber auch das ebenfalls zu GoodLive beziehungsweise Live Nation gehörende Festival Full Force in Ferropolis an, 2025 nicht wiederzukehren und auch das Nachtiville wird 2025 nicht stattfinden. Der Markt dünnt sich hierzulande vielleicht langsamer, aber nicht minder konsequent aus. 

Jägermeister ist bekanntlich nach Berliner Luft der zweiteffektivste Zahnpastaersatz nach zwölf Stunden Rave und versucht seit Jahren verzweifelt, sich mit Club-Coolness zu schmücken, pardon, den Underground zu retten. Wir erinnern uns sicherlich alle gerne daran, wie Peggy Gou im Rahmen der #SaveOurSub-Kampagne im Jahr 2020 Geld an ihren Geschäftspartner schickte. Mit dem Risikokapitalfonds Best Nights VC will das von Curt Mast (NSDAP-Mitgliedsnummer: 3.183.016) gegründete Unternehmen nun laut einem Advertorial von Resident Advisor (dessen Neuaufstellung als Agentur offensichtlich gut anläuft) Investitionen in die Szene "destigmatisieren", wie es in der Überschrift hieß. Klar: Auch für marginalisierte Positionalitäten wie die eines multinationalen Schnapsherstellers müssen Clubs als Safer Spaces dienen.

James Blake hat nach dem Rohrkrepierer Vault und dem Dienst Indify nun die nächste Plattform entdeckt, über die er ganz sicher totale faire Konditionen für seine Arbeit als mittlerweile selbstständig arbeitender Künstler bekommen wird – zumindest laut einem wortreichen Instagram-Post. Hinter dem von ihm beworbenen Service bside steckt die Firma AnyRoad Inc., die – ein Leitmotiv in Blakes jüngeren Bemühungen, mithilfe von Risikokapital seine Einnahmen abzusichern – über die vergangenen zehn Jahre mit viel Geld von Andreessen Horowitz und sogar BlackRock aufgepumpt wurde. U ok, James?

SoundCloud, dessen Auf und Abs ich kürzlich in diesem Magazin versuchte nachzuvollziehen, hat sich ebenfalls mit Resident Advisor zusammengetan. Die strategische Partnerschaft ist sinnvoll für beide Seiten, weil sie Musikstreaming und Ticketing noch enger verzahnt. Zusätzlich bietet SoundCloud nun auch noch Merch an – sowohl von der Firma selbst als von Rap-Artists wie Wiz Khalifa. 

Spotify-Aktien sind mehr wert denn je, was beim aktuellen wirtschaftlichen Kurs des Unternehmens verständlich ist: Nach dem zweiten Quartal konnte das Unternehmen erneut Gewinne und ein gesundes Wachstum vermelden. Ein Grund dafür sind die massiven Einsparungen, die Spotify zuletzt vornahm – selbst Teile des Büros in New York City werden mittlerweile untervermietet. Sparen ist das eine, neue Einnahmequellen eröffnen und den Gewinn langfristig maximieren das andere. Daniel Ek verspricht unter anderem ein neues (und also teureres) Abo-Modell, das eventuell den Hi-Fi-Sound bieten könnte, den die Konkurrenz schon seit … äh … einigen Jahren hat. Interessant ist vor allem, dass Spotify offenkundig mehr Videoinhalte auf die eigene Plattform bringen möchte: Ob der Ausbau dieses Segments zum kostspieligen Rohrkrepierer wird (wie das mit den überzogenen Investitionen ins Podcast-Segment der Fall war), wird sich zeigen, bei einem Erfolg würde Spotify aber sukzessive in Konkurrenz mit YouTube, Twitch und Co. treten. Das würde der Plattform noch einmal umso mehr Marktmacht verleihen.

Stadt nach Acht, die sonst vorrangig in Berlin ansässige Konferenz zu clubkulturellen Themen, findet am 24. und 25. Oktober erstmals in Augsburg statt. Auf dem Programm stehen Panels und Vorträge zu Themen wie Restriktionen für das bayerische Nachtleben, Drugchecking und die Frage nach einem parlamentarischen Forum für den Freistaat, wie es bereits eines auf Bundesebene sowie in Berlin gibt. 

Subvert ist ein genossenschaftlich organisierter Marktplatz für digitale Musik, der sich selbst als "Bandcamp-Nachfolger" apostrophiert. Nun geht es Bandcamp den Umständen entsprechend weiterhin gut, doch sind Alternativen auf dem Markt – vor allem solche, die sich dessen Mechanismen nicht unterwerfen – nötiger denn je. Ähnliche Projekte gibt es mit Jam und Mirlo schon seit einer Weile, Subvert unterscheidet sich von ihnen durch die dezidierte – wenngleich wohl noch theoretische – Offenheit für Investitionen von außen. Quasi-Sozialismus mit Risikokapital im Rücken? Sonderbare Perspektive. 

TikTok stampft den erst im Sommer vorigen Jahres gelaunchten Musik-Streaming-Service TikTok Music im November ein. Die Nachricht kam überraschend, galt der zuerst in Brasilien und Indonesien sowie schließlich in Australien, Mexiko und Singapur gelaunchte Dienst doch als potenzieller "Spotify-Killer". Zum einen ist aber fraglich, ob TikTok Music auf den fünf Märkten ein ausreichend großes Publikum anziehen konnte – allein schon, weil in dreien von ihnen der Katalog von UMG fehlte und wir zuletzt in der Auseinandersetzung zwischen der Eltern-App und dem Musikkonzern beobachten konnten, welche Macht in just diesem Katalog steckt. Zum anderen fokussiert sich TikTok stattdessen auf sein "Add to Music App"-Feature und macht Spotify, Apple Music und Co. zu Partnerinnen statt zu Konkurrentinnen. Das könnte vor dem Hintergrund des drohenden Verbots der App in den USA strategisch hilfreich sein.

Vienna After Dark ist eine Konferenz über Clubkultur nach dem Vorbild von Stadt nach Acht (s. o.), die zwischen dem 14. und 16. November erstmals in Wien stattfindet. Ich werde dort ebenfalls einen Vortrag halten, das volle Programm ist hier einzusehen

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