Recap 2024: Elektronische Musik in Deutschland
Wie kann man das Jahr 2024, was elektronische Musik in Deutschland angeht, zusammenfassen? Gar nicht. Alle erdenklichen Trends und Strömungen abzubilden, allein der Versuch, wäre vermessen. So vielseitig, stark und subtil ist das elektronische Musikbusiness weiterhin, glücklicherweise. 2024 war in etwa wie 2023, vielleicht auch wie 2022; nicht so sehr wie 2017, 2018, 2019. Es war anders. Aber nicht bahnbrechend-erleuchtend. War das jemals ein Jahr allein? Wahrscheinlich nicht.
Musikalische Entwicklungen werden, wie das Leben selbst, nach vorne gelebt, nach hinten verstanden. Der Blick zurück lohnt sich also doch. Was war wichtig, was stach heraus, und was lässt sich daraus für die Clubkultur ableiten? Um das herauszufinden, hat unsere Autorin einige Alben, Label, Kollektive und Künstler:innen ausgewählt, die dieses Jahr, wenn auch nur fragmentarisch, beschreiben.
Vorangestellt werden muss, natürlich, dass Musik und die Bedeutung eines Albums für ein bestimmtes Jahr, subjektiv sind. Was für den einen unbedingt relevant und am Zeitgeist ist, ist für die andere unbedeutend und bleibt deshalb unbeachtet. Als alleinige Autorin dieses Artikels wünsche ich mir, dass das Geschriebene im Kosmos der Flut an Jahresrückblicken als eine Stimme unter vielen wahrgenommen wird; nicht als eine, die es besser wissen möchte oder bestimmen wollen würde, wie man auf dieses Jahr blickt.
Klingt alles gleich (gut): Club Heart Broken
Wenn ich daran denke, was 2024 herausstach: Club Heart Broken, for sure. Was ich im Gespräch mit anderen über das Label öfter höre, ist der Satz "klingt alles gleich". Und der ist meistens eher despektierlich gemeint. Bei mir nicht. Es gibt Fälle, da hört sich vieles ähnlich an, ist aber auf immer gleich hohem Niveau produziert. Oder tatsächlich Teil der Wiedererkennung, der Eindeutigkeit und Klarheit. Das Label und die Partyreihe Club Heart Broken von Malugi und Marlon Hoffstadt ist, würde ich sagen, so ein Fall.
Die Releases sind überall zu hören und vor allem die beiden überall zu sehen. Peak-time 2024. Reel after Reel after Reel. In UGG-Boots für die aktuelle Koop, vorher waren die CHB-Residents noch oft in Adidas-Kluft, aber das hat mittlerweile nachgelassen; immer gut gelaunt, immer eins-zwei Hände up in the air, immer sprungbereit, immer Party, immer größere Hallen.
Dazu werden mir Vlogs bei Instagram in den Feed gespült. Auch eine Jobanzeige, dass Content Creator und Videograf:innen gesucht werden. Denn es muss gefilmt und festgehalten werden, was wir da im Internet sehen: CHB-Gründer Malugi in London, in L.A., auf dem Weg eine Sonnenbrille zu kaufen, hinter dem DJ-Pult, beim nächsten Boiler Room, in einem Golf-Caddy, im Taxi, back-to-back mit Marlon Hoffstadt vor gefühlt mindestens dreitausend Menschen, die alle singen, schreien, hüpfen und viel, viel Freude haben.
Breit gegrinst und fest verzinst, es läuft bei den beiden. Und bei ihrem Label. Man kann sich den Tracks nicht entziehen, auch wenn sich vieles ähnlich anhört. But why not, es ist gleichermaßen eben genau das: schlicht, gut, happy und stimmig. Trance, Vocals, ab dafür. Ein universelles Verlangen nach Auf-und-ab-Springen, Leichtigkeit und power-power-power-housigen Motiven wird von Club Heart Broken und ihren EPs bedient; was auf dem Dancefloor, zweifellos, und auch international gefragt ist.
Selbst ich habe schon das ein oder andere Reel zu Tracks wie "Reach out" geschnitten (und nicht gepostet). In der Running-Playlist der Millenial-Raver-Generation darf der 2024er-Hit "Move My Body" wahrscheinlich ebenso nicht fehlen. Läuft gleich nach "Bauch Beine Po" von Shirin David.
Schnell, hart, schrill, laut: Sachsentrance
Heimat verpflichtet. Always hardcore, always on – another story of success. Scooterliebhaber und "Abriss"-Verfechter lieben, völlig zu Recht, Sachsentrance. Und das hat dieses Jahr zugenommen. Vom Festival-Showcase auf Malta über ihr eigenes Festival "Trance Force" bis hin zu vollen Terminkalendern von Resident Artists wie Raverpik, Blame the Booker oder The Jakob Sister, die mittlerweile auch in China (kein Scherz) gefragt sind – it's getting bigger and bigger, wilder und bleibt trotzdem glaubwürdig.
Im Sachsentrance-Party-Bus wird getrichtert, die Skianzüge bleiben neonfarben und der Sound Scooter-lastig, aber nicht lästig. Am Rezept wurde wenig geschraubt, warum auch? Es schmeckt. Meine Prognose: 2025 geht es genau so weiter. "Und das ist auch gut so."
Gabber-Fiebertraum: Olmatri
Was seit Post-Corona-Club-Öffnungen "a thing" ist: viel BPM. Kommt auch 2024 nicht aus der Mode, im Gegenteil. Es müssen auch mal 170 BPM gespielt werden, sonst war es keine gute Party. Auf jeden Fall keine mit einem jüngeren Publikumsanteil. Gabber kam 2024 zurück – oder war nie weg. Das bewies Producer und DJ Olmatri, Resident von Gabber Industries Berlin, erst kürzlich auf dem Balance Festival. Ein absoluter Fiebertraum war das.
Und extrem gut. Der junge Producer mit Hang zu Weihnachtsdeko brachte im Sommer seine EP mit dem Namen 'Transient heraus', die unbedingt, egal wie euer Verhältnis zu Gabber ist, dieses Jahr mindestens einmal angespielt werden sollte. Um einen Bruchteil des Gabber-state-of-the-art zu hören.
Horror-Ästhetik und blutiges "Schmatzen"
Wer den Film 'The Substance' gesehen hat, dem zieht sich vielleicht bei der Erinnerung an den Film noch ein wenig der Magen zusammen. Da ich kaum hinsehen konnte, dafür aber genauer hinhören musste, hat sich das (wirklich großartige) Sounddesign regelrecht in meinen Kopf gefressen. Der Sound des Films ist "gekommen, um zu bleiben", I guess. Vom Titeltrack bis zum typischen Schmatzen von Innereien (if you know, you know) hat mich akustisch einiges an die Auftritte von Künstler:innen im Berghain während des CTM Festivals Anfang des Jahres erinnert.
Von diesem Festival habe ich eine Strömung mitgenommen und in diese an vielen Ecken, besonders im experimentellen Bereich, immer mal wieder reingehört: Horror. Ob Demisanté, Myen oder Lung, allen ist der Horror nah, in der Ästhetik sowie beim Sound. Bemerkenswert, abstoßend, anziehend und speziell. Ein bisschen wie The Substance.
Peru, Iran, Armenien – Sofia Kourtesis, HJirock und Anahit Vardanyan
Dezent und druckvoll, eigen, auf- und abtauchend, verschwommen und verspielt – das Debütalbum der peruanischen Producerin Sofia Kourtesis handelt von Müttern, von Rettung, von Hingabe, von Schmerz. Und wurde Anfang des Jahres mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik in der Kategorie "Club and Dance" ausgezeichnet. Das Album, auch wenn es bereits Ende 2023 erschien, hat somit auch im Jahr 2024 gewirkt. Hinter dem Track 'Vajkoczy' verbirgt sich eine Geschichte von großer Angst um einen geliebten Menschen, einem fast märchenhaften Instagram-Aufruf und einem Berliner Neurochirurgen. Das Album rangiert zwischen Loslassen-wollen und nahezu erstarrtem, melancholischem Rückzug, ist dabei aber immer warm, nah(bar) und tief. Das Album hat viel, was 2024 on my very personal list war, aber auch gesellschaftlich verhandelt wurde.
Zwei weitere ausgezeichnete Künstler:innen sind Hani Mojtahedy und Andi Toma von Mouse On Mars, die sich HJirok nennen. Mit ihrem Album Hjirok (das "j" wird einmal groß und einmal klein geschrieben, daran unterscheidet sich Künstler:innen-Name von Album-Titel) traten sie Anfang des Jahres im Silent Green in Berlin auf und verzauberten ihr Publikum. Ende des Jahres wurde das Album, das auf dem Label Altlin Village & Mine erschien, mit dem Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik geehrt. Es sind solche herausragenden, experimentellen Funken, die elektronische Musik weiterhin – auch außerhalb des Dancefloors – relevant machen. Ein persönliches Must-hear 2024.
Was auch 2024 nicht ausstirbt, sondern eher einen Gang zulegt, ist Melodic Techno. Ja, ich war auch skeptisch, aber Anahit Vardanyan tritt den ultimativen Gegenbeweis an. Allein ihre Single 'Eraz', die auf dem Watergate-Label veröffentlicht wurde, ist zu gut, als dass sie 2024 nicht mitgeprägt haben könnte. Als Live-Act gefragt, bei Instagram bemerkenswert beliebt – she knows how to do stuff. Melodic Techno bewegt Menschen im Club, das sieht man in ihren Videos sehr deutlich. Menschen wollen fühlen – entweder deep und melodisch wie bei Anahit Vardanyan oder sie wollen in einer nahezu bewusstlos-machenden Stakkato-Schnelligkeit untergehen, körperliche Erschöpftheit wahrnehmen und damit auf die Suche nach einem fühlenswerten Moment gehen.
20 Jahre Berghain: The show goes on, on, on
Bei all den neueren Entwicklungen, neuen Alben und Newcomer:innen gibt es – natürlich, immer – auch Konstanten. Die lassen sich an keinem Line-up besser ablesen als an dem des Berghains zum 20. Geburtstag: Fadi Mohem, Rødhåd, Steffi, Vincent Neumann, Efdemin, Len Faki, Marcel Dettmann. Techno goes on, die Schlange vor dem berühmtesten Techno-Tempel ist, auch wenn nicht gerade 20-Jahre-Berghain-Birthday gefeiert wird, lang wie eh und je.
Hier müssen wir uns keine Sorgen machen. Und sehen: Good old Techno ist weiterhin da, wichtig, wahrhaftig. Und wird es immer bleiben. Zumindest, wenn eben jener Techno im Berghain ballert. Manches bleibt eben, wie es ist. Gibt es etwas Schöneres? Ich glaube nicht.
Ein gutes Jahr für elektronische Musik (Fragezeichen)
War es ein gutes Jahr? So generell: Nein. Es fällt meinen Fingern zunehmend schwerer, es noch einmal aufzuschreiben, denn jede Wiederholung macht es mehr und mehr zur Plattitüde: Es ist Krise. Krieg. Kultur und Bildung werden eingekürzt, die rechtsextreme AfD hat bei zwei Landtagswahlen um die 30 Prozent an Stimmen für sich vereinen können, in Leipzig rufen 400 Neo-Nazis "Ost! Ost! Ostdeutschland" und bedrohen den Christopher Street Day mit ihren rechten Drohgebärden, in Frankreich wurde im beispiellosen Fall Gisèle Pelicot gegen über 50 Vergewaltiger verhandelt und geurteilt. Das ist nicht lange her, ein paar Monate nur, wenn überhaupt. Jeden Tag kommen Meldungen dieser Art dazu.
All das verlangt (eigentlich) nach Utopie, nach Exzess, nach Ausgleich, nach einer kurzen Pause. Und um diese bescheidene Pause zu bekommen, zu erfahren, sind Clubs immer noch Anlaufstellen, teilweise. Und beim Musikhören per se; beim wirklichen Eintauchen in ein Motiv, eine Melodie oder eine großartige, dröhnende Fläche, die uns kurz all das, was uns umgibt, vergessen lässt, können wir abschalten, ein bisschen wenigstens. Trotzdem: Clubkultur geht die Puste aus. Clubs können nicht die Welt retten, das ist uns, den Ravern, mittlerweile klargeworden. Können sie sich noch selbst retten? Und ihrem Publikum musikalische Innovation bieten? Ich wage es kaum, diese Frage zu stellen. Sie logisch und nicht emotional zu beantworten, ist leider unmöglich.
Die Livekomm, der Bundesverband der Musik- und Livespielstätten, hat in einer Umfrage unter ihren Mitgliedern düstere Antworten erhalten. 16 Prozent der Betreiber überlegen, zuzumachen. Der "Circle of Live", also die Möglichkeit, für junge Newcomer:innen, und das betrifft auch DJs und Liveacts, Auftrittserfahrung zu sammeln, würde damit langsam aber sicher verschwinden. Einheitsbrei ist die Befürchtung, sagte mir Christian Ordon, Geschäftsführer der Livekomm. Und dann? Mehr Kommerz, mehr Insta-Koops, noch mehr Unreal-Fetisch, mehr Gleichklang, auch dank Künstlicher Intelligenz. (M)Ein tröstlicher Gedanke: Die (musikalische) Gegenbewegung wird (hoffentlich) nicht lange auf sich warten lassen.
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