Review: A.A.L./Nicolas Jaar - 2017-2019/Cenizas/Telas
Ende der Nullerjahre kam Bewegung in die Indie-Szene. Wohin es ging? Richtung Dancefloor natürlich. Gemächlich allerdings. Neben Four Tet, Caribou, Robag Wruhme und anderen gehörte Nicolás Jaar zu einer Riege von Produzenten, die klassische Pop-Strukturen und Club-Ansprüche miteinander in Einklang bringen konnte. Nach dem internationalen Erfolg von ‘Space Is Only Noise’ allerdings näherte sich der New Yorker weitgehend avancierteren Formen an, bevor er im Jahr 2018 mit ‘Against All Logic’ an den emotional aufgeladenen House-Sound seiner Anfangstage anknüpfte. In diesem Jahr versucht er offenkundig, alles auf einmal zu bieten – nur fein säuberlich voneinander getrennt. Von gleich drei Alben ging das aber nur in einem Fall wirklich gut.
Eigentlich begann dieses produktive Jahr für Jaar bereits im November 2019. Mit FKA Twigs‘ Album ‘MAGDALENE’ erschien eine Platte, für die er als zusätzlicher Produzent herangeholt wurde und in deren Credits er doch nicht auftauchen wollte. Nicht etwa, weil er sich für das Ergebnis geschämt hätte, sondern weil er seinen Anteil als zu geringfügig betrachtete, wie Tahliah Barnett in Interviews berichtete. Tatsächlich ist Jaars Name durchaus dreimal im Booklet der Platte zu lesen und Barnett revanchierte sich bereits kurz darauf für seinen Input: ‘Alucinao’ lautete der Titel des neunminütigen Against-All-Logic-Tracks, an dem FKA Twigs genauso beteiligt war wie Estado Unido – wer auch immer das sein soll. Das ominöse Stück erschien gemeinsam mit einem weiteren Feature-Track, der sich auf eine deutlicher zu identifizierende Stimme stützte: No-Wave-Legende Lydia Lunch sprechsang mit kongenialer Melancholie über kratzige Beats.
Damit wären die Eckpunkte abgesteckt, um die sich Jaar in diesem hyperaktiven Jahr bewegte: Einerseits versuchte das folgende A.A.L.-Album ‘2017-2019’ der schwermütigen Gefühligkeit des Projekts härtere Töne entgegenzusetzen und konnte damit selbst einige Jaar-AgnostikerInnen umstimmen. Andererseits bewies der Produzent erneut, dass er neben dem neugefundenen Rumms und Wumms weiterhin Avantgarde-Ansprüche hegte und sich darüber hinaus noch zum interdisziplinären Austausch verpflichtet fühlt. Seine zwei folgenden Alben setzten das auf jeweils unterschiedliche Art und Weise um.
‘Cenizas’ war das erste Jaar-Album unter seinem Klarnamen seit dem Jahr 2016 und erschien auf seinem Label ‘Other People’. Die LP vertiefte Jaars Interesse an Sound-Art und Ambient-Texturen, war aber genauso von dem hyperbescheidenen Pathos geprägt, das schon ‘Space Is Only Noise’ perfektioniert hatte: Ob Chorpassagen, verhallte Spoken-Word-Sounds oder quietschige Bläsereinsätze – es sind vor allem die Abwesenheit von Beats und das bisweilen spartanisch wirkende Klangbild, die für emotionale Schlagkraft und atmosphärische Dichte sorgen.
Jaar triggert Atmosphären und Gefühle an wie kaum jemand sonst. Er hascht nicht nach Effekten, sondern produziert per Feinjustierung Affekte. Nicht immer allerdings verbirgt sich dahinter auch viel Substanz. Als Album haftet ‘Cenizas’ etwas Skizzen- und Bruchstückhaftes an. Hier treten auf ‘Mud’ elegische Drones und ein monotoner Beat in Dialog miteinander, dort brummt ‘Rubble’ unmotiviert vor sich hin und zum Abschluss dreht ‘Faith Made of Silk’ erst mit Psych-Pop auf, bevor das Stück in IDM-Geratter zerfleddert und für die letzte finale Minute fast vollständig verstummt. Es wirkt, als wäre das Album von seinem eigenen Ende überrumpelt worden.
Die Konzeptlosigkeit von Against All Logic erlaubt Jaar Freiheiten, die er auf ‘2017-2019’ bravourös für eine Frischzellenkur nutzt. Die von ‘Cenizas’ steht hingegen dem Anspruch des Albums im Weg. Viel wohltönende Stille, wenig Gehalt.
Bereits zwei Monate nach ‘Cenizas’ veröffentlicht Jaar dessen Nachfolger, ‘Telas’. Doch steht dieser weniger in der Tradition von ‘Space Is Only Noise’ oder ‘Sirens’, sondern dockt an ‘Pomegranates’ aus dem Jahr 2015 an. Für den armenischen Avantgarde-Film ‘Die Farbe des Granatapfels’ aus dem Jahr 1969 schrieb Jaar einen imaginären Soundtrack, der teilweise entstand, bevor er das surrealistische Werk überhaupt gesehen hatte. Auch diese Veröffentlichung ist voller Andeutungen und in sich heterogen, unterstrich kurz nach dem Erfolg seines Projekts Darkside mit Dave Harrington letztlich aber Jaars Verlangen, nicht nur als Produzent stimmungsvoller Schulterschlüsse zwischen Dancefloor und Indie-Kultur wahrgenommen zu werden – sondern als Komponist mit Konzept, als interdisziplinär arbeitenden Klangkünstler.
‘Telas’ nun korrespondiert mit Zeichnungen des indischen Künstlers Somnath Bhatt, die an die pixelige Ästhetik von ASCII-Art gelehnt sind und aussehen wie von Kinderhand mit einer Zaubertafel oder zumindest MS Paint gemalt: naiv und doch bedeutungsschwanger. Dort ist eine Art von Schrift zu sehen, die sich nicht entziffern lässt, anderswo schält sich eine antik wirkende Figur aus den umliegenden Formen, auf einem anderen Tableau herrscht geometrisch durchdachtes Chaos. Die Zeichnungen machen einen gleichermaßen verspielten wie mysteriösen, um nicht zu sagen mystischen Eindruck.
Und die Musik dazu? Rumpeliger Pseudo-Gamelan, erdrückende Orgelpassagen, noisige Klangschalen-Vibes bietet schon das erste der vier zwischen zwölf und 17 Minuten langen Stücke. Jaar spielt wie auch auf ‘Cenizas’ mit bestimmten kulturellen Markern, scheint Klänge aus dem mittleren Osten oder Südostasien andeuten zu wollen. Er formuliert zum Glück aber keine naive Weltmusik aus diesen Elementen, sondern verblendet sie mit elektronischen Klängen, welche die drei weiteren Stücke von ‘Telas’ dominieren. Blubbernde Ambient-Sounds prägen Teil zwei, flirrender Noise und pfeifende Minimal Music ‘Telas 3’ und schließlich kullern entschlackte Downtempo-Grooves mit erneuten Ethno-Anmutungen dem Finale entgegen. Strukturell ist ‘Telas’ noch freier als ‘Cenizas’, wirkt darüber jedoch nur umso planloser – und will nicht so recht deutlich machen, inwiefern es mit Bhatts Kunst kommuniziert. Zurück bleibt ambitioniertes Ohrenkino für den Sonntagmorgen-Kaffee.
Gemeinsam zeichnen ‘2017-2019’, ‘Cenizas’ und ‘Telas’ das Bild eines Produzenten, der sich in noch jedem Gebiet beweisen möchte und dem das allerdings über all die Ambitionen nur selten gelingt. Jaars großes Talent lag von Anfang an darin, verschiedene Welten zusammenzubringen. Indem er nun sein eigenes Werk in verschiedene Universen auszudifferenzieren versucht, steht er sich selbst im Weg.
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