Review: Alva Noto – Xerrox, Vol. 4 [Noton]

Review: Alva Noto – Xerrox, Vol. 4 [Noton]

Features. 20. Juni 2020 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Als Musik kleidet Ambient den Raum aus, verspricht im selben Zug aber auch Entschleunigung. Die ist der Xerrox-Reihe von Alva Noto eh eingeschrieben: Der vierte und vorletzte Teil erscheint ganze dreizehn Jahre nach dem ersten. Und sowieso lässt der NOTON-Gründer auf den über siebzig Minuten von Xerrox Vol. 4 die Zeit aus den Fugen geraten. Auch weil die Zeiten gänzlich andere sind als noch am Anfang seiner Reise.

Denn als solches will Carsten Nicolai die Xerrox-Reihe verstanden wissen: Eine Reise, genauer: Ein riesiges Epos im Sinne Homers und dessen Odyssee, der Jules-Verne-Romane oder Thomas Morus‘ stilprägendem philosophischen Roman Utopia. All diese kanonischen Texte werden in die Tracktitel eingeflochten, die Referenzen allerdings erschöpfen sich auf den sprachlichen Verweis. Hatte Nicolai noch zuletzt mit einer Coverversion von The Cures „A Forest“ zu dessen 40. Jubiläum ums Eck noch einem anderen Schlüsseltext der westlichen Literatur – die Lyrics des Originals sind von Dante Alighieris La Divina Commedia inspiriert – einen wortlosen Tribut gezollt, so ist Xerrox Vol. 4 noch undeutlicher, opaker, hermetischer gar.

Dennoch wird schon von den ersten zögerlichen Akkorden und schmierigen String-Sounds des Openers „Xerrox Kirlian“ deutlich, dass die Musik dieser Ausgabe eher licht und luftig als lo-fi und dunkel ausfällt. Nachdem die beiden ersten Teile aus den Jahren 2007 und 2009 noch eindeutig in der Tradition von kratziger Medienkunstmusik wie den frühen Oval standen, hatte schon der dritte im Jahr 2015 bewiesen, dass sich mit den Zeiten auch die Technologie und die Medien, also auch der künstlerische Ansatz und die Ästhetik des Mammutprojekts geändert hatte. Xerrox Vol. 3 folgte weiterhin dem grundlegenden Prinzip, das dem Namen als Verweis auf den bekannten Kopiermaschinenhersteller Xerox eingeschrieben ist: Die Stücke beziehen ihre Sounds aus den digitalmateriellen Effekten, die sich bei Kopiervorgängen ergeben. Grains und weißes Rauschen, kratzige Flächen: die klangliche Ungenauigkeit dominierte anfangs, nahm aber analog zum digitalen Fortschritt immer mehr ab.

Xerrox Vol. 4 ist folgerichtig ein slickes Lossless-Hochglanzprodukt geworden, dessen Material fast genauso unmerklich auf seinen Entstehungsprozess verweist wie die Stücke auf ihre literarischen Inspirationsquellen. Selbst wenn – wie schon auf dem zweiten Stück „Xerrox Neige“ – knuspernder Noise das Flirren und die choralähnlichen Texturen durchbricht, klingt das viel eher nach Absicht als nach einem Abrieb, der während des Kopiervorgangs entstanden ist. So trägt die Musik der rasenden technologischen Entwicklung der vergangenen Jahre Rechnung und scheint im selben Zug das Tempo zu verlangsamen. Den dezenten rhythmischen Elementen von „Xerrox Plongée“, den massiven Basstönen von „Xerrox Canaux“ und den aufreibenden atmosphärischen Untertönen von „Xerrox Sans Retour“ oder „Xerrox Apesanteur“ zum Trotz regelt diese Musik doch den Puls genauso herunter, wie sie die Uhr etwas langsamer ticken lässt.

Damit wiederum befindet sich Xerrox Vol. 4, das im Februar des Jahres noch vor Anbruch weltweiter Quarantänemaßnahmen seinen Abschluss fand, versehentlich auf der Höhe Zeit. Doch handelt es sich eben nicht um fachgerecht verkleisterte Wandtapetenmusik, sondern die (vorerst) letzten und logischen Resultate eines konzeptionell ausgerichteten Projekts, das Seinesgleichen sucht. Als vierter Teil der Xerrox-Reihe spiegelt das Album mit schimmernder Schönheit die Irrungen und Wirrungen einer Welt wider, welche Nicolai in die Gefriertruhe schickt, um sie abzukühlen und bis auf molekularer Basis zu verlangsamen, damit die Details stärker hervortreten. Obwohl das sicherlich auch eine Wohltat ist, überwältigt es zusammengenommen mit den vorigen Alben in seiner Intensität. Und es bleibt trotz aller Verweise auf ziemlich alte Schinken am Zeitgeist orientiert. Nicolais Reise ist noch nicht an ihr Ende gekommen, ihren vorläufigen Höhepunkt indes hat sie erreicht.

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