Review: David August – VĪS [99CHANTS]

Im Trubel unseres Alltages geht es für viele immer höher, schneller, weiter. Alles wird zu viel, alle wollen etwas von einem, die Grenzen zwischen Arbeit und Abschalten verschwimmen und eh wir uns versehen, verfallen wir der Erschöpfung. Damit die Zündschnur etwas länger wird, integrieren wir kleine Momente der Entspannung in unseren Alltag. Eine Stunde Yoga, zwei Stunden spazieren und das Handy auch mal auf Flugmodus stellen. Etwas Esoterik, etwas Feng Shui. Kleine Bewältigungsstrategien, um auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und im besten Fall irgendwo dazwischen noch das eigene Ich zu finden. Und wenn man lang genug im Selbstfindungsprozess steckt, stellt man sich auch mal die Frage, woher wir eigentlich kommen. David August tut genau dies auf seiner neuen Platte. Sie trägt den lateinischen Namen 'VĪS', was so viel bedeutet wie Energie oder Kraft – und genau die steckt in den 13 Songs. 

Fünf Jahre sind vergangen, seitdem der deutsch-italienische Komponist und Produzent sein letztes Album veröffentlichte, auf dem er seinen House-Hymnen-Status ablegt und stattdessen ein meditatives Ambiente-Album produziert. Nun folgt die Platte 'VĪS', auf der David August ein weiteres Mal mit Mainstream-Grooves bricht. Statt mit kurzlebigen Remixes und Sample-Hits für kleine Euphorie-Momente auf diversen Dancefloors zu sorgen, dreht es sich auf 'VĪS' um etwas viel Größeres – nämlich etwas, das bleiben wird. 

Zwei Jahre lang beschäftigte sich der heute 33-Jährige mit philosophischen Lehren, die das Hintersinnige ergründen. Zu dieser Zeit ist August in Rom ansässig, wo er sich der Sprache, Bewegung und Mystik des Nahen Osten widmet und dabei seine Gefühle und Gedanken auf 13 Songs archiviert. Das Produkt: eine alternative Vorstellung über die Entwicklung des Menschen durch Klang. Klingt pathetisch – ist 'VĪS' auch. 

Das Album unterteilt sich in vier Kapitel, die wie eine lineare Erzählung chronologisch aufeinander bauen. Schritt für Schritt erweitert August mit jedem Track sein akustisches Repertoire. So zeichnen 'AERA’ und 'VAHA' minimalistische Klanglandschaften, die sich aus sanften Flöten und flächigen Streichinstrumenten miteinander verweben und dabei vertraut musikalisches Ambiente mit schöpferischen Soundstrukturen erklingen lassen. 

Diese Motive des Zusammenspiels von Neu und Alt, Vertrautem und Unbekannten durchlaufen die gesamte Platte und kreieren zunächst einen skurril sonderbaren Tonfall, der irgendwann in stimmiger Harmonie mündet. 

Auf dem Weg dahin lässt sich David August Zeit, denn er sinniert ohne hastige Basslinien und pumpenden Beats durch die 13 Songs. In den darauffolgenden drei Kapiteln, nachdem nun der Mensch die “AERA-Schaffens-Höhle” verlassen und das Licht der Welt erblickt hat, geht es um die Erforschung einer bis dato unangetasteten, blühenden Natur. Die Klänge gewinnen an Harmonien. Lieblich und dezent kreisen die Melodien über den Track 'FLORA', welcher bereits samt Titel das akustische Setting errichtet. Das große Finale der Platte kündigen euphorische Trommel-Rhythmen an, die in elektronische Gewänder gekleidet sind. 'DANZA' und 'LIBRA' bilden schließlich den Ausklang. Mit Erkenntnis gestillter Ruhe, die sich peu à peu anstaut, entlässt 'VĪS' nun seine Hörerschaft, in der Hoffnung, ihnen eine ähnliche meditative Erfahrung aus der geistigen Quelle einzuhauchen, wie ihr Produzent es erlebt. 

Dass 'VĪS' keine allgegenwärtige Antwort auf die Frage der Menschheitsentstehung gibt, sollte klar sein. Es geht David August nicht darum, auf wissenschaftlichem Niveau die Schulbuchlektüre zu ersetzen, sondern vielmehr die tief in uns verwurzelten Gefühle jener längst vergessenen Vergangenheit aufzuspüren und ihnen im Hier und Jetzt einen Platz zu geben – und das tut erstaunlich gut.

VĪS von David August erschien am 06.10.2023 via 99CHANTS.