Matthew Edwards prägt seit gut zwei Jahrzehnten das Geschehen und hat in dieser Zeit mit vielen mittlerweile legendär gewordenen Remixen, Dutzenden von Singles und seiner Tätigkeit als Rekids-Labelbetreiber den Sound von Techno und House nachhaltig geprägt. Am Full-Length-Format hatte sich der Brite bisher nur ein einziges Mal versucht. Jetzt erscheint mit ‘Radio Silence’ gleich ein opulentes LP-Triptychon, dessen erster Teil auf geschlossene Dancefloors einschlägt. Das kann doch nicht gutgehen – oder?
Edwards’ Währung ist seit jeher der Exzess. Bekannt wurde er mit einem zehnminütigen Remix von Kylie Minogues ‘Can’t Get You Out of My Head’, der das Original mit einer Konsequenz in die Länge zog, die klar auf die Disco-Wurzeln von House zurückverwies, aber auch von den Extended Versions von Pop-Hits inspiriert war, wie sie die frühe Balearic-Szene prägten und Mitte der Neunziger sogar den Mainstream erreichten. Larry Levan oder Trevor Horn hießen von Anfang an die Helden des DJs, der die musikalische Verwässerung und ökonomische Überdehnung von Clubkultur seit Beginn seiner Karriere immer wieder aufs Korn genommen hat. Und so erscheint also ‘Radio Silence’ inmitten einer Krise und versucht neu zu definieren, wie Exzess klingen kann, indem es sich auf alte Grundwerte besinnt.
Es ging von der Basis aus über einen Umweg zurück zur Zukunft. Die sieben Stücke des ersten Teils wurden live mit Hardware aufgenommen, Ableton diente lediglich als Sequencer. Nichts Neues, wie Edwards freimütig im begleitenden Pressetext einräumt, für ihn aber eine andere Arbeitsweise als zuvor. Und tatsächlich: Schon die flirrende, komplexe Ambient-Skulptur ‘Ghost’ am Beginn der Platte weist darauf hin, dass Edwards mehr als sonst eine Dramaturgie im Hinterkopf hat, die von den folgenden Stücken aufgenommen und weitergedacht wird, und sie mit raffinierten und doch wie gewohnt reduzierten Mitteln umsetzt.
Denn obwohl ‘Cell’ schon wieder eine harte Kick in den Vordergrund stellt, geht selbst in diesem Track Suspense über Ekstase. Selbst die bouncigen Grooves von ‘Contact’ und der rumorige und beinah psychotische Windkanal-Techno ‘ZQU’ wirken als stimmungsintensive Ankurbler, die auf das monumentale Kernstück der LP vorbereiten: ‘Ambush’ ist selbst für Radio-Slave-Verhältnisse mit seinen 13,5 Minuten Länge stattlich, greift genauso die Tonalität von ‘ZQU’ wie die irrlichternde Roughness der vorausgehenden Single ‘Command Z’ auf, dessen markante Orgelfigur als beatloses Stück auch auf ‘Radio Silence’ zu hören ist. Am erstaunlichsten an ‘Ambush’ ist die rhythmische Gestaltung, die mit einer minimalistischen Bassline und dezenten Akzentuierungen einen rauschhaften Groove erzeugt.
Atmosphäre und Strudel: So klingt Exzess bei Radio Slave im Jahr 2020 und tatsächlich würde das wunderbar auf dem Dancefloor funktionieren, lässt sich allerdings auch von der Couch aus goutieren. Kein Stück macht dies deutlicher als ‘SYD’, das die physische Version des Albums abschließt. Das Tempo ist rasant, die Kickdrum hart und doch nervös, der Raum weit. Mit wenigen Tönen schafft Edwards ein Gefühl von Offenheit, das in seiner Musik so bisher der horizontalen Ebene vorbehalten war. Statt die Schönheit der Wiederholung zu betonen und unendlichen Spaß in Aussicht zu stellen, baut ‘SYD’ mit feindosierten, lang gestreckten Synthie-Tönen eine Landschaft auf, die tiefe Weiten anbietet. Rave wird da zur Nebensache. Die bleibt allerdings essenziell, wie auch der digitale Bonus in Form eines Ambient-Mixes des Stücks beweist: In seiner beatlosen Variante ist ‘SYD’ weiterhin beeindruckend dicht, doch mangelt es dem Stück an der Eindringlichkeit, die das Original prägt.
Das Schöne an diesen sechs Tracks ist, dass Edwards darauf eine Art von Techno etabliert, die sich weder in Club-orientierter Tooligkeit erschöpft noch die übliche Effekthascherei nervenberuhigender New-Age- und Electronica-Musiken für sich verwendet. Als Auftakt einer dreiteiligen Serie bereitet ‘Radio Silence – Part One’ so eine Neuorientierung von Radio Slaves Schaffen vor und könnte damit weit über seine Diskografie hinaus vorbildlich werden. Denn Exzess wird sich im körperlichen Miteinander neu definieren müssen. Diese Musik geht künstlerisch mit bestem Beispiel voran.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Spotify. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf den Button unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
0 Kommentare zu "Review: Radio Slave – Radio Silence Part One [Rekids]"