Sellouts und Buy-ins: Wie sich die Majors wieder in der Szene breit machen

Sellouts und Buy-ins: Wie sich die Majors wieder in der Szene breit machen

Features. 3. September 2024 | 4,7 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Clubmusik boomt weiterhin, und alle wollen daran mitverdienen. Diese Geschichte ist bereits aus den Neunzigern bekannt und droht sich nun als Farce zu wiederholen: Die großen Musikkonzerne und andere internationale Player versuchen über alle Wege, sich in die Szene einzukaufen. Das könnte Spuren hinterlassen.

Jedes Jahr im Frühling reisen hunderte Menschen der Clubmusik wegen nach Ibiza. Genauer gesagt: wegen des Geschäfts mit dieser Musik. Der International Music Summit (IMS) wurde im Jahr 2007 ins Leben gerufen und ist seitdem neben dem Amsterdam Dance Event (ADE) ein verpflichtender Termin für alle, die mit Techno, House und anderen Spielarten elektronischer Tanzmusik ihr Geld verdienen, egal ob in der Booth oder hinter den Kulissen.

Im Rahmen des IMS wird jedes Jahr evaluiert, wie sich das Marktvolumen des weltweiten Geschäfts mit der Clubmusik aus dem Vorjahr beziffern lässt. Laut dem in diesem Jahr vorgestellten IMS Business Report waren das für 2023 11,8 Milliarden US-Dollar. Für das Jahr 2022 wurden 11,3 Milliarden errechnet, für das vorangegangene hingegen schlappe 6 Milliarden. Das verwundert kaum: Im zweiten Pandemiejahr lag die Veranstaltungsbranche, seit jeher der größte Geldesel der Szene, weiterhin am Boden.

Doch ist die Beinahe-Verdopplung des Marktwertes zwischen 2021 und 2023 allemal beachtlich und eine Summe von 11,8 Milliarden US-Dollar selbst im Vergleich zu Vorpandemiezeiten imposant: 2019 waren es noch 7,3 Milliarden US-Dollar. Keine Frage: Clubschließungen und ausgefallene Festivals haben dem Hype um die Musik nicht geschadet, vielmehr ist sie sogar endgültig ins Boom-Zeitalter übergegangen. Bemerkbar macht sich das vor allem im Eventbereich – zumindest in Teilen davon.

Viele kleinere und mittelgroße Clubs und Festivals schlagen seit den Wiedereröffnungen im Jahr 2022 konstant Alarm, weil sie inmitten einer Gemengelage aus verschiedenen Krisen höhere Ausgaben nicht mit gesunkenen Einnahmen verrechnen können. Das Th!nk? in Leipzig, nunmehr auch das Melt in Ferropolis: Entweder schleichend oder mit großem Knall verabschieden sich tradierte Institutionen vom Spielfeld. Die Erträge von riesigen Playern wie Live Nation oder CTS Eventim, die jeweils Festivals für elektronische Musik im Portfolio haben, schnellen derweil in die Höhe. 

In der Musikwelt im Allgemeinen wie auch in der Szene im Speziellen klafft die Schere zwischen Arm und Reich deshalb immer weiter auf. Fred again.. mag gemeinsam mit Skrillex und Four Tet den Madison Square Garden ausverkaufen, die Schlangen vor dem KitKat weiterhin bis zum Tresor reichen – im Falle weniger bekannter Acts und Clubs lässt sich das allerdings nicht beobachten. Auch sie tragen zwar auf ihre Art zum stattlichen Marktvolumen bei, profitieren davon aber nicht in gleichem Maße. 

Dasselbe lässt sich von denjenigen sagen, deren Musik die Dancefloors dieser Welt überhaupt in Bewegung hält. Die Wertschöpfungskrise von Produzent:innen und Labels, vor allem im Streaming-Umfeld, wurde oft genug auf breiterer Ebene diskutiert, und eine Besserung ist noch nicht in Sicht. Dafür aber wird die Konkurrenz immer größer. Denn die Majors und andere große Player sind wieder da, um den globalen Marktwert von Clubmusik anzuzapfen. Damit wiederholt sich eine alte Geschichte unter neuen Vorzeichen.

Underground und Mainstream: Vom Verschwimmen der Grenzen

Die internationale Szene für Clubmusik fühlt sich wie fast jede andere Subkultur auch einem Underground zugehörig und dessen Werten verpflichtet. Sie definiert sich über ihre Abgrenzung von und dem Ausschluss des Mainstreams, hat ihre eigenen Codes und Orte. Seit ihrer Genese in der frühen Disco-Szene in New York City und anderswo steht diese Szene indes im ständigen Austausch mit dem Mainstream, und sei es nur in musikalischer Hinsicht. DJs wie Nicky Siano, Larry Levan und Frankie Knuckles spielten Pop-Hits für ihr Publikum, die Masters at Work wurden zum Haus- und Hof-Remix-Duo von Megastars.

Regelmäßig sog der Mainstream den Sound des Undergrounds auf. Auf Disco folgten ABBA, auf Techno Eurodance, Daft Punk lieferten mit nur einem Live-Auftritt die Blaupause für EDM. Derlei Aneignungen von oben waren innerhalb der Szene recht leicht zu ignorieren, weil Musik und Publikum von ihr recht säuberlich getrennt blieben und es kaum Überschneidungen zu geben schien. Das allerdings änderte sich im Laufe der Zehnerjahre. Clubmusik erlebte einen neuen Hype, der ein neues Publikum anlockte. Das gab sich nicht mehr nur mit dem bloßen Abklatsch zufrieden.

Durch die zunehmende Digitalisierung war es leichter denn je geworden, die Exklusivität der Clubszene zu überwinden. So hart die Türpolitik eines Clubs wie des Berghains auch sein mag: Dank sozialer Medien konnten zumindest alle an der Diskussion darüber teilhaben. Die Abgrenzung bröckelte auch deshalb, weil sich DJs wie Peggy Gou aus dem Innern der Szene heraus die Integrität der "richtigen" Clubs, Labels und Produzent:innen liehen, um zum Superstar aufzusteigen – ein Prinzip, das Privatjet-Connaisseure wie Carl Cox vorgelebt und der vormalige Ed-Sheeran-Songwriter Fred again.. aus dem Mainstream heraus meisterhaft adaptiert hat.

Nachdem sich so im Laufe der Zehnerjahre sukzessive immer mehr Beats in den Mainstream-Pop einschlichen und Beatmakers zu Popstars wurden, wirkte die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger für den schwelenden Clubmusik-Hype. Ab Anfang 2020 richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Screens. Ob bei HÖR oder auf TikTok: Im allgemeinen Stillstand gaben schnelle Kicks den Lockdown-Rhythmus vor. Das zog kommerzielle (Überraschungs-)Erfolge nach sich. "B.O.T.A." von Eliza Rose und Interplanetary Criminal etwa landete 2022 auf der Poleposition der britischen Charts.

Die Veröffentlichungsgeschichte des Tracks ist ein Beispiel dafür, dass die Major-Labels die Situation im Blick hatten. Zwei Monate nach Veröffentlichung des Stücks über Rose' eigenes Label legte ihr Warner einen Vertrag vor. Rückblickend handelte es sich um einen Wendepunkt: Die Majors beziehungsweise die Big Three genannten, die Musikindustrie dominierenden Musikkonzerne Universal Music Group (UMG), Sony Music Entertainment (SME) und eben die Warner Music Group (WMG) begannen, sukzessive immer mehr Talente anzuheuern und ihre Investitionen in die Welt der Clubmusik zu intensivieren.

Geschichte wiederholt sich: Der Run auf Talente und Labels

Im Jahr eins nach "B.O.T.A." veröffentlichten VTSS und Boys Noize die gemeinsame Single "Steady Pace" über das zu WMG gehörende Label Big Beat, und unterschrieben DJ Heartstring und Narciss für die gemeinsame EP 'Heartbreak Repair System' bei Polydor, einem der größten Labels im Portfolio von UMG. Damit wiederholte sich die Geschichte, und zwar nicht zum ersten Mal. Ob die genannten Masters at Work oder die Gruppe Reprazent zur kommerziellen Hochzeit von Drum'n'Bass: Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass aus dem Underground stammende Artists von großen Labels gesignt wurden.

Vorwürfe des Sellouts werden in solchen Fällen schnell in den Raum gestellt, andererseits ist gerade in Zeiten einer sich verschärfenden Wertschöpfungskrise die Frage zu stellen: Was ist so schlimm daran, wenn Produzent:innen dank der Majors mehr Sichtbarkeit (und hoffentlich Geld) aus ihrer Arbeit ziehen können? Auch ist es nicht so, als hätten große Labels nie Gutes für die Szene getan: Selbst die bahnbrechende Compilation 'Techno! (The New Dance Sound of Detroit)' erschien auf dem Virgin-Ableger 10 Records und also einem Label, das zu einem Konzern gehörte, der zu dieser Zeit in der Major-Liga mitspielte und mittlerweile von UMG geschluckt wurde.

Ebenso ist es nichts Neues, dass die großen Musikkonzerne bestehende Dance-Labels aufkaufen, um an zum Boom angewachsene Hypes melken zu können. Astralwerks, die Heimat von Big-Beat-Projekten wie The Prodigy und The Chemical Brothers, gehörte erst zu EMI und seit 2013 zu UMG. Das Label von Ministry of Sound wurde 2016 von SME aufgekauft und DJ International ging als zweitwichtigstes Label der frühen House-Szene im Jahr 2019 ebenfalls an UMG. Sie sicherten die Kataloge, um sie – im Streaming-Zeitalter ist das einfacher denn je – auf lange Zeit gründlich zu verwerten. 

Auch die Neugründung von Labels unter der Ägide der Big Three hat viele historische Vorbilder. Die dezidiert Chart-orientierten The KLF veröffentlichten beispielsweise ihr zweites Album 'The White Room' sowie verschiedene Singles in Frankreich über Dance Pool – ein von CBS, heute zu SME gehöriges Label, gegründetes Imprint, das die Aktivitäten des Majors im Rave-Geschäft bündeln sollte. In den Neunzigern sprossen Labels wie das ebenfalls zu SME gehörende Adrenalin, mittels dessen der damals grassierende Trance- und Progressive-House-Trend gemolken werden sollte, nur so aus dem Boden. 

Wenn WMG nun also für The Blessed Madonna seit 2022 deren Label Margeverse betreut, UMG den Katalog von Four Tet verwaltet und SME nun mit noted., inauguriert durch eine TikTok-kompatible Single von Anfisa Letyago, ein neues Imprint aus der Taufe hebt, ist das nichts Neues. Geschichte wiederholt sich. Sie tut es aber unter anderen Voraussetzungen als in den achtziger und neunziger Jahren. Das könnte der voraussehbaren Abkehr der Majors aus der Szene nach dem großen Run auf Clubmusik eine ganz andere Note geben als noch in den frühen Zweitausendern, als die erste Boomphase zu Ende ging.

Der große Sellout – ein Buy-in

Clubmusik ist nicht gleich Clubmusik, viele Majors konzentrieren sich eher auf den Geschmack des Massenpublikums. WMG hat bereits 2023 das Label Major Recordings aus der Taufe gehoben und kollaboriert seit Kurzem mit Ensis Records für die Gründung des Imprints Balkan Electro und hat in der Region ein Büro eröffnet, UMG hat vor drei Jahren mit dem Tomorrowland gemeinsame Label-Sache gemacht. Wenngleich diese beiden Beispiele auf Bigroom-Sounds und das Publikum von Mega-Events abzielen, sind sie nicht die einzigen. Mit Believe hat ein zugstarkes Digitalunternehmen (dazu gehört unter anderem der Digitalvertrieb TuneCore) gemeinsam mit der Künstleragentur Kidding Aside ein Label gegründet, bei dem Acid Arab und Folamour unter Vertrag stehen. Es wird nicht dabei bleiben.

Auch das ließe sich ignorieren, weil diese Labels schätzungsweise den Markt niemals dominieren werden – weil viel von dieser Musik nicht in den Clubs läuft, die die Szene als Umschlagplätze des Undergrounds betrachtet. Die dahinterstehenden Firmen jedoch kontrollieren wie Believe – das vor wenigen Monaten fast an WMG verschachert worden wäre – mit TuneCore zu Teilen die Infrastrukturen der Musikindustrie. Die Majors kaufen seit geraumer Zeit wichtige Institutionen auf, die für unabhängige Künstler:innen und Labels in der Szene von großer Wichtigkeit sind. Das könnte problematisch werden. Der Sellout ist eins, diese Art von Buy-in aber etwas anderes.

Kein anderes Beispiel verdeutlicht die Ironie der Situation so sehr wie das von AWAL. Das Akronym steht (beziehungsweise stand) ursprünglich für "Artists Without a Label" und fungierte eher als Digitalservice und -vertrieb denn als, genau, ein klassisches Label. Im Jahr 2021 wurde es von SME aufgekauft und fungiert seither im Grunde als, na ja, Label. SME hatte sich schon fast ein Jahrzehnt früher beim Indie-Vertrieb The Orchard eingekauft und übernahm das Unternehmen 2015 dann komplett. UMG schien dem nacheifern zu wollen, als es Ende 2022 zu 49 Prozent den Vertrieb von [PIAS] ankaufte. Das ist nur auf dem Papier kein Mehrheitsanteil, es handelt sich eigentlich um eine De-facto-Übernahme.

Zur Kundschaft von [PIAS] gehören unter anderem die Labels Mute und Ninja Tune, womit beispielsweise die auf dem Papier unabhängige vormalige Ninja-Tune-Künstlerin Peggy Gou indirekt an die Major-Welt gebunden ist. Damit nicht genug. The Orchard (und also SME) kaufte im Herbst 2023 mit Above Board einen Vertriebsservice auf, der sie und ihr Label Gudu ebenso zu den Klient:innen zählt wie Eris Drew & Octo Octa, Charlotte de Witte oder Cómeme. Dass Indie-Artists und -Labels direkt oder indirekt an die großen Player der Musikgeschichte angeschlossen sind, ist zwar ebenfalls nichts Neues. 

Die Verworrenheit der von den Big Three kontrollierten Netzwerke macht derlei (ungewollte) Schulterschlüsse aber zunehmend unvermeidlich. Und damit auch die Abhängigkeit von ihnen.

Der Preis der neuen Abhängigkeit

Die Labelübernahmen und -neugründungen, die Investitionen der Majors und anderer großer Player in Vertriebsstrukturen und Digitalservices stehen unter dem Stern von rasenden Finanzialisierungsprozessen, wie sie aus der bisherigen Geschichte der Clubmusik noch nicht bekannt sind. Der Run auf den Underground und die Indie-Infrastrukturen unterscheidet sich von dem aus den Neunzigern dadurch, dass die Verwertungsmöglichkeiten mittlerweile andere sind. Früher lag der Fokus primär darauf, schnell ein paar Hits zu produzieren und zu verkaufen.

Heutzutage bietet sich im Streaming-Umfeld hingegen die Möglichkeit, die Kataloge von Labels wie DJ International oder Produzent:innen von anno dazumal dauerhaft auszuschlachten. Jeder noch so alte Track kann wieder viral gehen, jedes kleine Sample eines Evergreens kann problemlos identifiziert und in finanzielle Mitbeteiligung an Tantiemen werden. Unter diesem Zeichen steht auch die Einrichtung des BEAT Music Fund durch Armin van Buurens Armada, das sein Geschäft zuletzt durch den Einkauf eines Musikverlags erweiterte: Das Unternehmen spekuliert auf möglichst viele laufende Einnahmen durch den Aufkauf von Musikrechten wie denen von Kevin Saundersons Label KMS. 

Die Big Three und andere internationale Player spielen dasselbe Spiel noch umfassender, indem sie nicht nur die Musik als solche zum Spekulationsobjekt machen, sondern auch die Infrastrukturen und damit die Verwertungsketten einer Szene, die sich selbst gerne als unabhängig betrachtet. Das war sie auf unterschiedliche Weisen noch nie, selten zuvor aber schien sie so abhängig vom Tanz ums große Geld wie heutzutage. Das funktioniert noch, solange sowohl der Hype als auch das Interesse (vulgo: die Investitionen) der Big Three und anderer großer Firmen vorhanden sind. Doch was, wenn das nicht mehr der Fall ist?

Mit dem Beginn der Nullerjahre ebbte das Interesse an Clubmusik – zumindest derjenigen, die wir dem Underground zurechnen würde – fast vollständig ab. Nach einem Jahrzehnt Höher-Schneller-Weiter-Wachstum stieß sich die Szene wieder gesund, indem sie im kleinen Kreis feierte. Rosig waren diese Zeiten allerdings doch nicht, weil das Geschäft mit der Musik durch den Kollaps diverser Indie-Vertriebe einen herben Dämpfer erhielt. Für diese Krise gab es dereinst viele Gründe – die zunehmende Digitalisierung und das mangelnde Interesse an Vinyl etwa, Fehlinvestitionen und so weiter. Das Resultat war ernüchternd: Die Infrastrukturen brachen weg und sehr viele Menschen verloren sehr viel Geld. 

Wenn nach dem großen Boom dieser Tage nun die ersten Artists fallengelassen werden und reihenweise von Majors gestartete Labels sang- und klanglos untergehen, wird es anders laufen. Denn viele der Vertriebe für das so wichtige Streaming-Geschäft befinden sich in ihrer Hand und werden deshalb zweifelsfrei bestehen bleiben. Der Crash würde nicht so hart sein. Je geringer allerdings die Aufmerksamkeit für die Szene, desto weniger Sichtbarkeit bekämen sie durch diese Gatekeeper in Zukunft. Mehr denn je braucht es alternative Infrastrukturen, wie sie die Independent-Musikwelt beziehungsweise den Underground eigentlich tragen sollten.

Wann immer die Majors und ihresgleichen in den Underground vorstießen, verließen sie ihn kurz darauf wieder. Dieses Mal sind sie gekommen, um zu bleiben. 

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Amsterdam Dance Event , Club , Digitalisierung , Ibiza , International Music Summit , Labels , Mainstream , Major Label , Sony Music Entertainment , streaming , Underground , Universal Music Group

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