Tripbericht: Krake Festival 2022 – herrlich unkoordiniert, herzlich einladend
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Tripbericht: Krake Festival 2022 – herrlich unkoordiniert, herzlich einladend

Features. 27. August 2022 | / 5,0

Geschrieben von:
Redaktion

Es ist so weit: Nachdem die letzten beiden Ausgaben wegen gewissen Umständen einmal volldigital (2020) und einmal als Hybrid (2021) stattfinden mussten, konnte das Krake Festival 2022 endlich wieder aus dem Vollen schöpfen und in der „richtigen“, analogen Welt verortet werden. Geplant waren mehrere Veranstaltungen in verschiedenen Locations, so zum Beispiel Konzerte, Markt mit Verlosung und Auftritte sowie natürlich auch ordnungsgemäße Partys.

Tag 1: Opening Concert

Los ging es dann am Freitag, den 12.8. im Silent Green, einem ehemaligen Krematorium. Bei bestem Sommerwetter steht man noch draußen auf dem frisch gemähten Rasen, bestellt Kräuterlimo, saugt den lauen Vibe der von rotem Backstein geprägten Location ein und wartet, dass der Türsteher mit ausgeprägter Berliner Schnauze sagt, dass es losgeht. Zeit also, die Gäst:innen zu beobachten: Wer geht wohl zu einem Eröffnungskonzert mit Headliner Tangerine Dream und Support von Rosa Anschütz? Dass zwischen den beiden Acts Generationen liegen, merkt man direkt: Auf der einen Seite wartet ein Mix aus bunt zusammengewürfelten Mitte-Zwanzigern auf den Einlass, auf der anderen Männer mittleren Alters, die alle der Facebook-Gruppe „Synthesizer Forum“ entsprungen zu sein scheinen. Manchmal mit Frau, manchmal mit Kindern, fast immer im schwarzen T-Shirt mit entweder Vintage-Synthesizer- oder wahlweise Tangerine-Dream-2004-Tour-Aufdruck. Das kann witzig werden, denke ich, schnappe mir vorsorglich noch ein Bier und gehe rein.

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Innen erwartet eine vollkommen andere Welt. Durch den eindrucksvoll sphärischen Abgang wird man so richtig reingesogen, als tauche man ab, um im Bild zu bleiben. Im Hauptraum angekommen wartet eine zugänglich gedämmte Atmosphäre, Special Guest DJ (heißt wirklich so) spielt einmal ins burial-utopische, mal ins verzweifelt abdriftende Ambient-Set und alle lassen sich auf dem Boden sitzend zusammen einstimmen.

Rosa Anschütz fängt an und die Leute zögern noch, ob sie direkt aufstehen sollen, wie es vereinzelte vormachen. Ihr voller Sound und die neue Energie im Raum geben dann aber den entscheidenden Ruck. Ich kann ohne zu übertreiben sagen, dass Anschütz mich an diesem Abend komplett in ihren Bann gezogen hat. Ihre Mischung aus kühl-distanziertem Kokettieren und intimen, insbesondere über ihre Vocals kommunizierten Themen erzeugen ein ganz eigenes Spannungsfeld: Mal bekümmernd, mal freischlagend. Ich fühle mich nah dran und dabei.

© Marius Pritzl
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Am Hauptprogrammpunkt des Abends angekommen fällt einem auf, wie einladend diese ganze Veranstaltung schon seit Beginn ist: Lead-Musiker Quaeschning heißt maximal herzlich willkommen zu Tangerine Dream und nimmt mit seiner Art den Raum spürbar warm ein. Er und das Publikum grinsen sich gegenseitig an, man kennt sich, man ist zusammen verschworen, beide Parteien wissen, was da jetzt kommen wird. Die Zuschauer:innen wogen nun noch mehr, jede:r steht und man bekommt, worauf man gewartet hat: Modularsystem und die ganz großen Instrumente auf der Bühne, heftige Bladerunner-Vibes und endzeitlich-psychedelische Synthesizer-Solos in Spielart von E-Gitarren.

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Wo bei Anschütz der Sound noch bewusst zerrte, ist bei Tangerine Dream alles glasklar, top ausproduziert, klingt nach sauteurem Equipment und wird von der Anlage im Silent Green astrein transportiert. Leute gehen darauf ab, ich selbst bin fasziniert von dieser positiven Energie: An diesem Abend ist nichts prätentiös, alles bringt im besten Sinne good vibes. Ein Blick nach links zeigt mir die Reihe Männer mittleren Alters, die trotz mitreißender Performance und allgemein euphorischer Tanzstimmung mit verschränkten Armen und grimmigen Blicken sich nicht zu bewegen, ja in Reihe geschaltet zu sein scheinen. Bei genauer Beobachtung fällt aber auf, dass sie dennoch beseelt sind, sie nicken die Tracks ihrer Jugend förmlich ab, grinsen hin und wieder heimlich. Note 1, setzen. Guter Einstand!

(mp)

Tag 2: Undertow

Die Hitze liegt mittlerweile schwer über Berlin und die Straßen haben sich vollkommen aufgeheizt. Die Leute scheint das aus der Stadt oder in die heimische Stube zu treiben, denn draußen ist es den gesamten Tag über verdächtig ruhig. Der Schein trügt aber, denn je weiter ich mich an diesem Abend der Warschauer Straße nähere, desto voller wird es und dort angekommen herrscht der übliche Trubel. Ich quetsche mich an einer größeren Gruppe vorbei, die sich gerade berät, wo man vor dem Club heute hin möchte, vorbei an einem Saxofonspieler, der gerade ganz heiße Jazz-Licks rausbläst und mache mich auf den Weg zum Urban Spree. Dort angekommen ist die Hektik der Warschauer direkt vorbei und ich betrete ein Areal der Gemütlichkeit. In einem kleinen Rund sind zahlreiche Stände aufgebaut, an denen gerade in Platten reingehört, in Kisten gewühlt oder sich über neueste Trends in der elektronischen Musik unterhalten wird. Ein kleiner Techno-Flohmarkt eben. Sowas müsste es eigentlich viel häufiger geben, denke ich mir, während ich mich an mein eigenes Plattenverbot erinnere, das ich mir auferlegt habe. Man soll ja sparen momentan.

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Nach ein bis zwei Runden zieht es mich, vorbei an dem kleinen Tattoo-Laden, in dem gerade großflächig Haut bemalt wird, zur neapolitanischen Pizza. Etwas Stärkung ist notwendig, denn gleich folgt das Highlight des Abends. Vor der kleinen improvisierten Bühne bildet sich eine große Traube und es liegt ein Kribbeln in der Luft. Die Tombola beginnt und alle hoffen, etwas zu gewinnen. Verlost wird allerlei Equipment von Kopfhörern über Ableton Lizenzen bis hin zu Synthesizern. Zahl um Zahl wird gezogen und vielleicht ist meine ja die nächste? Das Schöne an so einer Tombola ist ja, dass man sich kurz ärgern kann, die unmittelbare Freude der Gewinnenden neben dir lässt es dann schlussendlich doch zu einem großen Spaß für alle Beteiligten werden. Der Hauptgewinn, ein Korg Modwave, geht dieses Jahr an die Nummer 58. Mit dem Preis über dem Kopf erhoben, geht es stolz zu den Freund:innen rüber und während man sich beglückwünscht, kommt die Gruppe schnell zu dem Entschluss, dass man demnächst wieder mehr Musik machen muss.

© Virginia De
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Die beginnt jetzt auch im Urban Spree, denn der Label-Markt ist jetzt beendet und der musikalische Teil des Abends wird eingeleitet. Bevor es drinnen mit dem Raiders Showcase losgeht, macht 3LNA mit einem kleinen Konzert den Abschluss – oder ist es der Beginn? Mit jedem Lied, das die Berlinerin spielt, sieht man, wie das Lächeln der Menschen vor der Bühne größer wird. Die Mischung aus naiven NDW-Texten, minimalistischem Elektro-Pop und dem hauchigen Vibe von 3LNAs Stimme, zieht mich sofort in den Bann und ein Ohrwurm nach dem anderen ringt in meinem Kopf um die Oberhand. Während man so verzaubert dasitzt, beginnt dann auch noch irgendwo ein Feuerwerk und man kommt sich vor wie in einem absurden Indie-Film.

Als wäre das alles nicht schon genug, deutet sich dann auch für zwei Minuten ein zu dieser Jahreszeit selten gesehenes Naturspektakel an: Regen in Berlin? Aber ein nur kurzer, fast schon sadistischer Spaß, auf den richtigen Niederschlag mussten wir nämlich dann schlussendlich doch noch eine Woche warten mussten. Ich mache mich also im Trockenen auf den Weg nach Hause. Raus aus dem kleinen Urban Spree, rein in den Trubel der Warschauer Straße. Hier zeigt jemand seine ausgefeilten Beatbox-Künste, ein Typ übergibt sich im Vorbeigehen neben mir, etwas weiter spielt ein anderer Ambient-Gitarre. Ich bin gedanklich aber noch immer mit einzelnen Musikfetzen von 3LNA beschäftigt: „Ich hab nicht mehr an dich gedacht / U8 Hermannplatz.“

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Tag 4 & 5: The Kraken

Was sich während 3LNAs Auftritt nur angedeutet hatte, findet jetzt statt. Der Regen bricht an diesem Wochenende über Berlin hinein und kühlt die Stadt merklich ab. Wie gerufen für das anstehende Closing des Festivals. Satte 36 Stunden hat man sich dieses Jahr im OXI vorgenommen. Für mich geht es zum Closing des Closings, sprich Sonntagabend. Am Ostkreuz raus, eine Falafel bei Haroun für den Weg und dann der kurze Fußmarsch zum Wiesenweg. Dort angekommen hört man nichts außer die letzten Sportler:innen, die auf den anliegenden Pedal-Plätzen schwitzen.

Die Stille soll aber nicht lange halten und nur wenige Minuten später stehe ich im kleinen Raum des OXIs und werde dort direkt mit Levon Vincents ‘Late Night Jam’ begrüßt. Noch mehr kann man mich eigentlich gar nicht abholen und ich bin ohne Eingewöhnungszeit direkt im Sog des Sets. Gefühlte zwei Stunden vergehen, in denen ein Deep-House-Kracher nach dem anderen an mir vorbeizieht, bis mir auffällt, dass ich mich noch gar nicht umgesehen habe. Ich mache mich also auf den Weg, das OXI zu erkunden.

Das OXI und ich sind so eine Sache. Nach mehreren Besuchen erschließt sich mir der Aufbau der Gänge und Räume kein Stück und auch dieses Mal lande ich beim Versuch, den großen Raum zu finden, wieder am Anfangspunkt. Ein wenig muss ich mich über meine eigene Unfähigkeit amüsieren und fühle mich an Alain Resnais ‘Letztes Jahr in Marienbad’ erinnert. Statt endlosen und opulenten Gängen und Hallen gibt es hier aber dunkle Flure und Nebel. Ein zweiter Anlauf ist dann aber von Erfolg gekrönt und ich gehe durch den Garten an der Bar mit fröhlichem Trance vorbei und finde mich im Hauptraum wieder.

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Electro Beats und Noise donnern aus der Anlage des X-Floors, wo sich Ferenc van der Sluijs aka I-F gerade warmspielt. In diesem Raum sammelt sich alles, was das Krake Festival ausmacht. Frei von stilistischen Zuschreibungen, geplanten Konzepten oder ausgefeilten Kunstaktionen geht es einzig und allein um das gemeinsame Dasein im Club. Ganz in Schwarz gehüllte Techno-Goths stehen neben Glitzerhosen.

Am Rand eine Gruppe von Skatern in 90er-Jahre-Baggies und vor mir tanzt eine Frau, deren plüschiger Krümelmonster-Rucksack mich mit großen Augen anstrahlt. Statt Electro krachen jetzt die Souldiven über Classic-House-Beats aus den Boxen, die Tanzfläche füllt sich noch ein wenig mehr und die Stimmung wird ausgelassener.

Das Krümelmonster tanzt weiterhin vor mir auf und ab, während der Sound düsterer wird. Acid-Lines mischen sich mit tiefen Kicks und die Lichter werden weiter runtergedimmt, als die Krake-Fabelwesen den Raum betreten und illuminieren. Die Aktion wirkt so herrlich unkoordiniert, kein geplanter performativer Akt, sondern schlicht Teil des Ganzen und einfach da.

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In diesem surrealen Setting rauscht I-Fs Set dem Ende entgegen und kommt mit einem finalen Italo-Disco-Moment zum Halt. Van der Sluijs zieht unter dem Jubel der Leute seine Kappe und CYRK übernimmt wieder da, wo wir begonnen haben. Treibender Electro, der nur so vor Detroit sprüht. Das Live-Set des Duos schaffe ich noch, bevor mein pandemie-geschädigter unterer Rücken Ansprüche aufs Liegen anmeldet. Gedanklich noch ganz im Krake-Feeling mache ich mich im Autopilot auf den Weg nach Hause. U8 Hermannplatz.

(sa)

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