Tripbericht: Madeiradig 2023 – Reif für die Insel
Während Deutschland im Winterchaos versank und die Lokführer streikten, lockte ein intimes und fein kuratiertes Festival für experimentelle Musik auf die Insel des immerwährenden Frühlings, Madeira. DJ LAB war dabei.
Dunkel ist’s in Berlin, die Tage kurz und grau, die Festivalsaison ist schon lange passé und selbst die CTM liegt noch in weiter Ferne. Aber es gibt ein Licht – zwar nicht am Ende des Tunnels, aber auf einer Insel, die aus ziemlich vielen Tunneln besteht: das Madeiradig Festival. Seit nunmehr 19 Jahren holt dieses kleine Festivaljuwel immer im Dezember eine eingeschworene Gruppe musikvernarrter Menschen auf die portugiesische Frühlingsinsel Madeira mitten im Atlantik. Kopf dahinter ist Digital-in-Berlin-Chef Michael Rosen, der unter anderem mit der Reihe Kiezsalon in Berlin seit 2015 sein Händchen für Avantgarde und Nischenmusik beweist.
Der Großteil des Festivals findet in Ponta do Sol statt. Das idyllische, verschlafene Nest in einer engen Bucht am südwestlichen Zipfel der Insel, das sonst nur gemütliche Wandertourist:innen und eine Handvoll digitaler Nomad:innen mit gebräunt-gestählten Bodies anzieht, verwandelt sich für eine Woche in eine Enklave für Fans experimenteller Musik. Hoch auf dem Felsen thront das Hotel Estalagem da Ponta do Sol. Dort sind nicht nur Artists und ein Teil der Besucherschaft untergebracht, dort finden auch die After-Show-Parties und diverse Umtrünke zum Sonnenuntergang statt.
Der erste Festivalabend gehört den Locals. In diesem Jahr machen Canadian Rifles und Aires den Anfang, mit dreamy Ambient, Drone und Noise aus Portugal, der die zarten Boxen im John Dos Passos Cultural Center, einem Veranstaltungsort im Zentrum des Dörfchens, dezent an ihre Grenzen bringt.
Rauschen, Noise und absolute Stille
Wenn Michael Rosen sein Gefolge auf die Insel lockt, dann nicht, ohne ihm jene auch zu zeigen. Die Horde wird in einen Reisebus gepackt und über die serpentinenreichen Straßen geschaukelt. Auf dem Programm stehen Ausflüge in die Hauptstadt Funchal oder in den mystischen Lorbeerwald nach Fanal. Wer es schafft, einen Moment innezuhalten, merkt: Hier herrscht absolute Stille. Kein Auto, kein Flugzeug, nicht einmal ein Vogel ist zu hören. Die Bäume des subtropischen Regenwalds sind moosüberwachsen, in einen nebligen Dunst gehüllt, die Wiesen so saftig grün wie aus dem Bilderbuch, und die frei umher trabenden Kühe und Kälber auf der Weide sind so zahm, dass sie sich genügsam und willig auch vom hundertsten Großstädter streicheln lassen.
Das Ganze pendelt irgendwo zwischen Klassenfahrt und Rentnerausflug: Während den einen im Bus schlecht wird und großzügig Vomex verteilt wird, sitzen die coolen Kids hinten und trinken Bier. Auf der Rückfahrt wird über die reparaturbedürftige Gasetagenheizung gesprochen, und natürlich folgt eine nachmittägliche Pause in einem Restaurant. Es gibt Buffet ("fish, meat or chicken?") mit Meerblick.
Statt Heizdeckenverkauf und Bingo-Runde am Abend geht’s mit Cellistin und Komponistin Judith Hamann und Sofia Jernberg weiter. Diesmal nicht in Ponta do Sol, sondern zwei Ortschaften weiter in Calheta, wo, auch ganz oben auf dem Steilfelsen, ein fulminanter Beton-Bau thront, der unter anderem ein Museum beherbergt. Wer bisher noch träge die Reste des Buffets verdaut hat, wird spätestens von Sofia Jernberg aus dem Schlaf gerissen.
Die Vocalistin liefert einen Stream of Consciousness in Stimmform ab, trällert, fiept, tschilpt, dass es nur so in den Ohren klirrt. Beim anschließenden gemeinsamen Konzert mit Cellistin Judith Hamann geht der Abend über in eine Harmonie aus sanftem Cello, Drones und Jernbergs durchdringender Stimme. Danach ist auch der letzte Rest Buffet verdaut.
Madeira-Wein und UK-Bass
Man wird schon arg verwöhnt auf der Insel. Während sich die Haare vor atlantischer Luftfeuchtigkeit kringeln, wird angeregt über die Branche oder den Trockenheitsgrad und das Alter von Madeira-Weinen diskutiert. An einem Abend spielt die in London lebende Komponistin und Produzentin Beatrice Dillon eines ihrer Sets, das sie gekonnt zwischen UK-Bass, House und zeitgenössischer Musik arrangiert. Alan Licht zaubert fragile Solostücke auf seiner Gitarre. Wer noch Energie hat, steigt in den Fahrstuhl, der zur Aftershow auf die Terrasse des Estalagem führt. Zwischen opulentem Hotelfrühstück, Siesta, Abendessen und Konzerten bleibt wenig Raum, sich seiner Privilegien überhaupt bewusst zu werden.
Highlight am Montag: Die Goddess of Cello, Leila Bordreuil, die das Publikum aus einer wohlig warmen Lethargie reißt, in die kurz zuvor noch Ana Roxanne gesungen hat. Das zarte, leise Grundrauschen Bordreuils Cellos geht schnell in krachende Gewitterwolken aus Noise über. Bordreuil spielt ihr Instrument nicht bloß, sie macht einen Tanzpartner daraus, aus dem sie alle nur denkbaren Extreme hervor kitzelt. Den letzten Festivalabend bestreitet Mario Batkovic mit seinem, wie er sagt, Analogsynthesizer: sein Akkordeon. Das klingt mal nach fulminanter Filmmusik, mal nach alter Orgel, mal nach Soul, mal nach Techno oder seichtem Ambient. Batkovic testet die Grenzen eines Instruments aus, dem sonst nur der Charme bayerischer Herren in Lederhosen anhaftet.
Das Festivalende und damit auch der Alltag rücken näher und einmal mehr wird die Absurdität des Spektakels deutlich. Es ist eine seltsame kleine, heile Welt, in der man sich beim Madeiradig bewegt. Während die Welt in Scherben liegt, hockt ein Potpourri aus Berliner Kultur-Riege, Musiker:innen aus aller Welt und ein undefinierbarer Rest, der entweder der Musik oder einfach nur des Wetters wegen angereist ist, tagsüber am Beach und abends im Konzertsaal, um sich berieseln zu lassen. Vom Schaum der Gischt und von einem Best-of an musikalischer Avantgarde im Wechsel. Politisch geht es hier kaum zu, außer in dem einen oder anderen Gespräch, das in kleiner Runde stattfindet. Statt Nahost-Content werden Sonnenuntergänge in die Insta-Stories gespült, die Welt wirkt für ein paar Tage so heil und normal, dass es fast schon gruselt. "Surreal, oder?", sage ich. "Genau deshalb sind wir doch hier", sagt ein anderer.
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