Up and Coming: Kareem Ali – "Niemand erreicht wahre Größe allein"

Up and Coming: Kareem Ali – "Niemand erreicht wahre Größe allein"

Features. 12. Dezember 2021 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Spätestens seit letztem Jahr ist Kareem Ali auf der kosmischen Überholspur unterwegs. Der in Phoenix lebende US-Amerikaner veröffentlicht in kurzen Intervallen immer neue Musik und hat sich einen Namen mit sanften, sphärischen Deep-House-Produktionen gemacht, aber immer noch mehr in petto. Große Pläne hat er obendrein.

Es ist 10 Uhr am Vormittag in Phoenix, Arizona, und Kareem Ali sitzt mit dem Rücken zum Fenster, durch das sich die Sonne über ihn ergießt. Er ist aufmerksam, gut gelaunt und spricht pointiert, scheint aber während des Gesprächs ständig an einem anderen Gerät zu arbeiten. So sieht wohl jemand aus, der allein über seine Bandcamp-Seite in den vergangenen vier Jahren über 60 Releases veröffentlicht hat und einen Tag nach unserem Interview schon wieder den nächsten Track in die Welt entlässt: Ali ist ein Anpacker und Multi-Tasker, ein um ständigen Fortschritt bedachter Tausendsassa, der auf seiner Mission auch mal zwei Sachen in einem Rutsch erledigt – schließlich will er nicht nur selbst groß rauskommen, sondern alle auf seine Reise mitnehmen.

Aufgewachsen ist Ali in einer verschlafenen Vorstadt New York Citys, Greenburgh. Er verbringt viel Zeit in der eine knappe halbe Stunde entfernten Metropole, streift aber genauso durch seine Heimat. „Ich war sehr abenteuerlich und neugierig, ständig dabei, irgendwas zu erkunden“, erzählt er heute und berichtet davon, mit seinem Bruder auf einem nahegelegenen Bauernhof noch jeden Stein umgedreht zu haben, um die Insekten darunter zu begutachten. Er mag Greenburgh, weil er es allgemein schön und ruhig mag, aber er schmiedet auch früh schon große Zukunftspläne: Der kleine Kareem will eines Tages Raketenwissenschaftler werden. Nicht etwa Astronaut wie viele andere Kinder seines Alters. Nicht der Star, der zu den Sternen aufbricht, heißt das, sondern einer von vielen, die dabei mithelfen, das Weltall zu erobern. „Es geht in der Raketenwissenschaft darum, wirklich etwas zu bauen“, sagt er, und das schätze er daran am meisten. Ein Träumer mag er auch sein, in erster Linie aber handelt es sich bei ihm um einen Pragmatiker.

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Das zeigt sich ebenfalls, als er in der vierten Klasse sein erstes Instrument lernt. Warum ausgerechnet die Trompete? Ali lacht: „Ich glaube, da sage ich dasselbe wie viele andere Trompeter:innen: Es sah schlicht am einfachsten aus!“ Er spielt in der Schulband und merkt mit der Zeit, dass er einerseits Talent hat und andererseits mehr will. „Als ich in der siebten Klasse war, vertiefte ich mich in Jazz. Meine Bandleiterin brachte mich darauf und wir hatten auch eine Jazz-Band an der Schule“, erinnert er sich. „Mein erster Trompetenlehrer leitete eine Sommerschule für Musik, wo ich auch in der Jazz-Band mitspielte.“ Es ist Unterstützung wie diese, die er bis heute wertschätzt und immer wieder hervorhebt, wenn er über seine ersten Schritte in der Musikwelt spricht.

Die allerdings führen ihn zuerst in eine Sackgasse, das heißt genauer ans Purchase College in New York City. Ali studiert dort Jazz, aber der Begriff kann vieles umfassen – und in diesem speziellen Fall bedeutet er das Falsche für ihn. „Viele Schulen konzentrieren sich auf bestimmte Stile und im Falle vom Purchase College ist das Bebop“, erklärt er. „Aber ich mag Bebop nicht so gerne. Das hörst du auch aus meiner Musik heraus: Ich mag den chilligen, den sogenannten Cool Jazz.“ Er muss dennoch in Big-Bands mitspielen, obwohl er darauf keine Lust hat und fühlt sich entfremdet – er ist der einzige Schwarze unter den vielen Student:innen. Wieder aber ist da eine Schlüsselperson, die seine Entwicklung befördert: Sein Mitbewohner studiert Tonmeisterei und zeigt Ali nicht nur, wie ein MIDI-Keyboard funktioniert, sondern auch die Musik von Flying Lotus und die elektrischen Alben von Miles Davis.

Keine Ahnung von nichts

Das neue technologische Wissen und die Inspiration durch FlyLo und Davis – dessen Jazz-Alben Ali auswendig mittrompeten konnte, von dessen avantgardistischen Experimenten er zuvor aber noch nie gehört hatte – spornen ihn an, sich selbst als Produzent neu zu erfinden. Und weil in ihm aber immer noch das Kind mit Träumen von der Welt der Raketenwissenschaft steckt, tippt er eines Tages ganz pragmatisch die Worte „space music“ in das Suchfenster von YouTube und landet bei einem Boiler-Room-Set von Innerspace Halflife, dem gemeinsamen Projekt der Produzenten Ike Release und Hakim Murphy. Er ist sofort hin und weg – auch weil er nicht ganz weiß, wie er deren Musik kategorisieren kann.

Kareem Ali im Porträt.

„Vorher habe ich kaum elektronische Musik gehört, höchstens die Gorillaz oder den alten Kram von Calvin Harris, Armin van Buuren und so, ein bisschen Breakbeat-Kram. Aber ich hatte keine Ahnung von nichts“, erklärt er mit einem Lachen. Das habe mit seiner Herkunft zu tun, meint er. „Wenn du mit Leuten aus Chicago sprichst, egal wem, wissen die in Sachen House Music Bescheid. Es ist Teil ihrer Kultur. Aber New York ist der Geburtsort von Hip-Hop, weshalb sich dort alles meistens um Rap und Jazz dreht.“ Nun aber ist er angefixt und hat eine neue Leidenschaft: House Music.

Dass es sich um diese handelt, erzählt ihm zumindest Murphy, dem Ali spontan einen von Innerspace Halflife inspirierten Track schickt. Hin und her geht der gemeinsame Austausch, Murphy wird über das Internet zum Mentor für Ali. Er unterrichtet ihn nicht nur in den Schwarzen Wurzeln von Dance Music, sondern gibt ihm auch konstant Feedback zu den Tunes, die Ali ihm übersendet. Bis es im Jahr 2014 soweit ist und Ali mit dem Album „Nocturnal Respiration“ auf dem von Murphy mitbetriebenen Label Synapsis debütiert. Es sind ungestüme Tracks, die allerdings bereits Alis spätere Kernkompetenzen offenbaren: Mittels seiner Trompete schafft er einen intimen Live-Sound, arbeitet spielerisch mit Vocal-Samples und verschmilzt Jazz mit House zu blubbernd-bouncigen Sound-Vignetten.

Die Veröffentlichung der LP ist ein erster Erfolg, doch fühlt sich Ali rastlos. Sein Studium hat er abgebrochen, wohnt bei seiner Mutter in einem verschlafenen Kaff außerhalb New York Citys und jobbt auf einem Golfplatz. „Es kam der Punkt, an dem ich herauskriegen musste, was ich mit meinem Leben anstellen möchte“, berichtet er. Als ihm also jemand dazu rät, nach Phoenix zu ziehen, packt er im Jahr 2015 seine Sachen. „Ich zog hin, ohne der Stadt jemals einen Besuch abgestattet zu haben, nur auf seine Empfehlung hin!“ Dort arbeitet er weiter an seiner Musik und beginnt sich langsam, aber sicher einen Ruf aufzubauen.

Doch in Phoenix gibt es zu dieser Zeit noch keine nennenswerte Musik-Community und schon im Jahr 2018 geht er nach New York City zurück. „Ich wollte ein paar Freundschaften mit Leuten vom College auffrischen und wieder Anschluss an die Szene finden“, berichtet er. „Es war aber schwierig, weil die Menschen in New York schwierig sind! Es gibt so viele sehr enge Cliquen, in die niemand von außen hereingelassen wird.“ Als die Pandemie im Frühjahr 2020 die USA erreicht, treibt es ihn also zurück nach Phoenix, wo sich in der Zwischenzeit etwas getan hat. „Eine wirkliche Musikszene hat sich erst in den letzten zwei Jahren gebildet. Es gibt zum Beispiel ein Online-Radio namens Recordbar, bei dem ich heutzutage eine Residency habe“, berichtet Ali. „Jake Stellarwell von Recordbar bringt alles zusammen, um eine richtige Szene aufzubauen.“

In diesem Umfeld beginnt er, mit einer ganzen Reihe von Solo-Produktionen auf sich aufmerksam zu machen, zieht graduell das Interesse von internationalen Publikationen wie Resident Advisor oder sogar dem US-amerikanischen Rolling Stone auf sich.

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Eine Welt, von der alle etwas haben

Neben der beeindruckenden Quantität seines Outputs ist es auch die stilistische Bandbreite, die Fans aus allen Ecken der Dance-Music-Welt aufhorchen lässt. Denn obwohl Ali weitgehend als Produzent sphärischer House-Tracks mit sonoren Vocals und gelegentlichen Trompeten-Einsätzen bekannt wird, der seine Liebe zu Cool Jazz auf sanft tuckernden Beats auslebt, bietet sein breiter Backkatalog noch viel mehr. Experimentelle Synthesizer-Stücke reihen sich dort neben EDM-Produktionen ein. „Ich will kein normaler DJ-Typ sein!“, lacht Ali. „Deswegen mache ich das nicht! I wanna be great! Ich will expandieren. Du kannst doch deinen Underground-Hit schreiben und gleichzeitig Mainstream-Musik machen. In jedem Genre gibt es Tolles zu entdecken und deshalb schränke ich mich auch selbst nicht ein.“ Kaytranada sei eines seiner großen Vorbilder, sagt er – ein Künstler, der einen Underground-Sound im Mainstream etabliert hätte, ohne sich zu verbiegen.

Alis Streben nach Erfolg sollte aber nicht mit einem Egotrip verwechselt werden. „Niemand erreicht wahre Größe allein, egal was die Leute sagen.“ Wenn er also auf der kosmischen Überholspur das Gaspedal durchdrückt, tut er das im Wissen um alle, die ihn auf seinem Weg begleitet haben. Und mit dem festen Ziel, noch mehr von ihnen zu erreichen. So wie er sich von allem Möglichen – einer Fahrradtour durch eine Naturlandschaft in Arizona, einem im Flug befindlichen Vogel – inspirieren lassen kann, so geht es ihm in seiner Musik auch darum, Verbindungen mit der Welt um sich herum und den Menschen in ihr herzustellen. „Musik ist ein großartiges Vehikel, um darüber in einer negativen Welt positive Gedanken zu verbreiten.“ Welche Vorstellung der Welt in diesen Gedanken steckt? Ali lacht. „Definitiv eine andere Welt als die, in der wir leben – eine voller Frieden und Harmonie, von der alle etwas haben.“

So ist es auch zu erklären, dass der Senkrechtstarter ständig die Kollaboration mit anderen sucht und darüber hinaus auch versucht, eigene Strukturen aufzubauen, um jungen Talenten weiterzuhelfen. CosmoFlux heißt das Label, das er ursprünglich für seine eigenen Produktionen gegründet hat und mit dem er nun allerdings größere Pläne hat. „Ich möchte daraus eine Non-Profit-Plattform machen und jungen Künstler:innen dabei helfen, voranzukommen. Ihnen etwas beibringen, ob nun über Vertragsangelegenheiten, Musikwirtschaft oder nur Musikproduktion – Mastering, Mixing und so weiter“, umreißt er das angedachte Programm. Erklären lässt sich dieses Bestreben aus seiner eigenen Geschichte, die so voller wichtiger Impulsgeber:innen für seinen Werdegang war: „All die Leute, die mir etwas über Musik beigebracht haben, taten das kostenlos. Ich möchte dasselbe tun, etwas zurückgeben.“

Es sind nicht die einzigen Pläne, die der Produzent hegt. „Ich möchte nächsten Sommer das Debüt meiner Solo-Live-Show feiern. Meine wahre Liebe für elektronische Musik gilt IDM und Ambient, ich selbst habe aber nur wenig in diesem Bereich veröffentlicht“, sagt er. „Das Set soll eine immersive Erfahrung bieten, mit 3D-Visuals und allem drum und dran. Am liebsten in einem Planetarium!“ Kareem Ali ist eben immer noch das Kind, das lieber Raketenwissenschaftler werden, das anpacken wollte, um andere auf die Reise in bessere Welten zu schicken.

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