2020 war kein gutes Jahr für Clubs. Aber ein fantastisches für elektronische Musik. Was wie ein durchgeknallter Widerspruch nach einem drogeninduzierten Flashback klingt, ist nur der Vorbote für eine Zukunft, die längst eingetreten ist. Raven ohne raven zu gehen, zu Hause vor dem Bildschirm, mit Hunderttausenden im selben Raum – körperlich abweisend und sozial distanziert. Man steht nicht mehr drei Stunden in der Schlange vor dem Club, sondern lümmelt sich auf die Couch und loggt sich ein in eine Welt, in der man wahlweise zwischen brutaler Realsatire in Grand Theft Auto einen Club führt oder mit Live-Sets im psychedelischen Rausch von Fortnite aufgeht.
Nein, man ist damit in keiner schlecht gescripteten “Black Mirror”-Folge gelandet, sondern in jener Realität, die zwar schon vor Corona angepeilt wurde, aber erst im Seuchenjahr 2020 von schnuckeligen 115 Beats in der Minute ins Hardcore-Metier aufstieg. Schließlich knatterten Vierviertelbeats in den letzten Monaten beim Lockdown-Set aus Balkonien genauso oft aus Laptoplautsprechern, wie „Techno-Konzerte“ auf virtuellen Bühnen inmitten leuchtender Avatare stattfanden. Man mag das als Dystopie abtun oder einfach nur bizarr finden, Fakt ist: Bei Fortnite tritt Diplo im Epilepsie-Wahnsinn der „Main Stage“ auf. Die Computerspielplattform Roblox hostet Release-Partys in virtuellen Räumen. Minecraft verwandelt sich zur Festival-Bühne. Und Grand Theft Auto eröffnet einen „Underground Club für alle“, wo virtuelle DJs von Keinemusik schon mal auf Karibikinseln für zugekokste Piraten-Promoter herumwackeln, während Nina Kraviz in Night City von Cyperunk 2077 auftaucht und Omar S seine Ausstellungseröffnung mit eigenem Arcade-Game promotet, in dem man Platten verpackt.
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All diese Games mögen keine Konzerte im eigentlichen Sinne sein, eher Abwandlungen und Alternativen, die die aktuelle Situation mit sich bringt. Während die Clubs leer bleiben, ändert sich aber auch der Zugang zu dieser Alternative. Wer 2020 an Live-Streaming dachte, sah leere Clubs, in denen DJs zum Fünfuhrtee den ärgsten Peaktime-Techno ballerten. Interaktion? Null. Eierte man nicht gerade auf Pillen durchs Wohnzimmer, klickte man nach fünf Minuten weg, weil die Leere der Boiler-Room-Ästhetik in Kombination mit der Brutalität des Sounds nicht auszuhalten war. Ganz anders sieht die Sache bei Live-Sets in Fortnite, GTA oder Minecraft aus. Dort schaltet das Publikum nicht wegen des Konzertes ein, sondern kommt durch das Spiel in Kontakt mit dem Konzert. Und zwar nicht nur mit dem DJ, der inmitten eines luziden Ecstasy-Traumes herumdabbt, sondern mit einer ganzen Menge anderer Leute, die sich alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort treffen – nur eben virtuell.
Die Pandemie hat auf Gaming- und Streaming-Portalen den Boost-Modus eingelegt. Wer zuvor geglaubt hat, den eigenen Zock-Exzess mit der Pubertät begraben zu haben, hat sich während des ersten Lockdowns eine X-Box ins Wohnzimmer gestellt – oder zumindest mit dem Gedanken gespielt. Das hat sich auf die Zahlen ausgewirkt: Fast 160 Milliarden Dollar Umsatz im Spielesektor sagte die Branchen-Plattform Newzoo im vergangenen Mai für 2020 voraus. Eine Zahl, die man einen weiteren Lockdown später auf 180 Milliarden Dollar korrigierte, Tendenz: sehr schnell steigend, auch weil immer mehr Leute zum Controller greifen. Ein Drittel der Weltbevölkerung oder 2,6 Milliarden Menschen haben im vergangenen Jahr die Konsole, das Handy oder den Computer bespielt. Und niemand geht davon aus, dass es 2021 weniger werden.
Denn mehr Leute kaufen weniger Spiele als in früheren Jahren, verbringen aber mehr Zeit in und mit der Simulation. Dadurch verschiebt sich das Geschäftsmodell, weg von einmaligen zu wiederkehrenden Einnahmen, die aktive Gamer*innen generieren, indem sie ihren Charakteren zum Beispiel virtuelle Waffen gönnen oder mit neuen Features ausstatten. Diese, im Management-Slang gerne mal als Monetarisierungsstrategie bezeichnete Form der In-Game-Käufe, zieht vor allem eine Folge nach sich: Gaming-Plattformen müssen das Engagement ihrer Nutzer*innen erhöhen. Wer heute zockt, will maximal unterhalten werden. Das heißt: Immer interaktivere und immer immersivere Erlebnisse werden nicht nur erwartet, sondern vorausgesetzt. Man glotzt zwar allein in den Bildschirm, hat aber nicht das Gefühl, allein zu sein, weil es Millionen andere auch tun – synchron in Interaktion und im ständigen Wettbewerb gegeneinander. Streaming allein kann bei diesem Ansatz nicht mithalten, weil es ein isoliertes Hören und Sehen bedingt. Man lehnt sich zurück und lässt sich berieseln. Das kann angenehm sein – nicht umsonst hat die Streamingplattform Twitch 2020 über 13 Milliarden Streamingstunden angehäuft –, bedeutet aber auch weniger Interaktion der User*innen und dadurch wenig Engagement auf der Seite.
Für Gaming- und Musikfirmen macht es Sinn, die beste beider Welten zu suchen und sie zu verbinden, um das Engagement in ihren einzelnen Bereichen zu steigern. Sie treten zwar gegeneinander an, haben aber gecheckt, dass sich in feindlicher Koexistenz mehr Kohle scheffeln lässt als in freundlicher Konkurrenz. Das zeigt sich in der zunehmend stärkeren Verbindung zwischen einer globalisierten Gaming-Industrie und den hyperkommerzialisierten Auswüchsen elektronischer Musik, die andere schon Business-Techno oder Business-House genannt haben. Die Idee dahinter: Techno und House so weit zu kommerzialisieren, um aus einer Kultur eine Ware zu machen, die schwerer wiegt als zwei ausrangierte Technics-Plattenspieler. DJs können dann zum Beispiel sagen, dass Techno der neue Mainstream sein sollte, ohne dafür auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Schließlich gibt man nur vor, in einer undergroundigen Szene zu interagieren und für eine undergroundige Szene zu spielen, um von der Reputation des tatsächlichen Undergrounds zu profitieren.
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Gleichzeitig schafft die Gaming-Industrie Plattformen, die von dieser nischigen Reputation profitieren wollen, indem sie für sich selbst und gleichzeitig für gefeaturete Musiker*innen neue Zielgruppen erschließen. So gewinnen beide Seiten: Gaming-Firmen schmücken sich mit den dunklen Federn des angeblichen Undergrounds. Der angebliche Underground landet In-Game und casht mit Aufmerksamkeit und Reichweite ab. Es geht dabei ums „pretenden“, ums Vortäuschen eines hedonistisch orientierten Avantgarde-Teils einer Gesellschaft, den man in einer Art Afterhour zusammenführt: Alle kommen von unterschiedlichen Clubs, alle bringen einen anderen Vibe mit – trotzdem will niemand nach Hause, auch wenn man völlig unterzuckert und die Mucke ziemlich scheiße ist. Dass DJs dabei im Privatjet um die Welt düsen, fürs Auflegen fünfstellige Beträge abcashen und von Ibiza bis Miami den Instagram-Lifestyle leben, ist kein Widerspruch, sondern die Bestätigung innerhalb einer Blase, in der es schon länger nicht mehr um die Musik geht.
Die Frage ist: Um was dreht es sich sonst? In einer Welt, in der Streaminganbieter wie Netflix und Online-Games wie Fortnite um die Gunst der Menschen konkurrieren, ist die Antwort so einfach wie ernüchternd: Aufmerksamkeit und Einfluss bemessen die Währung der digitalen Hegemonie. Sie sind es, die darüber entscheiden, ob man gehört oder gesehen wird, um – genau! – für mehr Aufmerksamkeit und Einfluss zu sorgen. Das mag innerhalb eines kapitalistischen Systems niemanden aus dem Gamingsessel schleudern. Der Zwang, sich in einer Welt zu behaupten, die auf ständigem Wettbewerb aufbaut und von sozialen Medien und Werbeplattformen beherrscht wird, potenziert diese Wirkmacht der Aufmerksamkeit aber zusätzlich. Der Markt verlagert sich dorthin, wo die meiste Kohle zu machen ist. Es fallen Sätze mit Wörtern wie „Zielgruppenanalyse“ und „Stakeholder“. Und weil Gaming gerade der heiße Scheiß ist, gamifizieren sich Bereiche der Musik und nehmen Formen an, die aus Games entlehnt sind – oder direkt in Games stattfinden.
Dafür muss man sich nur die neue Erweiterung in Grand Theft Auto 5 ansehen. Unter einem Kasino hat Rockstar Games einen Club eröffnet, in dem neben Moodyman und Palms Trax auch die drei Berliner Typen von Keinemusik auflegen – und zwar als digitale Avatare vor digitalem Publikum zu digitalen Eintrittspreisen. Wem das vertraut erscheint – Bingo! Bereits 2018 legten neben Dixon, Solomun und Tales of Us auch Black, äh, Blessed Madonna als Avatare in der GTA-Welt auf. Die Auftritte sind so weit in die Story eingebaut, dass man, wie in der aktuellen Erweiterung, für Moodymans Hausschuhe schon mal durch Los Santos cruist, das DJ-Equipment von Palms Trax mit dem Helikopter aufgabelt und Keinemusik eine Pizza zustellt, bevor man dem zugekoksten Promoter die Chakra-Steine auflädt. Zwischendurch quatscht man ein paar Worte mit Dr. Dre, raubt als Tour-Manager ein Drogenkartell in der Karibik aus und taucht mit einem U-Boot ab. Klar soweit?
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Wer weiß, dass GTA V am Tag seiner Veröffentlichung 800 Millionen Dollar lukrierte, braucht keinen Fortbildungskurs in Betriebswirtschaftslehre, um zu checken, dass dabei ziemlich viel Business für ziemlich wenig Musik mitschwingt. „Keine Frage, der Auftritt im Spiel hat meine Fanbase innerhalb eines Monats verändert“, sagte Blessed Madonna nach ihrem In-Game-Set 2018. „Es ist eine echte Demokratisierung der Clublandschaft, wie ich sie nicht erwartet hätte.“ Dass sich das Wörtchen „Demokratisierung“ beliebig mit Aufmerksamkeitssteigerung und Zielgruppenerweiterung austauschen lässt, ist natürlich kein Fehler, sondern part of the game. Immerhin lässt sich in all dem stereotypisierten Techno-Bullshit des „Music Locker Clubs“ mit seinen blitzenden Strobos und einer „Whoop Whoop“-Crowd der Frust für Wodka-Shots um 350 digitale Dollars runterspülen.
Elektronische Musik, seine Big-Room-Ausläufer und Business-Mutationen umarmen die Gaming-Industrie, weil sie dort einen Markt vorfinden, der sich noch erschließen lässt. Rockstar Games und Blessed Madonna sind da keine Ausnahme. Wenn der 17-jährige Thomas aus Buxtehude davor zu Brachial-Dubstep an seiner Online-Credibility in GTA gefeilt hat, tut er das morgen vielleicht zu Detroit Techno von Moodyman. Weil ihn der Sound aus dem Spiel etwas fühlen lässt, googelt er den Mann und folgt ihm auf Insta. Er stößt dabei auf weitere Produzent*innen und DJs, die seit 25 Jahren an der Identität von elektronischer Clubmusik herumbasteln, ballert sich auf Spotify nur noch Deep House rein und zieht nach Berlin.
Alles absoluter Schwachsinn und übertriebene Sozialromantik? Wer weiß. Von der zunehmenden Synthese zwischen Gaming und Musik werden neben der Ein-Prozent-Elite des vermeintlichen Undergrounds allerdings nur jene profitieren, die sich mit ihm schmücken. Das Aufmerksamkeitsrodeo dreht sich in eine Richtung, die den fragmentierten und ohnehin angeschlagenen Szenen der elektronischen Musik nicht weiterhelfen wird. Wenn sich Plattenfirmen und Künstler*innen an Gaming-Studios annähern, müssen sie wie solche denken. Das bringt neben einer Identitätskrise auch mit sich, die eigenen Funktionen auf eine absolute Online-Repräsentation auszurichten. Was übrig bleibt, ist die Simulation einer Realität, die es bald nicht mehr geben könnte.
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